Kapitel zwei

Die drei Jungs – zwei Dreizehnjährige und ein Vierzehnjähriger, der schon Flaum auf der Oberlippe hat, treiben sich ständig hier herum. In diesem Teil der Stadt werden die Kinder rasch erwachsen. Sie sind abends nicht zuhause, hocken nicht vor dem Computer, machen ihre Hausaufgaben nicht, und sie schlafen um diese Zeit ganz sicher nicht. Sie sind auf Ärger aus, und wie es aussieht, haben sie ihn gefunden.

»Yo«, sagt einer von ihnen und bleibt in der Tür des verlassenen Restaurants unvermittelt stehen. Manchmal rauchen sie hier einen Joint, wenn sie einen haben. Die anderen beiden drängen sich neben ihn und starren in die Dunkelheit.

»Was ist das?«

»Ich glaube, das ist ein Toter.«

»Was du nicht sagst, Sherlock.«

Plötzlich sind die drei Jungs vorsichtig geworden und wie erstarrt. Sie haben Angst, dass noch jemand dort sein könnte, doch sie sind allein.

Einer der beiden Jüngeren lacht nervös, aber erleichtert. »Oh Mann«, seufzt er. »Zum Glück haben wir niemanden gestört … bei was auch immer.«

Sie sind neugierig, also gehen sie hinein und schauen sich die Leiche an, die auf dem Boden liegt. Es ist ein Mann. Er liegt auf dem Rücken und hat offensichtlich Einschusslöcher in Gesicht und Brust. Das helle Hemd des Mannes ist blutgetränkt, aber die Jungs sind nicht zimperlich.

»Ob er wohl noch was in den Taschen hat?«, fragt der ältere Junge.

»Wohl kaum.«

Der ältere Junge steckt die Hände in die Hosentaschen des Toten und holt eine Börse heraus. Er durchsucht sie. »Sieht aus, als hätten wir Glück«, sagt er und grinst. Dann hält er seinen Kumpels die offene Börse hin. Sie ist voller Banknoten, doch im Dunkeln kann man nur schwer erkennen, wie viel es ist. Der Junge zieht noch ein Handy aus der Tasche des Toten.

»Schnappt euch seine Uhr und was ihr sonst noch findet«, befiehlt er den anderen und lässt seinen Blick hoffnungsvoll über den Boden schweifen. Er sucht nach einer Waffe. Eine Waffe zu finden wäre toll, aber er sieht keine.

Einer der Jungs nimmt dem Toten die Armbanduhr ab. Der andere kämpft ein wenig mit dem schweren goldenen Ring, doch schließlich zieht er ihn dem Toten vom Finger und lässt ihn in seiner Hosentasche verschwinden. Dann tastet er auf der Suche nach einer Halskette den Nacken des Mannes ab. Aber da ist keine.

»Nehmt ihm auch den Gürtel ab«, sagt der Ältere. »Und die Schuhe.«

Sie haben auch früher schon Sachen gestohlen, allerdings noch nie von einem Toten. Das ist aufregend, und ihr Atem geht immer schneller. Sie überschreiten gerade eine Grenze.

Der ältere Junge, offensichtlich der Anführer, sagt: »Wir müssen weg. Aber niemand sagt etwas.«

Die beiden anderen schauen zu dem Älteren hoch und nicken stumm.

»Keine Angeberei. Niemand darf etwas davon erfahren. Verstanden?«

Wieder nicken die beiden Jüngeren.

»Wenn jemand fragt, dann waren wir nie hier. Los jetzt. Weg hier.«

Die drei Jungs huschen aus dem verlassenen Restaurant, die Sachen des Toten nehmen sie mit.

*

An der Stimme und dem Gesichtsausdruck des Cops erkennt Tom, dass ihn schlechte Nachrichten erwarten. Polizisten überbringen jeden Tag schlechte Nachrichten. Und jetzt ist er an der Reihe. Aber Tom will das alles nicht wahrhaben. Er will diesen ganzen Abend noch einmal von vorn beginnen – er will noch einmal aus dem Wagen steigen, zur Haustür gehen und Karen beim Kochen in der Küche antreffen. Er will die Arme um sie schlingen, ihren Duft einatmen und sie an sich drücken. Er will, dass alles so ist wie immer. Wäre er nicht so spät nach Hause gekommen, wäre es vielleicht so gewesen. Vielleicht ist das alles ja seine Schuld.

»Ich fürchte, es hat einen Unfall gegeben«, sagt Officer Fleming. Seine Stimme klingt ernst, und er schaut Tom mitfühlend an.

Er wusste es. Tom ist wie betäubt.

»Ihre Frau fährt doch einen roten Honda Civic, oder?«, fragt der Officer.

Tom antwortet nicht darauf. Er kann das alles nicht fassen.

Der Beamte liest das Kennzeichen vor.

»Ja«, sagt Tom. »Das ist ihr Wagen.« Seine Stimme klingt seltsam, wie aus weiter Ferne. Er schaut den Polizisten an. Alles läuft in Zeitlupe ab. Jetzt wird er es sagen. Jetzt wird der Cop ihm sagen, dass Karen tot ist.

Sanft sagt Officer Fleming: »Sie ist verletzt. Ich weiß nicht, wie schwer. Sie ist im Krankenhaus.«

Tom schlägt die Hände vors Gesicht. Karen ist nicht tot! Aber sie ist verletzt … Ihn überkommt die verzweifelte Hoffnung, dass es vielleicht nicht so schlimm ist. Vielleicht wird ja alles wieder gut. Er nimmt die Hände vom Gesicht und atmet zitternd ein. »Was … Was ist denn passiert?«

»Der Wagen ist gegen einen Strommast geprallt«, antwortet Officer Fleming ruhig. »Ungebremst und ohne Fremdeinwirkung.«

»Was?«, fragt Tom. »Wie kann ein Auto einfach grundlos gegen einen Strommast knallen? Karen ist eine hervorragende Fahrerin. Sie hat noch nie einen Unfall gehabt. Jemand anderes muss ihn verursacht haben.« Tom bemerkt den zurückhaltenden Gesichtsausdruck des Beamten. Was verschweigt ihm der Mann?

»Die Fahrerin hatte keine Papiere dabei«, sagt Fleming.

»Sie hat ihre Handtasche hier vergessen. Und ihr Handy.« Tom reibt sich das Gesicht und versucht, sich zusammenzureißen.

Fleming legt den Kopf auf die Seite. »Ist zwischen Ihnen und Ihrer Frau alles in Ordnung, Mr. Krupp?«

Tom starrt ihn verzweifelt an. »Ja, natürlich.«

»Sie hatten nicht zufällig einen Streit, der ein wenig aus dem Ruder gelaufen ist?«

»Nein! Ich war ja gar nicht zuhause.«

Officer Fleming setzt sich Tom gegenüber in den Sessel und beugt sich vor. »Aufgrund der Umstände … Nun, ja … Es besteht die Möglichkeit, dass es sich bei der Frau, die den Wagen gefahren hat, nicht um Ihre Frau handelt.«

»Was?«, fragt Tom voller Entsetzen. »Warum? Was meinen Sie damit?«

»Wie gesagt, das Problem ist, dass sie keine Papiere bei sich hatte. Also können wir nicht mit Sicherheit sagen, dass tatsächlich Ihre Frau gefahren ist. Wir wissen nur, dass es ihr Wagen war.«

Tom verschlägt es die Sprache. Stumm starrt er den Polizisten an.

»Der Unfall ereignete sich am südlichen Ende der Stadt, an der Ecke Prospect und Davis Drive«, erklärt Officer Fleming und schaut Tom vielsagend an.

»Unmöglich«, sagt Tom. Das ist eine der schlimmsten Gegenden der Stadt. Karen würde noch nicht einmal bei Tageslicht dort hinfahren, geschweige denn nach Einbruch der Dunkelheit.

»Können Sie sich vielleicht erklären, warum Karen, Ihre Frau, sämtliche Verkehrsregeln missachtet hat – überhöhte Geschwindigkeit, das Überfahren roter Ampeln – und das in diesem Viertel?«

»Was …? Was sagen Sie da?« Tom starrt den Beamten ungläubig an. »Karen würde nie in diesen Teil der Stadt fahren. Und sie fährt auch nie schneller als vorgeschrieben, geschweige denn über rote Ampeln.« Er sackt in sich zusammen. Erleichterung macht sich in ihm breit. »Das kann nicht meine Frau sein«, erklärt er voller Überzeugung. Er kennt seine Frau, und so etwas würde sie nie tun. Fast lächelt er. »Es muss jemand anderes sein. Irgendjemand muss ihren Wagen gestohlen haben. Gott sei Dank!«

Er dreht sich wieder zu dem Polizeibeamten um, der ihn nach wie vor besorgt beobachtet. Dann wird Tom plötzlich bewusst, was das bedeutet, und die Panik kehrt sofort wieder zurück. »Aber wo ist dann meine Frau?«