Kapitel dreißig

Als sie Calvins Büro verlassen, sagt der Anwalt: »Es wird vermutlich nicht mehr lange dauern, bis sie das Opfer identifizieren, und dann wird es spannend. Darauf müssen Sie vorbereitet sein.« Er schaut beiden in die Augen, Tom ein wenig länger, als fühle er, dass Tom am wenigsten darauf vorbereitet ist.

Tom glaubt, dass Calvin recht hat. Seine Frau ist wesentlich stärker, als er gewusst hat. Er kann sich noch nicht ansatzweise vorstellen, was es braucht, um seinen eigenen Tod vorzutäuschen, um einem irren Mann zu entkommen und um irgendwo noch einmal ganz von vorn anzufangen. Karen muss Nerven aus Stahl haben. Allerdings ist Tom nicht sicher, ob ihm das gefällt.

Auf dem Weg zum Auto hat Tom Angst. Ihr Leben wird sich nun rasch zum Schlechteren wenden. Ihnen steht eine Katastrophe bevor. Vermutlich wird man Karen wegen Mordes anklagen. Sie wird vor Gericht kommen. Vielleicht wird man sie sogar verurteilen. Tom weiß nicht, ob er stark genug dafür ist, ob ihre Liebe das überleben kann.

Tom fährt. Er konzentriert sich auf die Straße, vor allem, weil er nicht mit seiner Frau reden will. Aber er spürt ihren Blick.

»Es tut mir ja so leid, Tom«, sagt sie. »Ich wollte dir das nicht antun.«

Tom traut seiner Stimme nicht, also antwortet er nicht. Er schluckt und schaut weiter auf die Straße.

»Ich hätte dich nie heiraten dürfen, ohne dir vorher alles zu sagen«, flüstert sie verzweifelt.

Da dämmert es ihm: Sie sind gar nicht wirklich verheiratet! Als sie vor dem Altar standen, war sie bereits die Frau eines anderen. Ihm dreht sich der Kopf. Karen hat neben ihm gestanden, als sie sich ewige Treue gelobt haben … und sie hat die ganze Zeit über gewusst, dass sie bereits verheiratet ist. Ihr Ja war bedeutungslos. Tom kämpft gegen das Verlangen an, einfach anzuhalten und sie anzubrüllen, sie solle aussteigen.

Irgendwie fährt er weiter. »Schon okay«, murmelt er. »Alles wird gut.« Er glaubt nicht, was er da sagt.

Wenn er sie einfach nur in den Armen halten könnte, ohne sie anzuschauen, vielleicht würde dann ja wirklich alles wieder gut werden. Er muss irgendwie zur Ruhe kommen, aber er sitzt am Steuer.

Schweigend fahren sie weiter. Als sie zuhause ankommen, sagt Tom zu ihr: »Ich muss noch mal kurz ins Büro. Es dauert nicht lange. Zum Abendessen bin ich wieder zurück.«

Sie nickt. »Okay.«

Tom hält in der Einfahrt, und bevor Karen aussteigt, beugt er sich noch einmal zu ihr hinüber und drückt sie an sich. Diesen einen Moment lang versucht er, alles zu vergessen, was geschehen ist, und sich nur auf das Gefühl zu konzentrieren, sie in den Armen zu halten. Dann löst er sich wieder von ihr und sagt. »Lauf nicht weg. Das musst du mir versprechen.«

»Ich verspreche es.«

Tom schaut ihr in die Augen. Auch jetzt weiß er noch nicht, ob er ihr glaubt. Wird ihr Leben von nun an immer so sein?

Tom lässt sie aussteigen, setzt zurück und fährt nach Downtown. Er hat jedoch nicht vor, zur Arbeit zu fahren. Stattdessen fährt er zum Fluss. Er wünschte, er könnte sich die ganze ekelige Angelegenheit einfach abwaschen, doch das geht nicht – jetzt nicht, und niemals wieder.

*

Brigid hatte an einem kleinen Babysweater für eine schwangere Freundin gearbeitet, doch sie musste feststellen, dass sie das nicht ertragen konnte. Also hat sie stattdessen einen bunten, gestreiften Pullover für sich selbst begonnen. Jetzt liegt das halbfertige Kleidungsstück auf ihrem Schoß, während sie das Haus gegenüber betrachtet. Sie verspannt sich und beugt sich leicht vor.

Brigid sieht, wie Tom und Karen in die Einfahrt fahren, doch anstatt auszusteigen, bleiben sie kurz im Wagen sitzen. Brigid wartet. Karen steigt aus, Tom jedoch nicht. Brigid fragt sich, wo sie wohl gewesen sind. Sie denkt viel über Tom und Karen nach, darüber, wo sie sind und was sie tun, über ihr gemeinsames Leben. Es ist, als hätte sie eine besonders gute Daily Soap für sich entdeckt. Sie kann gar nicht erwarten, was als Nächstes geschehen wird.

Bob sagt, sie sei besessen. Er beschwert sich ständig darüber, meint, das sei nicht normal. Er sagt, sie sei vom Leben der Krupps besessen, weil sie sich einsam fühle und gelangweilt sei. Schließlich habe sie ja auch nichts zu tun. Er sagt, sie sei zu klug, um nichts zu tun.

Er versteht das nicht. Er weiß nichts.

Brigid beobachtet, wie Tom rückwärts auf die Straße fährt. Durch das offene Autofenster sieht sie seinen grimmigen Gesichtsausdruck. Worüber haben sie sich wohl gestritten? Brigid richtet ihre Aufmerksamkeit auf Karen, die gerade die Tür aufschließt. An ihrer Körperhaltung erkennt sie, dass Karen völlig entmutigt ist.

Brigid legt ihre Strickarbeit beiseite, schnappt sich die Schlüssel und schließt die Tür hinter sich ab. Dann geht sie auf die andere Straßenseite hinüber und klingelt.

Als Karen die Tür öffnet und sie sieht, glaubt Brigid, eine gewisse Reserviertheit in ihren Augen zu erkennen. Warum freut Karen sich nicht, sie zu sehen?

»Hi, Brigid«, sagt Karen, aber sie öffnet die Tür nicht ganz. »Ich bin gerade erst nach Hause gekommen, und ich habe furchtbare Kopfschmerzen. Ich wollte mich gerade ein wenig hinlegen.«

»Oh«, erwidert Brigid. »Du hast nur so ausgesehen, als könntest du eine Freundin brauchen.« Sie lächelt Karen so mitfühlend an, wie sie kann. »Ist alles in Ordnung?«

»Ja, alles ist gut«, antwortet Karen. Sie zögert, und Brigid bleibt hartnäckig stehen, bis Karen die Tür ein Stück weiter öffnet. Dann geht sie hinein, und Brigid folgt ihr.

Sie setzen sich ins Wohnzimmer. Karen sieht erschöpft aus. Ihre Augen sind geschwollen, als hätte sie geweint, und ihr Haar hat seinen Glanz verloren. Wie sehr sie sich in den letzten Tagen doch verändert hat, denkt Brigid. »Warum erzählst du mir nicht einfach, was los ist?«, fragt Brigid. »Vielleicht hilft dir das.«

»Es ist gar nichts los«, erwidert Karen und fährt sich mit den Fingern durch das stumpfe Haar.

Doch Brigid weiß, dass Karen lügt. Sie hat alles von der anderen Straßenseite aus beobachtet. Und Karen sieht viel zu mitgenommen aus, als dass alles in Ordnung sein könnte. Brigid ist keine Närrin, und sie wünschte, Karen könnte das auch sehen.

»Ist zwischen dir und Tom alles in Ordnung?«, fragt Brigid rundheraus.

»Wie? Was meinst du damit?«, erwidert Karen. Die Frage hat sie sichtlich überrascht.

»Nun ja, ich habe ihn gerade wegfahren sehen, und er sah wütend aus. Und du wirkst aufgebracht. Das alles muss sehr hart für ihn sein«, wagt Brigid sich vorsichtig vor. »Der Unfall, die Polizei …« Als Karen sie anstarrt, korrigiert Brigid sich rasch: »Hart für euch beide, meine ich natürlich.« Karen wendet sich von ihr ab und schaut zum Fenster. Nach einem kurzen Schweigen fragt Brigid: »Erinnerst du dich schon an irgendetwas, was der Polizei helfen könnte?«

»Nein«, antwortet Karen in scharfem Ton. »Wie sieht es eigentlich bei euch aus?«, fragt sie in dem Versuch, das Thema zu wechseln.

»Karen, ich bin’s. Brigid. Du kannst mir alles sagen.« Und das meint sie ernst. Es ärgert sie, dass Karen so verschlossen ist. Tatsächlich gibt sie nur selten intime Einzelheiten aus ihrem Leben preis. Brigid hingegen hat Karen alles über ihre Probleme erzählt, schwanger zu werden, und über die gescheiterten Fruchtbarkeitsbehandlungen. Doch Karen teilt nie etwas mit ihr. Selbst jetzt nicht, da die Dinge alles andere als perfekt sind und man glauben sollte, dass sie eine Freundin brauchen könnte. Wie schockierend das für Karen sein muss, denkt Brigid plötzlich, dass nicht alles absolut perfekt ist.

Zwischen Freundinnen sollte Gleichheit herrschen, glaubt Brigid, und soweit es sie betrifft, ist Karen keine so gute Freundin, wie sie es sein sollte. Brigid hat sehr hart für diese Freundschaft gearbeitet. Karen hat ja keine Ahnung, wie viel Brigid hat herunterschlucken müssen. Karen weiß nichts von ihr und Tom und wie hart es für sie gewesen ist, Karen und Tom zusammen zu sehen. Sie hat immer so getan, als würde ihr das nichts ausmachen. Dabei wäre sie so oft gerne einfach damit herausgeplatzt … aber sie hat sich immer auf die Zunge gebissen.

Karen hat nie großes Interesse an Brigids Leben gezeigt, muss Brigid sich eingestehen. Jedenfalls kein so großes wie sie an dem ihren. Karen hat sich auch nie für Brigids Strickblog interessiert, und das hat sie schon immer gekränkt. Schließlich ist Brigid Cruikshank eine Onlinegöttin unter den Strickerinnen. Aber Karen strickt nicht, also kümmert sie das auch nicht.

Jetzt schaut Karen sie an und sagt: »Ich weiß deine Sorge zu schätzen, Brigid. Wirklich. Du bist eine gute Freundin.« Sie lächelt Brigid an. Mechanisch erwidert Brigid das Lächeln. »Aber meine Kopfschmerzen werden langsam schlimmer. Ich sollte mich jetzt besser hinlegen«, sagt Karen, steht auf und führt Brigid zur Tür.

»Ich hoffe, du fühlst dich bald besser«, meint Brigid und umarmt Karen kurz.

Dann geht sie wieder über die Straße zu ihrem eigenen, leeren Haus und nimmt ihre Position am Fenster ein, um darauf zu warten, dass Tom nach Hause kommt.

*

Es ist schon spät am Nachmittag, und allmählich ist klar, dass Karen Krupp nicht freiwillig kommen wird. Rasbach denkt gerade über seine nächsten Schritte nach, als Jennings ins Büro kommt und sagt: »Wir haben da vielleicht etwas.« Rasbach hebt den Blick. »Wir haben gerade einen Anruf von einem Pfandleiher bekommen, mit dem ich bereits gesprochen hatte, nachdem wir die Leiche gefunden haben. Er sagt, ein Junge habe gerade eine Uhr und einen Ring bei ihm verpfändet.«

»Kennt er den Jungen?«

»Jep.«

»Dann los«, sagt Rasbach und schnappt sich seinen Schulterholster und das Jackett.

Als sie in Gus’ Pfandhaus ankommen, ist der Laden leer, abgesehen von dem Besitzer hinter der verdreckten Verkaufstheke. Der Mann nickt Jennings zu, als er ihn erkennt, und kaut auf seiner Wange.

»Das ist Gus«, stellt Jennings Rasbach den Mann vor. Der Mann nickt. »Zeigen Sie uns mal, was Sie haben«, fordert Jennings Gus auf.

Der Mann taucht unter die Theke, holt eine Männeruhr hervor und legt sie auf die Glasplatte. Daneben wirft er einen goldenen Ring.

Die Detectives schauen sich die Sachen an. »Sieht teuer aus«, bemerkt Rasbach.

»Jep. Das ist eine echte Rolex.«

Rasbach holt ein Paar Latexhandschuhe aus seiner Tasche und untersucht zuerst die Uhr und dann den Ring auf irgendetwas, mit dem man den Besitzer identifizieren könnte, eine Gravur oder so etwas. Aber da ist nichts. Schließlich legt er die Sachen enttäuscht wieder auf die Theke.

»Wie ist der Junge an die Sachen gekommen?«, fragt Rasbach.

»Er hat gesagt, er hätte sie gefunden.«

»Und wie heißt der Junge?«

»Folgendes«, sagt Gus. »Ich kenne den Jungen. Er ist erst vierzehn Jahre alt. Ich will nicht, dass er Ärger bekommt.«

»Ich verstehe«, erwidert Rasbach. »Aber wir müssen wissen, ob er sonst noch etwas gefunden hat, einen Ausweis vielleicht. Irgendetwas, was uns bei unseren Ermittlungen helfen kann. Wir glauben nicht, dass der Junge etwas mit dem Mord zu tun hat.«

»Jagen Sie ihm nur einen ordentlichen Schrecken ein«, bittet Gus. »Damit er nicht mehr auf dumme Gedanken kommt, wissen Sie? Viel zu viele Kids in der Gegend werden nämlich kriminell. Ich will nicht, dass es auch mit ihm bergab geht.«

»Sicher. Das verstehe ich«, erwidert Rasbach und nickt. »Und wie heißt er?«

»Duncan Mackie. Er lebt drüben in Fenton. Nummer 153. Ich kenne die Familie. Fassen Sie ihn nicht zu hart an, aber auch nicht mit Samthandschuhen.«

Rasbach und Jennings fahren zu der Adresse, die Gus ihnen gegeben hat. Rasbach hofft, dass das die Spur ist, auf die sie gewartet haben. Er klopft an die Tür eines schäbigen Hauses. Als eine Frau aufmacht, ist er erleichtert, denn er darf nicht ohne einen Erziehungsberechtigten mit dem Jungen reden. »Sind Sie die Mutter von Duncan Mackie?«, fragt Rasbach. Entsetzt reißt die Frau die Augen auf, und als Rasbach ihr seine Dienstmarke zeigt, wirkt sie noch aufgebrachter.

»Was hat er getan?«, will sie sofort wissen.

»Wir wollen nur mit ihm reden«, sagt Rasbach. »Ist er zuhause?«

Die Frau tritt von der Tür zurück und lässt die beiden Detectives herein. »Duncan!«, brüllt sie die Treppe hinauf. Rasbach und Jennings setzen sich in die winzige Küche und warten.

Der Junge kommt die Treppe runter, sieht die Detectives in der Küche und erstarrt. Nervös schaut er zu seiner Mom.

»Setz dich, Duncan«, befiehlt die Frau streng.

Der Junge setzt sich und starrt auf den Tisch. Er ist rot angelaufen und sieht hundeelend aus.

»Duncan«, beginnt Rasbach, »wir sind Detectives. Du musst nicht mit uns reden. Wenn du willst, kannst du uns bitten zu gehen. Du bist nicht verhaftet.« Der Junge schweigt, schaut Rasbach aber vorsichtig an. »Wir sind nur an der Uhr und dem Ring interessiert, die du bei Gus versetzt hast.«

Der Junge zuckt unwillkürlich zusammen und schweigt weiter, während seine Mutter ihn streng anfunkelt.

»Wir wollen nur wissen, ob du auch eine Börse gefunden hast. Irgendetwas mit einem Ausweis oder sowas drin.«

»Dieser scheiß Gus«, murmelt der Junge.

»Duncan!«, tadelt ihn seine Mutter scharf.

»Wenn du die Börse hast«, sagt Rasbach, »dann können wir die Sache vielleicht auf sich beruhen lassen.«

Allmählich dämmert es der Mutter, worum es hier geht. »Geht es um die Leiche, die man nicht weit von hier gefunden hat?« Entsetzt reißt sie die Augen auf.

Nervös schaut der Junge zu seiner Mutter und dann zu den Detectives. »Er war schon tot, als wir da angekommen sind. Ich kann die Börse holen.«

Seine Mutter schlägt die Hand vor den Mund.

»Ich denke, das wäre eine gute Idee«, sagt Rasbach. »Das macht deine Mutter nämlich nervös, Duncan, und ich glaube, du solltest jetzt besser reinen Tisch machen und uns geben, was noch übrig ist, bevor es zu spät ist. Du willst doch nicht verhaftet werden, oder?«

Der Junge schüttelt den Kopf. »Ich hol’ sie.« Er schaut zu seiner Mutter. »Bleib du hier.« Dann rennt er wieder nach oben, wo er offensichtlich ein Versteck hat, von dem seine Mutter nichts erfahren soll.

Nach einem angespannten Augenblick hören sie Duncan wieder die Stufen hinunterpoltern. Er gibt Rasbach eine Lederbörse. Es sind sogar noch ein paar Scheine drin.

Rasbach nimmt die Börse, öffnet sie und holt einen Führerschein heraus. »Danke, Duncan.« Er steht auf.

Auf dem Weg hinaus dreht Jennings sich noch einmal zu dem Jungen um und schaut ihn freundlich an. »Geh zur Schule«, sagt er.

Auf dem Weg zum Wagen verkündet Rasbach zufrieden: »Wir haben ihn! Robert Traynor aus Las Vegas, Nevada.« Rasbach spürt das vertraute Adrenalin, das immer durch seine Adern strömt, wenn Bewegung in einen Fall kommt. Sie steigen in den Wagen und fahren zum Revier zurück.

Kurz darauf hat Rasbach äußerst interessantes Material auf seinem Schreibtisch liegen. Der Tote, Robert J. Traynor, war neununddreißig Jahre alt und ein erfolgreicher Antiquitätenhändler. Keine Kinder. Seine Frau, Georgina Traynor, ist vor drei Jahren gestorben. Rasbach findet auch ein Foto von Georgina. Er beugt sich vor, schaut es sich genauer an und stellt sie sich mit kürzeren, dunkleren Haaren vor. Dann vergleicht er die Daten.

Bingo! Georgina Traynor ist nicht tot. Sie ist kerngesund und lebt in Dogwood Drive 24.