Kapitel einunddreißig

Karen geht nach oben und legt sich aufs Bett. Sie ist erleichtert. Endlich allein. In Brigids Gegenwart fühlt sie sich unbehaglich.

Völlig unbeweglich liegt Karen auf der Tagesdecke und starrt nach oben. Man wird sie wegen Mordes anklagen.

Alles wäre perfekt, denkt sie verbittert, und die Tränen laufen ihr über die Wangen, wenn Robert sie nicht gefunden hätte. Sie fragt sich, wie er das nach drei Jahren geschafft hat. Wie hat er sie finden können?

Schließlich kriecht sie unter die Decke und schläft erschöpft ein.

*

Rasbach sitzt an seinem Schreibtisch und reibt sich die müden Augen. Erneut greift er zu dem Bild von Georgina Traynor, und er denkt an Karen Krupp in ihrem gemütlichen Vorstadtheim. Vermutlich hat sie furchtbare Angst, denkt er.

Und dann … Sie hat auch früher schon Angst gehabt und einen Ausweg gefunden. Sie ist eine Überlebenskünstlerin.

Rasbach betrachtet die Fakten, wie er es gelernt hat: Eine verheiratete Frau täuscht ihren Tod vor und taucht irgendwo unter falschem Namen wieder auf. Drei Jahre später wird ihr Mann tot aufgefunden, und sie war in der Nähe. Rasbach weiß, wie das aussieht, aber er darf keine voreiligen Schlüsse ziehen.

Wenn Georgina Traynor misshandelt wurde und versucht hat, einer unerträglichen Situation zu entkommen, dann hat er Mitleid mit ihr. Er hat Mitleid mit jeder Frau, die zu solch einer extremen Maßnahme getrieben wird, um sich zu schützen. So etwas sollte nie geschehen. Doch Rasbach weiß, dass es jeden Tag passiert. Das System schafft es einfach nicht, diese Frauen zu beschützen. In dieser Hinsicht ist die Welt armselig und kaputt.

Rasbach fühlt sich wirklich schlecht. Das passt gar nicht zu ihm. Er will den Fall lösen. Er will den Fall immer lösen. Und er glaubt inzwischen zu wissen, was hier geschehen ist, und er glaubt auch zu wissen, warum. Doch wenn er den Fall geklärt hat, dann wird er in die Hände von Anwälten wandern. Und wie das ausgeht, weiß niemand. Es ist einfach nur deprimierend.

Rasbachs Gedanken wandern zu Tom Krupp. Er versucht sich vorzustellen, was der Mann gerade durchmacht, aber es gelingt ihm nicht. Rasbach selbst ist nie verheiratet gewesen. Er hat schlicht nie die Richtige gefunden. Vermutlich liegt das ja an seinem Job. Aber vielleicht wird er sie eines Tages doch noch finden. Und wenn es so weit ist, sagt er sich selbst, als er noch einmal einen Blick auf das Foto von Georgina Traynor wirft, dann wird er ihre Vergangenheit persönlich überprüfen.

*

Karen starrt aus dem Wohnzimmerfenster in die Dunkelheit. Sie will nicht ins Bett. Sie würde wieder nur an die Decke starren. Da draußen ist niemand. Das weiß sie. Robert ist tot. Sie muss vor niemandem mehr Angst haben.

Außer vor diesem Detective. Vor dem hat sie wirklich Angst.

Tom ist oben in seinem Arbeitszimmer. Er hat noch zu tun. Karen versteht nicht, wie er unter diesen Umständen überhaupt noch arbeiten kann. Vielleicht ist das ja seine Art, nicht über all das nachzudenken. Er schaut lieber auf Zahlenreihen als auf seine düstere Zukunft. Karen macht ihm das nicht zum Vorwurf. Sie muss auf Jack Calvin vertrauen.

Sie beschließt, nach oben zu gehen und sich ein heißes Bad zu gönnen. Vielleicht hilft ihr das ja, sich zu entspannen. Sie schaut kurz ins Arbeitszimmer und sagt Tom Bescheid. Tom dreht sich zu ihr um, nickt und wendet sich dann wieder dem Computerbildschirm zu. Karen geht ins Badezimmer und lässt Wasser ein. Soll sie Badeschaum oder Badesalz nehmen? Egal. Rasbach wird sie so oder so verhaften.

Als ihr Blick kurz auf den Schminktisch fällt, erstarrt sie. Irgendetwas stimmt nicht. Ihr Herz schlägt immer schneller. Ihr wird schwindelig. Sie lässt ihren Blick über den Schminktisch schweifen und versucht, jedes Detail in sich aufzunehmen. Es ist ihr Parfüm. Irgendjemand hat den Stopfen aus der Parfümflasche gezogen.

Karen weiß, dass sie das nicht war.

Sie starrt die Parfümflasche an und ist vor Angst wie gelähmt, als hätte sie eine Schlange im Schminktisch gefunden. Sie hat das Parfüm heute gar nicht benutzt. Das weiß sie sicher. Und falls doch, dann hätte sie die Flasche nicht offen gelassen. »Tom!«, ruft sie aufgeregt. Doch Tom scheint sie über das Rauschen des Wassers hinweg nicht zu hören. Karen rennt den Flur zum Arbeitszimmer hinunter und schreit seinen Namen.

In der Tür prallt sie mit ihm zusammen.

»Was ist?«, fragt Tom mit weit aufgerissenen Augen. Bevor Karen Worte findet, um es ihm zu erklären, läuft er schon an ihr vorbei ins Badezimmer. Karen folgt ihm. »Was? Was ist?«, verlangt er zu wissen. Er sieht nicht, was ihr solche Angst gemacht hat, aber ihre Panik hat ihn angesteckt.

Karen deutet auf die Parfümflasche. Der Stopfen liegt daneben. »Mein Parfüm. Irgendjemand hat den Stopfen rausgezogen. Ich war das nicht.«

Tom schaut auf die Parfümflasche und dann zu Karen. Er ist erleichtert, aber irritiert. »Ist das alles? Bist du sicher? Vielleicht hast du es ja nur vergessen.«

»Nein, Tom, ich habe es nicht vergessen«, widerspricht sie ihm in scharfem Tom. Er glaubt ihr nicht.

»Karen«, sagt Tom, »du stehst unter großem Stress. Vielleicht vergisst du einfach Dinge. Du weißt doch, was der Arzt gesagt hat. Ich kann auch nicht klar denken. Gestern habe ich zum Beispiel meine Autoschlüssel im Büro vergessen und musste den ganzen Weg wieder zurückgehen, um sie zu holen.«

»Auf dich mag das ja zutreffen«, erwidert Karen, »aber nicht auf mich.« Sie schaut ihn an und sieht, dass sich eine gewisse Härte in seinen Blick schleicht. »Ich kann es mir nicht leisten, solche Kleinigkeiten zu übersehen«, fährt Karen fort. »Er hat mir jahrelang die Seele aus dem Leib geprügelt, wenn ich es nicht genau richtig, sondern einfach nur so gemacht habe. Deshalb fallen mir die kleinsten Kleinigkeiten auf. Und ich habe den Stopfen nicht aus der Parfümflasche genommen. Irgendjemand war im Haus

»Okay. Beruhig dich«, sagt Tom.

»Sag mir nicht, dass ich mich beruhigen soll!«, schreit Karen ihn an.

Sie stehen in dem kleinen Badezimmer und starren einander an. Karen sieht, dass Tom von ihrer Reaktion schockiert ist. Ihr Gefühlsausbruch hat sie beide erschreckt. So sind sie noch nie miteinander umgegangen. Dann fällt Karen die Badewanne wieder ein, und sie dreht schnell das Wasser ab, bevor es überläuft.

Schließlich dreht sie sich wieder zu Tom um. Sie hat sich ein wenig beruhigt, aber sie hat immer noch Angst. »Es tut mir leid, Tom. Ich wollte dich nicht anschreien. Aber irgendjemand muss hier drin gewesen sein.«

»Karen«, sagt Tom in beruhigendem Tonfall, als rede er mit einem Kind. »Dein früherer Ehemann ist tot. Wer sollte sonst in unser Haus einbrechen? Wer?«

Als Karen nicht darauf antwortet, fragt Tom vorsichtig: »Soll ich die Polizei rufen?«

Ist das ironisch gemeint?, fragt Karen sich. Willst du allen Ernstes, dass ich die Polizei wegen einer offenen Parfümflasche rufe? Ist Tom einfach nur erschöpft und überwältigt von all dem, was passiert ist. Irgendetwas in seiner Stimme ist jedenfalls anders.

»Nein«, antwortet sie. Tom schweigt. »Geh«, fordert sie ihn auf. »Ich will jetzt baden.«

Als Tom gegangen ist, schließt Karen hinter ihm die Türe ab.