Kapitel vier

Sie kann sich nicht bewegen. Unter Schmerzen kommt sie immer wieder zu sich und verliert dann erneut das Bewusstsein. Sie bleibt immer länger wach, aber sie stöhnt vor Schmerz.

Sie nimmt ihren ganzen Willen zusammen – es ist eine schier unglaubliche Anstrengung –, und schließlich zwingt sie ihre Augen auf. Schläuche führen in ihren Arm. Man hat sie leicht aufgesetzt, und Metallgeländer zu beiden Seiten verhindern, dass sie aus dem Bett fällt. Die Laken sind schneeweiß. Sie weiß sofort, dass sie in einem Krankenhausbett liegt, und das macht ihr Angst. Als sie leicht den Kopf dreht, spürt sie einen pochenden Schmerz. Sie zuckt unwillkürlich zusammen, und der Raum beginnt, sich zu drehen. Eine Frau, bei der es sich offenbar um eine Krankenschwester handelt, tritt in ihr verschwommenes Blickfeld.

Sie versucht, die Schwester zu fokussieren, doch es gelingt ihr nicht. Sie versucht zu sprechen, doch offenbar kann sie die Lippen nicht bewegen. Ihre Glieder fühlen sich an wie Blei, als drücke ein gewaltiges Gewicht sie herunter. Sie blinzelt. Jetzt sind es zwei Krankenschwestern. Nein, es ist nach wie vor nur eine … Sie sieht einfach nur doppelt.

»Sie hatten einen Autounfall«, sagt die Krankenschwester leise. »Ihr Mann ist draußen. Ich werde ihn jetzt holen. Er wird sich freuen, Sie zu sehen.« Mit diesen Worten verlässt die Krankenschwester den Raum.

Tom, denkt sie dankbar. Unbeholfen fährt sie sich mit der Zunge durch den Mund. Sie hat solchen Durst. Sie braucht Wasser. Ihre Zunge fühlt sich geschwollen an. Sie fragt sich, wie lange sie schon hier ist, und wie lange sie noch hier sein wird, so unbeweglich. Sie hat Schmerzen am ganzen Körper, doch ihrem Kopf geht es besonders schlimm. Aber inzwischen kann sie schon ein wenig klarer sehen.

Die Krankenschwester kommt wieder ins Zimmer zurück und präsentiert ihr ihren Mann wie ein Geschenk. Trotz ihrer noch immer leicht verschwommenen Sicht sieht sie, dass Tom sich Sorgen macht. Er sieht erschöpft aus und ist unrasiert, als wäre er die ganze Nacht wach gewesen. Doch seine Augen vermitteln ihr ein Gefühl der Sicherheit. Sie will ihn anlächeln, doch es bleibt beim Versuch.

Tom beugt sich über sie und schaut sie liebevoll an. »Karen«, flüstert er und nimmt ihre Hand. »Gott sei Dank, es geht dir gut.«

Sie versucht zu sprechen, doch außer einem heiseren Wimmern bringt sie nichts zustande. Prompt hält ihr die Krankenschwester ein Wasserglas mit einem Strohhalm an den Mund. Gierig saugt sie daran. Als sie fertig ist, nimmt die Krankenschwester das Glas wieder an sich.

Erneut versucht sie zu sprechen, doch es kostet sie zu viel Kraft, und so gibt sie auf.

»Schon okay«, sagt ihr Mann. Er hebt die Hand, um ihr die Haare aus der Stirn zu wischen. Es ist eine vertraute Geste, doch dann lässt er die Hand unbeholfen fallen. »Du hattest einen Autounfall, aber du wirst wieder gesund. Ich bin ja hier.« Er schaut ihr tief in die Augen. »Ich liebe dich, Karen.«

Sie versucht, den Kopf zu heben, nur ein wenig, wird dafür jedoch mit einem scharfen, brennenden Schmerz, Schwindel und Übelkeit bestraft.

Sie hört, wie noch jemand das kleine Zimmer betritt. Es ist ein Mann, größer und schlanker als ihrer, fast ein Klappergestell. Er trägt einen weißen Kittel und hat ein Stethoskop um den Hals. Dann tritt er an ihr Bett und schaut aus großer Höhe auf sie hinab. Ihr Mann lässt ihre Hand los und tritt beiseite.

Der Arzt beugt sich über sie und leuchtet ihr nacheinander mit einer kleinen Lampe in beide Augen. Er scheint zufrieden zu sein und steckt die Lampe wieder ein. »Sie haben eine schwere Gehirnerschütterung«, erklärt er. »Aber Sie werden wieder ganz gesund.«

Endlich findet sie ihre Stimme wieder. Sie schaut zu dem zerzausten, von Sorge zerfressenen Mann neben dem Arzt in dem weißen Kittel und flüstert: »Tom.«

*

Toms Herz quillt förmlich über, als er seine Frau anschaut. Sie sind jetzt fast zwei Jahre verheiratet. Das sind die Lippen, die er jeden Morgen und jeden Abend küsst. Ihre Hände sind ihm genauso vertraut wie seine eigenen. Doch im Augenblick sind ihre geliebten blauen Augen geschwollen und voller Schmerz.

»Karen«, flüstert er. Er beugt sich näher an sie heran und fragt. »Was ist passiert?«

Sie starrt ihn mit leeren Augen an.

Aber er drängt sie. Er muss es wissen. Seine Stimme nimmt einen fordernden Tonfall an. »Warum hast du das Haus so überstürzt verlassen? Wo wolltest du denn hin?«

Sie beginnt, den Kopf zu schütteln, hört aber sofort wieder auf und schließt kurz die Augen. Dann öffnet sie sie wieder und flüstert mühsam: »Ich … Ich weiß es nicht.«

Tom schaut sie verzweifelt an. »Das musst du doch wissen. Du hattest einen Autounfall. Du bist viel zu schnell gefahren und gegen einen Strommast gerast.«

»Ich erinnere mich nicht«, sagt sie langsam, als würden die Worte sie ihre letzte Kraft kosten. Die Augen, mit denen sie ihn anschaut, sind voller Angst.

»Das ist sehr wichtig«, drängt Tom und beugt sich noch näher an sie heran. Sie weicht in die Kissen zurück.

Der Arzt mischt sich ein. »Wir werden Ihnen jetzt ein wenig Zeit geben, damit Sie sich ausruhen können«, sagt er. Er spricht leise mit der Krankenschwester und winkt Tom, ihn zu begleiten.

Tom folgt dem Arzt aus dem Zimmer und wirft einen letzten Blick auf seine Frau im Krankenbett. Das muss die Kopfverletzung sein, denkt er besorgt. Vielleicht ist es ja schlimmer, als die Ärzte denken.

Seine Gedanken überschlagen sich. Tom folgt Dr. Fulton den Flur hinunter. Es ist unheimlich still – Tom fällt wieder ein, dass es mitten in der Nacht ist. Der Arzt geht in ein freies Zimmer hinter der Schwesternstation.

»Bitte, setzen Sie sich«, sagt der Arzt und setzt sich selbst ebenfalls.

»Warum kann sie sich nicht daran erinnern, was passiert ist?«, fragt Tom. Es macht ihn verrückt.

»Bitte, setzen Sie sich«, wiederholt Dr. Fulton nachdrücklich. »Versuchen Sie, sich zu beruhigen.«

»Ja … Natürlich …«, sagt Tom und nimmt sich den einzigen anderen Stuhl in dem kleinen Zimmer. Sich zu beruhigen fällt ihm allerdings schwer.

Der Arzt erklärt: »Es ist nicht ungewöhnlich, dass Patienten mit einem Schädelhirntrauma kurzfristig unter Amnesie leiden.«

»Was meinen Sie damit?«

»Nach einem physischen Kopftrauma oder auch nach einem emotionalen Trauma können Patienten kurzfristig die Erinnerung an das verlieren, was unmittelbar vor dem Trauma geschehen ist. Die Amnesie kann geringer oder schwerwiegender sein. Bei einem Schlag auf den Kopf haben wir es allerdings meist mit einer anderen Art von Amnesie zu tun – mit Verlusten im Kurzzeitgedächtnis nach dem Vorfall. Vermutlich werden Sie auch das eine Weile beobachten können. Und manchmal kann so eine Amnesie auch sehr weit in die Vergangenheit zurückreichen. Ich denke, genau damit haben wir es hier zu tun.«

Der Arzt scheint sich nicht sonderlich viel Sorgen zu machen. Tom versucht sich einzureden, dass das ein gutes Zeichen ist. »Wird sie ihre Erinnerung denn wieder zurückbekommen?«

»Oh, mit ziemlicher Sicherheit«, antwortet der Arzt. »Sie müssen einfach nur Geduld haben.«

»Können wir vielleicht irgendetwas tun, um ihr dabei zu helfen?« Tom ist verzweifelt. Er will endlich wissen, was am vergangenen Abend geschehen ist.

»Nicht wirklich. Sie braucht jetzt vor allem eins: Ruhe. Das Gehirn muss heilen. So etwas braucht seine Zeit.«

Der Pager des Arztes summt, und er schaut darauf. Dann entschuldigt er sich und lässt Tom mit seinen Sorgen und Ängsten allein.