Kapitel einundvierzig

Der ständige Lärm um sie herum hält Karen vom Schlafen ab. Selbst mit dem Kissen auf dem Kopf kann sie ihn nicht aussperren. Ob sie sich je daran gewöhnen wird? Morgens fühlt sie sich dann auch wie durch den Wolf gedreht, und im Laufe des Tages wird dieses Gefühl sogar noch schlimmer.

Karen ist hier so allein, und sie hat solche Angst. Wie schnell der Knast ihr doch den Mut genommen hat. Wenn sie überleben will, dann muss sie härter werden. Sie ermahnt sich, dass sie eine Kämpferin ist. Sie muss jetzt realistisch bleiben, und hart. Diesmal wird sie nicht so einfach weglaufen können.

Eine weibliche Beamtin kommt zu ihrer Zelle und sagt: »Sie haben Besuch.«

Karen hätte vor Erleichterung fast geweint, als sie aufsteht und der Beamtin folgt. Sie scheucht sie in einen Raum, in dem Calvin und Tom bereits auf sie warten. Ihr treten Tränen in die Augen. Tom schlingt die Arme um Karen und drückt sie fest an sich. Er riecht nach der Außenwelt, nicht nach Gefängnis. Karen atmet tief ein. Sie will ihn nicht loslassen. Sie schluchzt in seinen Nacken. Schließlich löst Tom sich von ihr und schaut sie an. Sie sieht, dass auch ihm Tränen in den Augen stehen. Er sieht furchtbar aus.

Calvin räuspert sich. Offensichtlich will er endlich zur Sache kommen. »Wir müssen reden.«

Karen richtet nervös den Blick auf den Anwalt, und sie setzen sich. Ihre gesamte Zukunft liegt in den Händen dieses Mannes. Karen greift nach Tom. Sie braucht seine Kraft. »Waren Sie in Las Vegas? Im Frauenhaus?«, fragt Karen.

»Ja«, antwortet Calvin. »Dort hat man mir bestätigt, dass Sie dort ein Jahr lang Hilfe wegen Ihres gewalttätigen Ehemanns gesucht haben.« Er hält kurz inne. »Aber es gibt da eine neue Entwicklung.«

Verängstigt schaut Karen zu Tom. Tom drückt ihre Hand.

»Heute Morgen sind Ihr Haus und Ihr Grundstück durchsucht worden«, erklärt Calvin.

Karen schaut zwischen dem Anwalt und ihrem Mann hin und her. Die beiden wirken angespannt. »Ja, und?«, fragt sie.

»Na ja … Sie haben eine Waffe gefunden«, sagt Calvin.

Karen ist wie vor den Kopf geschlagen. »Was meinen Sie damit? Wie ist das möglich?«, verlangt sie zu wissen. Dann dreht sie sich auf der Suche nach Bestätigung zu Tom um.

»Sie glauben, es handelt sich um die Tatwaffe«, sagt Calvin. »Ich habe gerade mit Detective Rasbach gesprochen. Sie untersuchen sie gerade.«

»Das ist unmöglich!«, erklärt Karen im Brustton der Überzeugung. Sie fühlt, wie Panik in ihr aufkeimt und sie zu ersticken droht.

Calvin beugt sich vor und schaut ihr in die Augen. »Lassen Sie uns mal kurz hypothetisch reden. Besteht, rein hypothetisch, die Möglichkeit, dass es sich bei der Waffe, die man heute Morgen in Ihrer Garage gefunden hat, tatsächlich um die Tatwaffe handelt?«

Karen schüttelt den Kopf. »Nein. Das kann nicht sein.«

»Was zum Teufel geht dann hier vor?« Calvin richtet seinen Blick auf Tom. »Können Sie sich das erklären?«

Karen sieht, wie Tom tief durchatmet. Dann sagt er: »Ich glaube, ich habe da so eine Idee.« Er schaut Karen an. Sein Blick ist düster. »Ich glaube, jemand hat sie da hingelegt.«

»Und wie kommen Sie darauf?«, fragt der Anwalt vorsichtig nach.

»Weil ich weiß, dass sie noch nicht da war, als ich nach dem Unfall alles durchsucht habe, während Karen im Krankenhaus lag. Ich habe das Haus regelrecht auseinandergenommen, einschließlich der Garage. Und ich habe dabei auch in die Werkzeugkiste geschaut. Da war keine Waffe.«

Karen starrt ihn überrascht an. Tom hat das Haus durchsucht, während sie im Krankenhaus gelegen hat. Und er hat ihr nichts davon erzählt.

»Aber heute war die Waffe da«, erklärt Calvin. »Wie ist sie da hingekommen? Karen?«

»Ich weiß es nicht«, flüstert sie. »Ich habe sie jedenfalls nicht dort hingelegt.«

»Überlegen Sie doch mal«, sagt Tom zu Calvin. »Karen hatte diesen Autounfall. Im Wagen haben sie die Waffe aber nicht gefunden, und offensichtlich hat sie sie auch nicht mit ins Krankenhaus genommen. Wie soll sie sie dann hinterher in der Garage versteckt haben? Und warum sollte sie das überhaupt getan haben?«

Kurz schweigen sie alle drei.

»Eine Möglichkeit fällt mir allerdings ein«, sagt Tom schließlich. Karen starrt ihn verängstigt an. Sie atmet kaum.

Müde fragt Calvin: »Wirklich? Und was ist das für eine Möglichkeit?«

»Unsere Nachbarin von gegenüber. Brigid Cruikshank.«

Sie werden es ihm sagen müssen, denkt Karen.

Jetzt wirkt Calvin doch interessiert. »Und warum sollte diese Frau von gegenüber eine Waffe in Ihrer Garage verstecken?«

»Weil sie verrückt ist«, antwortet Tom.

Karen schaut von ihrem Mann zu ihrem Anwalt und holt tief Luft. »Und weil sie da war.«

»Was?« Calvin ist offensichtlich überrascht.

»Sie hat Tom erzählt, sie sei mir an jenem Abend gefolgt«, erklärt Karen.

»Warum sollte sie das tun?«, verlangt der Anwalt zu wissen.

»Ich weiß es nicht«, antwortet Karen.

»Ich schon«, sagt Tom plötzlich und dreht sich zu ihr um. »Sie ist von uns besessen, Karen. Ständig sitzt sie an ihrem Fenster und beobachtet uns, den ganzen Tag … weil sie in mich verliebt ist. Und sie dich hasst

»Was?« Karen ist schockiert.

»Du kennst sie nicht«, sagt Tom angespannt, »nicht so wie ich jedenfalls.«

»Wovon redest du da? Sie hasst mich nicht«, protestiert Karen. »Das ist doch lächerlich. Und du kennst sie doch kaum.«

Tom schüttelt den Kopf. »Das ist nicht wahr.«

»Tom, sie ist meine beste Freundin.«

»Nein, das ist sie nicht«, erklärt Tom in hartem Ton. »Als sie rübergekommen ist und mir gesagt hat, dass sie dir am Abend des Unfalls gefolgt ist …« Er zögert.

Karen starrt ihn an. Ängstlich fragt sie sich, was kommt, was er weiß und sie nicht. Was verheimlicht er ihr?

Tom dreht sich von ihr weg, als könne er ihr nicht mehr in die Augen schauen. »Es gibt da etwas, das du wissen musst, Karen. Bevor ich dich kennengelernt habe, da hatten Brigid und ich … Wir hatten eine Affäre. Das war ein Fehler. Kurz bevor ich dich kennengelernt habe, habe ich sie beendet.« Jetzt schaut er sie wieder an.

Ungläubig erwidert Karen seinen Blick. Sie ist wie erstarrt. Einen Moment lang kann sie noch nicht einmal mehr sprechen. Doch schließlich fragt sie: »Und du hast nie daran gedacht, mir das zu erzählen?«

»Es war für dich und mich nicht von Bedeutung«, antwortet Tom verzweifelt. »Das war, bevor ich dich kennengelernt habe.«

Während Karen ihn weiterhin anstarrt, denkt sie an all die Male zurück, die sie mit Brigid verbracht hat, ohne zu wissen, dass ihre Freundin mit ihrem Mann geschlafen hat. Übelkeit steigt in ihr auf.

»Wir sind übereingekommen, dir nichts zu sagen, weil …« Tom hält kurz inne. »Es wäre einfach peinlich gewesen, für alle.«

Karen schaut ihn verächtlich an. »Sie ist verheiratet, Tom.«

»Ich weiß, aber sie hat mich angelogen. Sie hat behauptet, sie lebe getrennt. Es gefällt ihr, andere zu manipulieren. Du hast ja keine Ahnung.« Tom seufzt. »Als sie in der Nacht zu mir gekommen ist und mir gesagt hat, dass sie dir gefolgt ist, da … da hat sie mich angemacht und gesagt, wenn … wenn ich nicht mit ihr schlafe, dann würde sie zur Polizei gehen und erzählen, dass sie dich gesehen und Schüsse gehört habe, bevor du aus dem Gebäude gerannt bist.«

Karen ist wie vor den Kopf geschlagen. »Du hattest Sex mit ihr? In dieser Nacht? Mit Brigid? Während ich … Während ich im Gefängnis war?« Sie zieht ihre Hand zurück. Tom läuft rot an. Er hasst es, ihr wehzutun.

»Ich wollte nicht! Ich habe das nur getan, um dich zu beschützen!«, verteidigt sich Tom. »Und jetzt hat sie die verrückte Idee, dass wir beide füreinander bestimmt sind und dass wir nun, da du im Gefängnis sitzt, endlich zusammen sein können. Sie glaubt, das ist Schicksal. Verstehst du denn nicht? Sie muss die Waffe in der Garage versteckt haben. Sie will dafür sorgen, dass du wegen Mordes verurteilt wirst!«

Karen versucht nachzudenken. Ihr Herz rast. »Brigid war da … Sie muss sich die Waffe genommen haben.«

Tom nickt. »Genau das habe ich doch gesagt.«

»Vielleicht hat Brigid am Tatort ja Fingerabdrücke zurückgelassen«, sagt Karen zu Tom. »Du hast gesagt, sie habe die Tür geöffnet.« Sie dreht sich zu dem Anwalt um. »Werden Sie sie dazu veranlassen, nach Roberts Fingerabdrücken in unserem Haus zu suchen?« Calvin nickt. »Wenn sie schon dabei sind, vielleicht könnten sie dann auch nach Brigids suchen. Es muss sie geben. Und sie sollen sie mit denen vom Tatort vergleichen.«

Tom und Calvin beobachten sie aufmerksam.

Karen schaut die beiden Männer an. »Da haben wir unseren begründeten Zweifel«, sagt sie. »Ich bin von meiner verrückten Nachbarin in die Falle gelockt worden. Weil sie in meinen Mann verliebt ist.«