Am nächsten Morgen sitzt Brigid Cruikshank, Karens beste Freundin von gegenüber, im Wartebereich im vierten Stock des Mercy Hospitals. Sie hat ihre Strickarbeit auf dem Schoß und zieht den gelben Faden aus einer Stofftasche zu ihren Füßen. Der Wartebereich, der von großen Fenstern erhellt wird, von denen aus man auf den Parkplatz schauen kann, ist nicht weit von den Aufzügen entfernt. Brigid arbeitet an einem Babypullover, doch sie lässt immer wieder Maschen fallen, und das macht sie wütend. Dabei weiß sie ganz genau, dass sie in Wirklichkeit nicht auf den Pullover wütend ist.
Sie entdeckt Tom – in Jeans, einem einfachen T-Shirt und mit zerzaustem Haar. Er geht in Richtung Aufzug. Als er Brigid sieht, scheint er kurz zu erschrecken. Vielleicht freut es ihn ja nicht, sie hier zu sehen. Es würde sie nicht wirklich überraschen. Vielleicht wollen er und Karen ja einfach nur ein wenig Zeit für sich allein. Manche Menschen sind halt so.
Aber Brigid muss wissen, was los ist. Also schaut sie ihm in die Augen, und langsam kommt er zu ihr.
Brigid mustert ihn besorgt. »Tom. Ich bin ja so froh, dich zu sehen. Ich habe schon versucht, dich anzurufen. Es tut mir ja so leid, dass …«
»Jajaja«, unterbricht er sie. Er setzt sich neben sie, beugt sich vor und stützt die Ellbogen auf die Knie. Er sieht furchtbar aus, als hätte er seit vierundzwanzig Stunden nicht mehr geschlafen. Was vermutlich auch der Fall ist. »Ich habe mir große Sorgen gemacht«, sagt Brigid. Tom hat sie in der Nacht zuvor zweimal angerufen – das erste Mal, um sie zu fragen, ob sie weiß, wo Karen ist, und das zweite Mal aus dem Krankenhaus, um ihr zu sagen, dass Karen einen Autounfall hatte. Doch dieses zweite Telefonat war nur sehr kurz gewesen. Tom hatte sie rasch abgewürgt und ihr keine Einzelheiten erzählt. Aber jetzt will sie es wissen. Sie will alles hören. »Was ist letzte Nacht passiert?«
Tom starrt stur geradeaus. Er schaut Brigid nicht an. »Sie ist mit dem Wagen gegen einen Strommast gefahren.«
»Was?«
Tom nickt langsam, so als wäre er unglaublich müde. »Die Polizei sagt, sie sei viel zu schnell und bei Rot über die Ampel gefahren. Dann hat sie die Kontrolle über den Wagen verloren.«
Brigid starrt ihn eine Minute lang an. »Hast du sie gefragt, was passiert ist?«, will sie schließlich wissen.
Jetzt dreht Tom sich zu ihr um, und sie sieht Hilflosigkeit in seinen Augen. »Ja, aber sie kann sich nicht erinnern. Nicht an den Unfall und nicht an das, was davor geschehen ist«, antwortet er. »Sie erinnert sich an nichts von dem, was gestern geschehen ist.«
»Wirklich?«
»Ja, wirklich«, seufzt Tom. »Der Arzt hat gesagt, das sei bei ihren Verletzungen normal.«
Brigid schaut wieder auf ihre Strickarbeit. »Und … Und wird ihr Gedächtnis wieder zurückkommen?«
»Die Ärzte glauben, ja. Ich hoffe es zumindest. Ich würde nämlich wirklich gerne wissen, was sie in dieser Gegend gemacht hat.«
Brigid schweigt kurz. Schließlich sagt sie: »Ich bin sicher, dass sie wieder gesund wird.« Es klingt völlig unangemessen, eine Phrase. Doch Tom scheint das nicht zu bemerken.
Er seufzt und sagt: »Und ich muss mich jetzt mit der Polizei auseinandersetzen.«
»Mit der Polizei?«, hakt Brigid rasch nach und schaut ihn wieder an. Sie entdeckt Falten in seinem Gesicht, die sie bisher nie bemerkt hat.
»Sie untersuchen den Unfall«, erklärt Tom. »Vermutlich werden sie sie wegen irgendetwas anklagen.«
»Oh!«, sagt Brigid und legt den Babypullover beiseite. »Es tut mir ja so leid, Tom. Das kannst du jetzt wirklich nicht gebrauchen, nicht wahr?«
»Nein.«
Brigids Stimme nimmt einen sanften Tonfall an. »Wenn du eine Schulter brauchst, um dich auszuweinen, dann weißt du ja, wo du mich finden kannst. Ich bin für dich da. Für euch beide.«
»Jaja«, sagt er. »Danke.« Er steht auf. »Ich werde mir einen Kaffee holen. Willst du auch einen?«
Brigid schüttelt den Kopf. »Nein, danke. Ich komme schon zurecht. Aber könntest du Karen sagen, dass ich da bin?«
»Sicher. Aber du verschwendest vermutlich deine Zeit. Ich glaube nicht, dass sie heute jemanden empfangen kann. Sie hat starke Schmerzen und ist mit Medikamenten vollgepumpt. Außerdem ist sie benommen und desorientiert. Vielleicht wäre es besser, wenn du morgen wiederkommst.«
»Ich warte noch ein wenig. Vielleicht ändert sich ja noch etwas«, erwidert Brigid und greift wieder nach ihrer Strickarbeit. Kaum hat Tom ihr den Rücken zugekehrt, um zum Aufzug zu gehen, da hebt sie den Kopf und beobachtet ihn. Sie kann einfach nicht glauben, dass Karen sie nicht sehen will. Sie wird auch nicht lange bleiben. Als Tom im Aufzug verschwunden ist und die Tür sich schließt, schnappt Brigid sich ihre Sachen und macht sich auf den Weg zu Karen … Zimmer 421.
*
Rastlos bewegt Karen die Beine unter den weißen Laken. Sie sitzt an die Kissen gelehnt. An diesem Morgen fühlt sie sich schon etwas besser und kann auch klarer denken. Wie lange sie wohl noch hierbleiben muss?
Leise klopft es an ihre halb geöffnete Tür, und Karen lächelt schwach. »Brigid«, sagt sie. »Komm rein.«
»Ist das auch okay?«, fragt Brigid leise und geht zum Bett. »Tom hat gesagt, du würdest mich vermutlich nicht sehen wollen.«
»Warum sollte Tom so etwas sagen? Natürlich freue ich mich, dich zu sehen. Komm. Setz dich.« Schwach klopft sie aufs Bett.
»Himmel, schau dir nur all die Blumen an«, sagt Brigid.
»Die sind alle von Tom«, erklärt Karen. »Er schüttet mich mit Rosen förmlich zu.«
»Das sehe ich«, sagt Brigid und setzt sich vorsichtig auf die Bettkante. Aufmerksam mustert sie Karen. »Du siehst furchtbar aus.«
»Wirklich?«, erwidert Karen. »Sie haben mich gar nicht erst in die Nähe eines Spiegels gelassen. Ich fühle mich wie Franken-Karen.« Mit der lockeren Plauderei versucht Karen, die Angst im Zaum zu halten, die sie plagt, seit sie von dem Unfall erfahren hat … von einem Unfall, an den sie sich nicht im Mindesten erinnern kann. Karen ist dankbar dafür, Brigid zu sehen, ihre beste Freundin. Der Besuch lenkt sie ab, und er bedeutet auch eine Erleichterung von der überwältigenden Angst, die sie plagt. Brigid vermittelt ihr ein Gefühl der Normalität, während nichts sonst das tut.
Karen weiß nicht, was gestern Abend passiert ist. Sie weiß nur, dass es schrecklich war und dass es sie noch immer bedroht. Die Unwissenheit macht sie wahnsinnig. Sie weiß nicht, was sie tun soll.
»Gott sei Dank bist du in Ordnung, Karen. Ich habe mir furchtbare Sorgen gemacht.«
»Ich weiß. Es tut mir leid.«
»Das muss es nicht. Du hattest einen Unfall. Es ist nicht deine Schuld.«
Karen fragt sich, wie viel Brigid weiß, was Tom ihr erzählt hat. Vermutlich nicht viel. Tom hat Brigid nie gemocht. Sie weiß nicht, warum. Sie sind einfach nie miteinander ausgekommen. Manchmal hat das zu peinlichen Situationen geführt.
»Es ist schrecklich, Brigid«, sagt Karen zögerlich. »Ich erinnere mich nicht daran, was passiert ist. Tom sagt, ich sei wie wahnsinnig und viel zu schnell gefahren. Und er fragt mich ständig …«
In diesem Moment betritt Tom das Zimmer. Er hat zwei Pappbecher mit Kaffee dabei. Karen sieht, wie er verärgert stehen bleibt, als er Brigid auf der Bettkante entdeckt. Seine Reaktion ist kaum merklich, doch Karen entgeht sie nicht. Es ist, als würde die Temperatur im Raum gleich um mehrere Grad sinken. Tom gibt Karen einen der beiden Becher.
»Hi, Brigid«, sagt Tom in beiläufigem Ton.
»Hi«, erwidert Brigid und schaut kurz zu ihm hinüber. Dann dreht sie sich wieder zu Karen um. »Ich wollte dich nur mit eigenen Augen sehen, um sicherzugehen, dass es dir auch wirklich gut geht«, sagt Brigid und steht auf. »Ich gehe jetzt und lasse euch zwei allein.«
»Das musst du nicht«, protestiert Karen.
»Du brauchst Ruhe«, entgegnet Brigid. »Ich komme morgen wieder, okay?« Sie lächelt Tom an und huscht aus dem Raum.
Karen legt die Stirn in Falten und schaut Tom an. »Warum magst du Brigid eigentlich nicht?«
»So ist es gar nicht!«
»Wirklich? Es war ziemlich offensichtlich, dass du dich nicht gerade darüber gefreut hast, sie hier zu sehen.«
»Das ist nur mein Beschützerinstinkt«, erwidert Tom. »Du weißt doch, was der Arzt gesagt hat. Du brauchst Ruhe.«
Karen schaut ihn über den Becherrand hinweg an. Sie glaubt ihm nicht.
*
Später an diesem Nachmittag, als Tom nach Hause gefahren ist, um zu duschen und sich umzuziehen, kommt Dr. Fulton noch einmal. Karen erinnert sich noch von letzter Nacht an ihn.
»Wie fühlen Sie sich heute?«, fragt er.
Er spricht leise und ruhig, und Karen ist ihm dankbar dafür. Ihre Kopfschmerzen sind im Laufe des Tages schlimmer geworden. »Ich weiß es nicht. Sagen Sie es mir«, antwortet sie vorsichtig.
Dr. Fulton lächelt sie professionell an. »Ich glaube, dass Sie wieder in Ordnung kommen werden. Abgesehen von der Gehirnerschütterung sind Ihre Verletzungen eher geringfügig.« Er leuchtet ihr mit seiner kleinen Lampe in die Augen und spricht dabei leise weiter. »Das Einzige, was mir Sorgen bereitet, ist die Tatsache, dass Sie sich nicht an den Unfall erinnern können. Aber das ist nicht ungewöhnlich. Ihre Erinnerung wird vermutlich bald wieder zurückkehren.«
»Sie haben so etwas also schon erlebt?«, fragt Karen langsam. »Ich meine, dass Menschen ihr Gedächtnis verlieren?«
»Ja, das habe ich.«
»Und kehrt es immer zurück?«
»Nicht immer, nein.« Er fühlt ihren Puls.
»Aber normalerweise schon?«
»Ja.«
»Und wie lang dauert das?«, fragt Karen nervös. Hoffentlich geht es schnell, denkt sie. Sie muss wissen, was genau passiert ist.
»Das hängt davon ab. Es könnte ein paar Tage dauern oder ein paar Wochen. Jeder Mensch ist anders.« Dr. Fulton schaut in die Krankenakte und fragt: »Wie sieht es mit den Schmerzen aus?«
»Sie sind erträglich.«
Er nickt. »Das wird besser. Wir werden Sie noch ein, zwei Tage zur Beobachtung hierbehalten, und wenn Sie nach Hause kommen, müssen Sie es erst einmal ruhig angehen lassen. Ich werde Ihnen etwas verschreiben, das Sie sich in der Krankenhausapotheke holen können. Und Ihrem Mann werde ich erklären, wie man mit einer Gehirnerschütterung umgeht.«
»Kann ich irgendetwas tun, damit mein Gedächtnis schneller wieder zurückkommt?«, fragt Karen.
»Nicht wirklich.« Dr. Fulton lächelt sie an. »Das braucht einfach Zeit.« Und dann lässt er sie mit ihrer schwelenden Panik allein.
Später kommt eine neue Krankenschwester vorbei. Sie ist ruhig und freundlich, und sie verhält sich, als sei alles in bester Ordnung. Doch es ist nicht alles in bester Ordnung.
»Könnte ich bitte einen Spiegel haben?«, fragt Karen.
»Sicher. Ich hole einen«, antwortet die Krankenschwester.
Kurz darauf kehrt sie mit einem kleinen Handspiegel zurück. »Erschrecken Sie sich nicht«, sagt sie. »Da sind ein paar Blutergüsse und Schwellungen, aber nichts, was nicht wieder verheilen würde. Es ist nicht so schlimm, wie es aussieht.«
Ängstlich nimmt Karen den Spiegel. Sie ist kaum wiederzuerkennen. Ihre normalerweise feinen Gesichtszüge und ihre schöne Haut sind unter einer furchtbaren Schwellung und dunkelblauen Flecken verborgen. Doch was ihr am meisten Sorgen bereitet, ist der verängstigte und verwirrte Blick in ihren Augen. Wortlos gibt sie der Krankenschwester den Spiegel zurück.
*
Als er sie schließlich küsst, hat sie das Gefühl zu sterben. Die Art, wie sie sich die ganze Nacht über immer wieder zufällig berührt haben … Es hat sie wahnsinnig gemacht. Er ist älter als sie, und er ist vorsichtig … Er ist ganz anders als die Jungen, die ständig fummeln und es eilig haben. Sie haben einfach keine Ahnung, was sie tun. Sie erwidert seinen Kuss.
Sie waren auf dem Heimweg nach einem Kinobesuch. Es ist ein langer Weg, doch die Nacht ist schön. Sie wollen zusammen sein, und sie wissen nicht, wo sie hingehen können. Und dann hat er sie in eine dunkle Ecke hinter dem Einkaufszentrum gezogen und sie geküsst. Wie lange ist das nun her?
Ein Müllcontainer klappert laut, und sofort lösen sie sich voneinander. Ein Mann, der den Müll aus einem Restaurant entsorgt, starrt sie an. Ihre Verabredung legt schützend den Arm um sie. »Komm«, sagt er und nimmt ihre Hand. »Ich kenne da einen Ort.«
Ihr ganzer Körper bebt vor Aufregung. Sie hätte ihn immer so weiterküssen können. Sie will allein mit ihm sein, aber … Sie bleibt stehen. »Wo gehen wir hin?«
»Irgendwohin, wo wir ein wenig mehr Privatsphäre haben.« Er zieht sie näher zu sich heran. »Wenn du das willst, heißt das.« Er küsst sie wieder. »Ich kann dich aber auch nach Hause bringen.«
In diesem Augenblick würde sie ihm überallhin folgen. Sie gibt ihm ihre Hand, und sie überqueren die Straße. Sie bemerkt kaum, wo sie langgehen. Sie spürt nur, wie seine Hand in der ihren liegt und was sie will. Sie kommen an eine Tür. Er drückt sie auf. Dann schaut er sie an. »Komm. Es ist schon okay. Da ist niemand.«
Sie tritt über die Schwelle, und sofort schlingt er die Arme um sie. Er küsst sie wieder, doch diesmal stört sie etwas. Ein Geruch. Sie löst sich von ihm. Er scheint es auch zu bemerken. Beide sehen sie es gleichzeitig. Auf dem Boden liegt jemand, und überall ist Blut.
Sie schreit. Er legt ihr sanft die Hand auf den Mund. »Schschsch, schschsch, sei still!«
Sie hört auf zu schreien und starrt den Mann auf dem Boden entsetzt an. Er nimmt seine Hand wieder herunter, und sie flüstert: »Ist er tot?«
»Das muss er wohl.« Er nähert sich dem Mann und schaut auf ihn hinunter. Sie wagt es nicht, näher heranzugehen. Sie hat Angst, sich übergeben zu müssen.
Dann wirbelt sie herum und stürmt aus dem Gebäude. In der Gasse bleibt sie wieder stehen und schnappt nach Luft. Er ist direkt hinter ihr. Sie schaut ihn gequält an. »Wir … Wir müssen die Polizei rufen.« Das ist das Letzte, was sie tun will. Sie hat ihrer Mutter gesagt, sie würde bei einer Freundin übernachten.
»Nein«, sagt er. »Soll ihn jemand anderes finden und die Polizei rufen. Das ist nicht unser Job.«
Sie weiß, wovor er Angst hat. Sie ist erst fünfzehn und er achtzehn.
»Schau mal«, sagt er drängend. »Es wäre etwas anderes, wenn der Typ noch leben würde, aber wir können ohnehin nichts mehr für ihn tun. Vergiss es einfach. Jemand anderes wird ihn schon finden.«
Sie hält das für falsch. Trotzdem ist sie erleichtert, es von ihm zu hören. Sie nickt. »Okay.« Dann wendet sie sich von ihm ab und sagt: »Ich glaube, ich will jetzt nach Hause.«