Kapitel sechs

Wie jeden Morgen sitzt Brigid in ihrem Lieblingssessel an dem großen Panoramafenster in ihrem Wohnzimmer und schaut hinaus. Brigids Haus liegt Toms und Karens direkt gegenüber. Mit dem Kaffee in der Hand wartet Brigid darauf, dass Tom ins Krankenhaus fährt.

Brigids Mann, Bob, kommt ins Wohnzimmer, um sich von ihr zu verabschieden. Er muss zur Arbeit.

»Es wird heute länger dauern«, sagt er. »Vermutlich werde ich zum Abendessen noch nicht zuhause ein. Ich werde mir einfach irgendwo was besorgen.«

Brigid antwortet nicht darauf. Sie ist in Gedanken versunken.

»Brigid?«

»Was?« Sie dreht sich zu ihm um.

»Ich habe gesagt, dass ich heute später nach Hause komme. Wir haben heute Abend eine Revision.«

»Jaja«, erwidert sie gedankenverloren.

»Was hast du denn heute vor?«, fragt er.

»Ich werde ins Krankenhaus fahren und Karen besuchen.« Vielleicht werden sie diesmal ja ein wenig mehr Zeit miteinander verbringen können.

»Gut. Das ist gut«, sagt Bob. Kurz bleibt er noch unsicher in der Tür stehen. Dann geht er.

Brigid weiß, dass er sich Sorgen um sie macht.

Bob kümmert es nicht wirklich, was sie heute macht. Er findet es nur einfach nicht gut, wenn sie nichts zu tun hat. Er möchte nur, dass sie ihre Termine einhält. Also sagt Brigid ihm, was er hören will.

*

Es war schon ein seltsamer Unfall, denkt Fleming: Der Fahrer war eine ehrbare Hausfrau im falschen Teil der Stadt, und es gibt keinerlei Hinweise auf Drogen- oder Alkoholmissbrauch oder auf sonst irgendetwas, was ihr Verhalten erklären könnte. Und jetzt sagt der Arzt ihm, sie habe eine Amnesie.

»Was für ein glücklicher Zufall«, bemerkt Officer Kirton, der neben ihm steht.

Das soll wohl ein Scherz sein, denkt Fleming.

Kurz bleiben sie vor Karen Krupps Tür stehen. Fleming hebt die Hand, um den Arzt aufzuhalten. »Könnte sie die Amnesie nur vortäuschen?«, fragt er leise.

Dr. Fulton schaut ihn überrascht an, als sei ihm dieser Gedanke noch nicht gekommen. »Ich glaube nicht«, antwortet er bedächtig. »Sie hat eine schwere Gehirnerschütterung.«

Fleming nickt nachdenklich. Zu dritt betreten sie das kleine Privatzimmer. Karen Krupps Mann sitzt bereits auf dem einzigen Stuhl. Mit so vielen Leuten wird es in dem Zimmer eng. Karen Krupp schaut sie aus ihrem blauen, geschwollenen Gesicht misstrauisch an.

»Mrs. Krupp«, beginnt Fleming, »ich bin Officer Fleming, und das hier ist Officer Kirton. Wir haben gehofft, dass Sie uns ein paar Fragen beantworten können.«

Sie setzt sich auf. Tom Krupp rutscht nervös auf seinem Stuhl herum.

»Ja, natürlich«, sagt sie. »Aber … Ich weiß nicht, ob der Arzt es Ihnen schon gesagt hat, aber ich kann mich noch nicht an den Unfall erinnern.« Sie verzieht das Gesicht zu einer entschuldigenden Miene.

»Hat man Ihnen denn erzählt, was passiert ist?«, fragt Kirton.

Sie nickt unsicher. »Ja, aber ich erinnere mich an nichts davon.«

»Das ist schade«, seufzt Fleming. Er sieht, dass ihre Gegenwart sie nervös macht, obwohl sie versucht, es zu verbergen. Er sagt: »Der Unfall ereignete sich an der Kreuzung von Prospect und Davis, am Südende der Stadt.« Er hält kurz inne. Karen Krupp schaut ihn weiter nervös an, erwidert aber nichts. »Sie leben im Norden. Warum, glauben Sie, sind Sie in diesen Teil der Stadt gefahren?«

Sie schüttelt den Kopf und zuckt leicht zusammen. »Ich … Ich weiß es nicht.«

»Haben Sie eine Vermutung?«, hakt Fleming sanft nach. Als sie wieder nicht antwortet, sagt er: »Dieser Teil der Stadt ist für Drogenhandel und Bandenkriminalität bekannt. Das ist nicht gerade ein Ort für Hausfrauen aus der Vorstadt.«

Sie zuckt hilflos mit den Schultern und sagt mit schwacher Stimme. »Es … Es tut mir leid …« Ihr Mann streckt den Arm aus und drückt ihr die Hand.

Fleming reicht ihr ein Blatt Papier.

»Was ist das?«, fragt sie nervös.

»Ich fürchte, es ist eine Anzeige wegen Gefährdung des Straßenverkehrs.«

Sie schaut zu ihm hinauf und beißt sich auf die Lippe. »Brauche ich einen Rechtsanwalt?«, fragt sie verunsichert.

»Das wäre wohl eine gute Idee«, antwortet Fleming. »Gefährdung des Straßenverkehrs ist in New York ein schweres Vergehen. Tatsächlich gilt es sogar als Verbrechen. Wenn man Sie verurteilt, dann sind Sie vorbestraft, und vielleicht müssen Sie sogar ins Gefängnis.« Sie wird kreidebleich, und ihr Mann sieht aus, als würde er sich gleich übergeben. Fleming schaut zu Kirton hinüber. Dann nicken die beiden zum Abschied kurz und verlassen das Zimmer.

*

Dr. Fulton folgt Fleming und Kirton hinaus. So hektisch das Leben eines Notarztes auch ist, inzwischen hat er genug Zeit gehabt, sich zu fragen, warum seine Patientin über rote Ampeln gerast ist und das im übelsten Teil der Stadt. Dabei macht sie so einen netten Eindruck. Sie ist gebildet und weiß, sich auszudrücken … In jedem Fall gehört sie nicht zu der Art Frau, der man so etwas zutraut. Offensichtlich verwirrt das auch ihren Mann.

Dr. Fulton betrachtet die Polizeibeamten, die sich über den Flur von ihm entfernen: zwei kräftige Gestalten in schwarzen Uniformen, die sich deutlich von den in Pastelltönen gekleideten Krankenschwestern abheben. Kurz fragt er sich, ob er sie wieder zurückrufen soll. Doch dann ist der Moment vorbei, und er lässt sie ziehen.

Als man sie vor zwei Nächten in die Notaufnahme gebracht hat, war Karen Krupp desorientiert und hat immer wieder das Bewusstsein verloren. Sie schien nicht mehr zu wissen, wer sie war, und konnte ihren eigenen Namen nicht mehr nennen. Sie war jedoch auch aufgeregt gewesen und hatte immer wieder den Namen von jemand anderem wiederholt. Dr. Fulton glaubt, dass es der Name eines Mannes gewesen ist. Er kann sich zwar nicht genau daran erinnern – in der Notaufnahme ist die Hölle los gewesen –, aber er ist sich ziemlich sicher, dass es nicht Tom gewesen ist. Das treibt ihn nun schon seit zwei Tagen um. Vielleicht weiß eine der Krankenschwestern ja den Namen noch.

Dr. Fulton glaubt allerdings nicht, dass Karen Krupp die Amnesie nur vortäuscht. Er nimmt an, dass sie genauso gerne wissen möchte, was an jenem Abend geschehen ist, wie ihr Mann.

*

Am Abend – fast genau achtundvierzig Stunden nach dem Unfall – verlässt Tom das Krankenhaus und macht sich auf den Weg zu seinem Auto am äußersten Ende des Parkplatzes. Karen hat aufgeregt und verwirrt gewirkt, und der Besuch der beiden Polizeibeamten hat sie beide unruhig gemacht. Die Vorstellung, dass Karen verurteilt werden und im Gefängnis landen könnte, selbst für kurze Zeit, ist für Tom kaum zu ertragen. Aber vielleicht werden sie ja Nachsicht walten lassen. Er muss jetzt stark sein. Also verbannt er die Anschuldigungen der Polizei erst einmal aus seinen Gedanken.

Auf der Heimfahrt denkt Tom über Karen und ihr gemeinsames Leben nach. Sie waren so glücklich, hatten sich so schön in ihrem Leben eingerichtet. Und jetzt das …

Als sie sich kennenlernten, arbeitete sie als Aushilfskraft in der Buchhaltung der Firma, in der er als Buchprüfer angestellt ist. Sie hatten sich sofort zueinander hingezogen gefühlt. Tom konnte es damals kaum erwarten, dass die zwei Wochen endeten, für die sie angestellt war. Denn erst danach hatte er sich mit ihr verabreden können. Gleichzeitig war er jedoch auch misstrauisch. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass er sich so zu jemandem hingezogen gefühlt hat, um sich dann die Finger zu verbrennen. Also wollte er sich erst einmal Zeit nehmen, um Karen besser kennenzulernen. Das schien auch ihr entgegenzukommen. Zu Anfang war sie reserviert, und Tom dachte, dass sie in der Vergangenheit vielleicht auch schlechte Erfahrungen gemacht hatte.

Doch Karen war nicht wie die anderen Frauen, die er vor ihr gekannt hatte. Sie spielte keine Spiele mit ihm. Sie trieb ihn nicht in den Wahnsinn, gab ihm keinen Grund dafür, dass seine Alarmglocken läuteten. So ist das von Anfang an gewesen … bis heute.

Es muss einen Grund für das geben, was sie getan hat. Sie muss von jemandem unter falschem Vorwand in den Süden der Stadt gelockt worden sein. Ihr Gedächtnis wird wieder zurückkommen, und dann wird sie alles erklären können.

Tom sieht, dass Karen große Angst hat. Und er hat selber Angst.

Er parkt in der Einfahrt und steigt mit schweren Schritten die Stufen zur Haustür hinauf. Drinnen schaut er sich müde um. Überall herrscht Chaos. In der Spüle und auf dem Tisch stapelt sich das schmutzige Geschirr. Aber das kann ihm egal sein, Tom muss ja auch nicht kochen. Meist hat er ohnehin keinen Hunger, und ansonsten holt er sich auf dem Weg zum und vom Krankenhaus einfach irgendetwas.

Aber er sollte trotzdem aufräumen. Karen soll nicht in solch ein unaufgeräumtes Zuhause zurückkehren müssen. Sie kann das nicht leiden. Er beginnt im Wohnzimmer, räumt Sachen weg und bringt schmutzige Kaffeebecher in die Küche. Dann saugt er den großen Teppich im Wohnzimmer und wischt die Glasplatte des Couchtischs. Anschließend knöpft er sich die Küche vor. Er räumt die Spülmaschine ein, wischt die Arbeitsplatte und lässt heißes Wasser in die Spüle laufen. Dann gibt er Spülmittel hinzu, um die gläserne Kaffeekanne per Hand zu spülen. Er sucht die Gummihandschuhe, mit denen Karen immer spült, findet sie aber nicht. Also steckt er die Hände einfach so in das schäumende Wasser. Wenn sie nach Hause kommt, soll Karen sich voll und ganz darauf konzentrieren, wieder gesund zu werden, und sich nicht den Kopf über den Zustand des Hauses zerbrechen müssen.

*

Karen ist allein, als Dr. Fulton kurz vor seinem Feierabend noch einmal vorbeischaut. Es ist schon spät. Auf der Station ist es ruhig, und Karen ist schläfrig. Der Arzt setzt sich auf den freien Stuhl an ihrem Bett und sagt zögernd: »Es gibt da etwas, das ich wohl erwähnen sollte.«

Karen sieht die Verunsicherung in seinen Augen, und sie verspannt sich unwillkürlich.

»Als man Sie eingeliefert hat, waren Sie desorientiert«, beginnt er. »Aber Sie haben geredet.«

Karen bekommt Angst. Jetzt ist sie hellwach.

»Sie haben immer wieder und wieder einen Namen vor sich hingemurmelt. Erinnern Sie sich noch daran?«

Sie ist wie erstarrt. »Nein.«

»Sie haben einen Robert erwähnt. Sagt Ihnen der Name etwas?« Dr. Fulton schaut sie neugierig an.

Karens Herz schlägt immer schneller. Langsam schüttelt sie den Kopf und schürzt die Lippen, als würde sie intensiv nachdenken. »Nein«, antwortet sie. »Ich kenne niemanden mit diesem Namen.«

»Okay«, sagt Dr. Fulton und steht wieder auf. »Ich dachte, es wäre einen Versuch wert.«

»Ich bin sicher, das hat nichts zu bedeuten«, sagt Karen. Sie wartet, bis der Arzt fast an der Tür ist, dann fügt sie im letzten Moment hinzu: »Ich denke, es wäre besser, wenn Sie das meinem Mann gegenüber nicht erwähnen würden.«

Dr. Fulton dreht sich wieder zu ihr um. Kurz schauen sie sich in die Augen. Dann nickt er knapp und verlässt das Zimmer.