Kapitel sieben

Am nächsten Morgen hat Tom gerade zu Ende geduscht, als es an der Tür klingelt. Er hat sich zwar schon Jeans und T-Shirt angezogen, doch seine Haare sind noch nass, aber gekämmt. Er will gleich ins Krankenhaus … ein weiterer Tag, an dem er nicht ins Büro fährt. Er ist barfuß und hat gerade Kaffee aufgesetzt.

Tom hat keine Ahnung, wer so früh bei ihm klingelt. Es ist noch nicht einmal acht Uhr. Er stapft zur Tür und schaut durchs Fenster. Es ist Officer Fleming.

Der Anblick von Fleming macht ihn wütend. Tom hat auch so schon genug um die Ohren, und er weiß heute nicht mehr als gestern. Er kann den Cops nicht helfen. Warum zum Teufel verschwindet Fleming nicht einfach und lässt sie in Ruhe, bis Karen sich wieder erinnern kann?

Tom öffnet die Tür. Einen uniformierten Beamten kann man nicht einfach draußen stehen lassen.

»Guten Morgen«, sagt Fleming.

Tom starrt ihn an. Er weiß nicht so recht, was er tun soll. Dann erinnert er sich daran, wie freundlich Fleming gewesen ist, als er ihm die Nachricht von Karens Unfall überbracht hat.

»Darf ich reinkommen?«, fragt Fleming schließlich. Er ist sehr professionell und respektvoll, genau wie in jener Nacht. Er strahlt Ruhe aus. Er wirkt nicht im Mindesten bedrohlich, und er scheint jemand zu sein, der seinen Mitmenschen gerne hilft.

Tom nickt und öffnet die Tür weit genug, um seinen Besucher hineinzulassen. Im ganzen Haus riecht es nach frischem Kaffee. Vermutlich sollte er Fleming etwas anbieten. »Kaffee?«, fragt er.

»Gerne«, antwortet Fleming. »Das wäre wunderbar.«

Tom geht in die geräumige Küche im hinteren Teil des Hauses, und der Cop folgt ihm. Tom spürt, wie Fleming ihn stumm beobachtet, während er Kaffee in zwei Becher gießt. Dann dreht Tom sich um, stellt die Becher auf den Tisch und holt Milch und Zucker.

Schließlich setzen die beiden sich an den Küchentisch.

»Was kann ich für Sie tun?«, fragt Tom. Die Situation ist ihm äußerst unangenehm, und es gelingt ihm nicht ganz, die Verärgerung in seiner Stimme zu verbergen.

Fleming nimmt sich Milch und Zucker und rührt nachdenklich den Kaffee um. »Sie waren ja da, als wir gestern mit Ihrer Frau über den Unfall gesprochen haben«, erinnert er Tom.

»Ja.«

»Und Sie verstehen sicher auch, warum wir Anzeige erstatten mussten.«

»Ja«, sagt Tom in scharfem Ton. Er atmet tief durch und fügt ehrlich hinzu: »Ich bin sehr froh, dass sonst niemand verletzt worden ist.«

Ein langes, schweres Schweigen senkt sich über den Raum, und Tom denkt darüber nach, wie schlimm es hätte kommen können. Karen hätte jemanden töten können … und dann hätten sie für den Rest ihres Lebens mit dieser furchtbaren Last leben müssen. Tom versucht, sich einzureden, dass sie eigentlich noch Glück gehabt haben.

Plötzlich will Tom reden. Er weiß nicht, warum er das diesem Polizeibeamten sagt – der ja eigentlich ein Fremder ist –, aber er kann nicht anders. »Sie ist meine Frau. Ich liebe sie.« Der Cop schaut ihn mitfühlend an. »Aber ich habe auch Fragen«, wagt Tom sich mutig weiter vor, »die gleichen Fragen wie Sie. Was zum Teufel hat sie da unten gemacht, und warum ist sie gerast wie eine Verrückte? Das passt einfach nicht zu ihr. So kenne ich meine Frau nicht.« Tom schiebt den Stuhl zurück und steht auf. Er bringt seinen Becher zur Arbeitsplatte und füllt ihn noch einmal, während er um Beherrschung ringt.

»Genau deshalb bin ich hier«, erklärt Fleming und beobachtet Tom aufmerksam. »Ich wollte wissen, ob Ihnen vielleicht noch etwas eingefallen ist, was Licht auf das Ganze werfen könnte. Aber offenbar ist das nicht der Fall.«

»Nein.« Schlecht gelaunt starrt Tom auf den Boden.

Der Beamte hält kurz inne, bevor er die nächste Frage stellt. »Wie steht es eigentlich um Ihre Ehe?«

»Um meine Ehe?«, erwidert Tom und schaut Fleming scharf an. Das ist jetzt schon das zweite Mal, dass Fleming ihn danach fragt. »Warum fragen Sie mich das?«

»Sie haben 911 angerufen, um sie als vermisst zu melden.«

»Ja, natürlich. Ich wusste ja nicht, wo sie war.«

Mit einem neutralen Gesichtsausdruck sagt Fleming: »Ihre Frau scheint vor etwas weggelaufen zu sein. Ich muss Sie das fragen … Ist sie vielleicht vor Ihnen weggelaufen?«

»Was? Nein! Wie kommen Sie darauf? Ich liebe sie!« Tom schüttelt den Kopf. »Wir sind noch nicht lange verheiratet. Demnächst feiern wir unseren zweiten Hochzeitstag. Wir sind sehr glücklich.« Er zögert. »Wir hatten sogar schon daran gedacht, eine Familie zu gründen.« Dann fällt ihm auf, dass er in der Vergangenheitsform gesprochen hat.

»Okay, okay«, sagt Fleming und hebt beruhigend die Hände. »Ich muss das fragen.«

»Ja, sicher«, sagt Tom. Er will, dass Fleming endlich geht.

»Was ist mit dem Leben Ihrer Frau, bevor Sie sich kennengelernt haben? War sie schon einmal verheiratet?«

»Nein.« Tom stellt den Becher hinter sich auf die Arbeitsplatte und verschränkt die Arme vor der Brust.

»Und sie hat noch nie Ärger mit dem Gesetz gehabt?«

»Nein, natürlich nicht«, antwortet Tom abschätzig. Doch selbst er erkennt, dass das unter den gegebenen Umständen gar keine so lächerliche Frage ist.

»Was ist mit Ihnen?«

»Nein, ich hatte auch noch keine Probleme mit dem Gesetz. Aber Sie können uns beide sicher überprüfen. Ich bin vereidigter Buchprüfer, und sie ist Buchhalterin. Wir sind ziemlich langweilig.«

»Ich frage mich …« Fleming zögert, als sei er nicht sicher, ob er das sagen sollte.

»Was?«

»Ich frage mich, ob sie wohl bedroht wird oder so etwas«, sagt Fleming vorsichtig.

»Was meinen Sie damit?«, will Tom sofort wissen.

»Wie gesagt, sie ist gefahren, als würde sie vor etwas fliehen, als hätte sie furchtbare Angst. Kein halbwegs vernünftiger Mensch würde normalerweise so fahren.«

Darauf weiß Tom keine Antwort. Er starrt Fleming an und beißt sich auf die Unterlippe.

Fleming legt den Kopf auf die Seite und fragt: »Würden Sie mir wohl helfen, mich ein wenig im Haus umzusehen?«

»Warum?« Tom schaut Fleming nervös an.

»Ich will mal sehen, ob ich etwas finden kann, das Licht …«

Tom erstarrt. Er weiß nicht, was er darauf erwidern soll. Der Tom von früher hätte sofort gesagt: Klar. Suchen wir. Doch hier steht der Tom nach dem Unfall, und der weiß nicht, was sich seine Frau dabei gedacht hat, als sie aus dem Haus geflohen ist und ihr Auto zu Schrott gefahren hat. Was, wenn sie wirklich etwas versteckt, was die Polizei nicht finden soll?

Fleming beobachtet ihn und wartet.

*

Brigid trinkt ihren Morgenkaffee. Das Licht strömt durch die Fenster herein und fällt auf den Teppich. Bob ist bereits zur Arbeit. Bevor er gegangen ist, hat er ihr nur flüchtig einen Kuss auf die Wange gehaucht. Seit einiger Zeit steht es nicht allzu gut zwischen ihnen.

Meistens ist Bob nicht zuhause. Er hat auf der Arbeit viel zu tun. Er ist der Besitzer von Cruikshank Funeral Homes, eines Beerdigungsinstituts. Aber wenn er zuhause ist – wenn er glaubt, sie sieht nicht hin –, dann beobachtet er sie, als mache er sich Sorgen um sie und darüber, was sie denken oder tun könnte. Aber insgeheim glaubt Brigid, dass es ihn nicht wirklich interessiert. Es interessiert ihn schon eine ganze Weile nicht mehr. Inzwischen beschäftigt ihn nur noch, was ihr Tun für ihn bedeuten könnte.

Sie reden nicht mehr darüber, doch Brigid weiß, dass ihre Unfähigkeit – ihr Versagen –, ein Kind zu bekommen, alles verändert hat. Ihre Unfruchtbarkeit hat sie depressiv und launisch gemacht und Bob von ihr entfremdet. Sie weiß, dass sie sich verändert hat. Früher war sie immer so unbekümmert, ja sogar ein wenig leichtsinnig. Sie glaubte immer, dass sie alles erreichen könnte. Doch inzwischen fühlt sie sich alt, niedergeschlagen und unattraktiv, obwohl sie erst zweiunddreißig ist.

Brigid hat gesehen, wie der Polizeibeamte vor wenigen Minuten mit dem Streifenwagen gekommen ist, kurz nachdem Bob sich verabschiedet hat. Sie fragt sich, was der Cop bei den Krupps will. Tom ist offensichtlich zuhause. Sein Wagen steht in der Einfahrt.

Brigid lebt zurzeit hauptsächlich in ihrem Kopf. Sie weiß, dass das nicht gut für sie ist, aber sie hat kein Interesse daran, sich einen neuen Job zu suchen und ihre Erwartungen anzupassen, wie Bob sich immer ausdrückt. Sie hat viel Zeit, um über alles Mögliche nachzudenken.

Sie erinnert sich noch gut daran, wie Karen drüben eingezogen ist. Tom war Single, als er das Haus gekauft hat – der einzige Single in einer Gegend, in der so viele Familien leben. (Wie bitter das für sie ist … Bob und sie, sie hatten sich diese Gegend extra ausgesucht, weil es hier so schön für Kinder ist … für Kinder, die sie niemals haben würden.) Dann ging Tom mit Karen aus, und nach nur wenigen Monaten waren sie verheiratet. Rasch hat Karen sich das Haus zu eigen gemacht. Sie hat es gestrichen, dekoriert und den Garten gestaltet. Brigid hat die Verwandlung verfolgt. Karen hat zweifelsohne ein gutes Auge für solche Dinge.

Von Anfang an – noch bevor Tom und Karen geheiratet haben – hat Brigid es sich zur Aufgabe gemacht, Karen im Viertel willkommen zu heißen. Brigid war so freundlich zu ihr gewesen, wie man nur sein konnte. Zuerst hatte Karen reserviert gewirkt, doch rasch begann sie, Brigids Freundschaft zu akzeptieren. Es war, als sehne sie sich nach einer weiblichen Gefährtin. Und so war es vermutlich auch, nimmt Brigid an, denn Karen war gerade erst in die Stadt gezogen, und sie kannte niemanden hier. Irgendwann verbrachten sie immer mehr Zeit miteinander. Karen schien Brigid tatsächlich als Freundin zu betrachten, auch wenn sie sich ihr nicht so gerne anvertraute.

Brigid erfuhr, dass Karen als Aushilfe in Toms Firma gearbeitet hatte und dass sie jetzt nach einer Festanstellung suchte. Brigid besorgte ihr daraufhin eine Stelle als Buchhalterin bei Cruikshank Funeral Homes. Und Brigid sorgt auch jetzt dafür, dass Karens Stelle nicht neu besetzt wird, solange sie noch nicht gesund ist. Vorläufig hat Bob eine Vertretung angestellt.

Niemand kann ihr vorwerfen, keine gute Freundin zu sein.