Kapitel acht

Tom fährt Karen am frühen Abend vom Krankenhaus nach Hause. Der Unfall ist jetzt drei Tage her. Tom fährt langsam und vorsichtig. Er weicht Schlaglöchern aus und vermeidet plötzliche Bremsmanöver und fährt so vorausschauend wie möglich. Karen ist ihm dankbar dafür. Sie schaut Tom von der Seite an. Sie sieht, wie angespannt er ist, auch wenn er so tut, als wäre alles in bester Ordnung.

Schließlich erreichen sie ihre kleine Straße, und Tom fährt in die Einfahrt von Dogwood Drive Nummer 24. Es fühlt sich gut an, nicht mehr im Krankenhaus, sondern daheim zu sein. Karen genießt es, dass die Bäume hier Zeit zum Wachsen gehabt haben. Hier sind die Häuser nicht so dicht aneinander gedrängt wie in den neueren, günstigeren Gegenden, wo die Menschen nur winzige Flecken Rasen haben. Karen liebt die Weite, das Grün. Sie ist stolz auf ihren Garten, der im Augenblick vor rosafarbenen Hortensien nur so überquillt.

Eine Minute lang sitzen die beiden stumm im Auto und lauschen dem Ticken des abkühlenden Motors. Kurz legt Tom die Hand auf Karens. Dann steigt sie langsam aus.

Im Haus dreht sie sich um und will die Tür hinter sich schließen, als Tom den Schlüsselbund auf den Tisch neben der Tür wirft. Das laute Geräusch versetzt ihr einen Stich in der Schläfe, und ihr wird schwindelig. Kurz schließt sie die Augen, schwankt und stützt sich mit der Hand an der Wand ab.

»Tut mir leid! Alles okay?«, fragt Tom reumütig. »Das hätte ich nicht tun sollen.«

»Jaja, alles okay. Mir ist nur ein bisschen schwindelig«, antwortet Karen. Laute Geräusche bereiten ihr Probleme, wie auch helles Licht und plötzliche Bewegungen. Ihr Gehirn braucht wirklich noch Zeit, um sich zu erholen. Nach einem kurzen Moment geht sie ins Wohnzimmer und genießt die blassgrauen und weißen Farbtöne und das ruhige Dekor. Sie hat das weiße Sofa, das vor dem modernen Marmorkamin steht, sorgfältig ausgesucht. Vor dem Sofa steht ein großer Couchtisch mit Glasplatte, und darunter liegt ihre Sammlung von Elle Décor und Arts and Antiques. Über dem Kamin hängt ein riesiger Spiegel, und auf dem Kaminsims stehen gerahmte Fotos von ihr und Tom. Gegenüber dem Sofa stehen passende graue Sessel mit dicken Kissen in beruhigendem Pink und Grün. Der gesamte Raum ist hell, sauber und luftig, und er ist Karen zutiefst vertraut. Es ist, als hätte es die letzten Tage nie gegeben. Langsam geht Karen zum Panoramafenster und schaut hinaus. Die Häuser auf der anderen Straßenseite sehen vollkommen harmlos aus.

Schließlich wendet sie sich wieder ab und folgt Tom in die Küche.

»Ich habe geputzt«, sagt Tom und lächelt.

Alles funkelt. Die Spüle, die Hähne, die Arbeitsplatte und all die kleinen Applikationen aus rostfreiem Stahl. Selbst das dunkle Parkett glänzt. »Und du hast einen verdammt guten Job gemacht«, erklärt Karen anerkennend und erwidert Toms Lächeln. Sie schaut durch die Glasschiebetüren in den Garten hinaus. Sie bekommt Durst und geht zum Schrank, um sich ein Glas für etwas Wasser zu holen. Sie dreht den Hahn auf, schaut in die Spüle und hält sich rasch an der Arbeitsplatte fest, um nicht zu fallen. »Ich glaube, ich sollte mich ein wenig hinlegen«, sagt sie plötzlich.

»Natürlich«, erwidert Tom. Er nimmt ihr das Glas ab und füllt es für sie.

Karen folgt Tom nach oben. Das Schlafzimmer ist hell und freundlich. Im hinteren Teil hat es viele Fenster. Auf ihrem Nachttisch liegt ein Roman und weitere Bücher auf dem Boden neben dem Bett. Sie hat sie sich vor Kurzem in der Bücherei geliehen. Vor allem auf die neue Kate Atkinson hat sie sich gefreut, aber mit ihrer Gehirnerschütterung kann sie nicht lesen. Das hat ihr der Arzt gesagt. Tom beobachtet sie.

Karen schaut zur Kommode hinüber, auf der ein Spiegeltablett mit ihren Parfümflaschen und ihrem Schmuckkästchen steht. Ihren normalen Schmuck trägt sie gerade: den Verlobungsring mit den Diamanten, den dazu passenden Ehering und die Halskette, die Tom ihr zu ihrem ersten Hochzeitstag geschenkt hat.

Karen betrachtet sich in dem vertrauten Spiegel über der Kommode. Ihr Gesicht ist noch immer von den Blutergüssen gezeichnet. Sie erinnert sich an ihre Angst. Wann immer sie nach Hause gekommen war und irgendetwas nicht dort lag, wo es liegen sollte, hatte sie gewusst, dass irgendjemand ihre Sachen durchwühlt hatte. Das hatte ihr jedes Mal einen furchtbaren Schrecken eingejagt. Und Tom wusste nichts davon.

Karen hat verdammt viel vor dem Mann verheimlicht, den sie liebt. Und sie hat solche Angst gehabt, dass Dr. Fulton Tom oder der Polizei von dem erzählen würde, was er in der Notaufnahme gehört hat, doch das hat er nicht getan. Wenn sie sich doch nur daran erinnern könnte, was an diesem Abend geschehen ist! Sie fühlt sich wie eine Blinde, die Gefahren zu umschiffen versucht, die sie nicht sehen kann.

Plötzlich ist sie sehr, sehr müde. Tröstend sagt Tom: »Warum legst du dich nicht hin und ruhst dich ein wenig aus, während ich Abendessen mache?«

Sie nickt. Aber eigentlich möchte sie nichts essen. Sie möchte gar nichts, außer sich unter den Laken zusammenrollen und vor der Welt verstecken.

Vorsichtig sagt Tom: »Einige deiner Freunde haben gefragt, wann sie dich besuchen dürfen.«

»Ich bin noch nicht bereit, irgendjemand zu sehen … außer Brigid.« Karen war dankbar für Brigids Besuche, doch außer ihr will sie niemanden sehen. Sie will ihre Fragen nicht beantworten müssen.

»Das habe ich ihnen auch gesagt. Sie wollen trotzdem kommen.«

»Noch nicht.«

Tom nickt. »Ich bin sicher, das werden sie verstehen. Das kann warten. Du brauchst jetzt erst einmal Ruhe.« Er schaut sie besorgt an. »Wie fühlst du dich?«

Sie will sagen, ängstlich, doch stattdessen antwortet sie mit einem schwachen Lächeln: »Ich bin einfach nur froh, wieder daheim zu sein.«

*

Tom macht den Grill an, mariniert ein Steak, mischt rasch einen kleinen Salat und schiebt ein Knoblauchbrot in den Ofen. Es ist eine Erleichterung, Karen wieder daheim zu haben.

Doch da sind immer noch diese Fragen … der Unfall … und was dazu geführt hat.

Tom will ihr vertrauen.

Dieser Polizeibeamte – Fleming – hat heute Morgen mit ihm zusammen das Haus durchsuchen wollen. Tom erinnert sich daran, wie erschrocken er war, als der Cop das vorschlug. Das Erste, was ihm in den Sinn kam, war: Was sucht er eigentlich? Und dann: Was, wenn er etwas findet? Etwas Nachteiliges? Tom hat Nein gesagt.

Anschließend hat er durch die Vorhänge beobachtet, wie der Cop sich das Haus lange anschaute, bevor er wieder in seinen Streifenwagen stieg und wegfuhr. Dann hat Tom zwei Dinge getan: Er hat online nach einem Strafverteidiger gesucht und einen Termin bei ihm gemacht. Und dann hat er das Haus auseinandergenommen.

Das hat ihn den größten Teil des Tages gekostet – er ist zwischendurch nur zu Karen ins Krankenhaus gefahren. Die Küche hat am längsten gedauert. Tom hat sämtliche Müslischachteln durchwühlt, das Mehl, den Reis und den Zucker – alles, was nicht versiegelt war. Er hat alles aus jedem Schrank und jeder Schublade geräumt und sie bis in den letzten Winkel durchsucht. Er hat unsichtbare Oberflächen danach abgetastet, ob etwas daran befestigt ist, und er hat unter den Teppichen nachgesehen, unter den Matratzen, in den Koffern und in nur selten getragenen Stiefeln und Schuhen. Dann ist er in den Keller hinuntergegangen, hat die schimmelige Luft eingeatmet und darauf gewartet, dass seine Augen sich an das schwache Licht gewöhnten. Dort unten ist jedoch nicht viel, nur der Waschraum und ein paar Kisten Müll. Sie benutzen den Keller nur als Abstellraum. Trotzdem ist er auch hier alles durchgegangen. Er hat sogar hinter der Heizung nachgeschaut. Zu guter Letzt hat er dann noch die Garage durchsucht. Und die ganze Zeit über hat er an dem gezweifelt, was er da tat. Was zum Teufel mache ich hier? Was suche ich eigentlich? Und er hat nichts gefunden, gar nichts. Tom kam sich wie ein Narr vor. Er war frustriert und schämte sich.

Und er war erleichtert.

Als er fertig war, räumte er alles wieder auf, sodass es so aussah wie zuvor und damit Karen nichts bemerken würde. Dann fuhr er wieder ins Krankenhaus, um sie abzuholen.

Als das Steak durch ist, bringt Tom es rein und geht nach oben, um Karen zu sagen, dass das Essen fertig ist.

Zum Essen setzen sie sich an den Küchentisch. Tom bietet Karen Rotwein an, doch sie schüttelt vorsichtig den Kopf. »Oh«, sagt er, »das habe ich ganz vergessen … Kein Alkohol, solange du noch Schmerzmittel nimmst.« Er stellt den Wein weg und holt stattdessen Mineralwasser.

Tom schaut seine Frau über den Tisch hinweg an. Sie trägt ihr braunes Haar kurzgeschnitten. Einige Strähnen fallen ihr immer wieder in die Stirn, und sie hat ein reumütiges Lächeln auf dem Gesicht. Wären da nicht die Blutergüsse, könnte man glauben, dass sich nichts verändert hat.

Es ist fast so, wie es immer war … aber eigentlich ist nichts mehr so wie früher.

*

Früh am nächsten Morgen wird Karen wach. Die Sonne ist noch nicht aufgegangen. Leise steigt sie aus dem Bett und zieht sich den Bademantel über. Sie schließt die Tür hinter sich und macht sich auf den Weg zur Küche.

Sie weiß, dass sie sich nicht mehr hinlegen wird. Sie setzt sich eine Kanne Kaffee auf, verschränkt die Arme vor der Brust und schaut hinaus. Das vertraute Geräusch und der Geruch des Kaffees trösten sie.

Als die Sonne schließlich aufgeht, steigt ein leichter Nebel vom Rasen hinter dem Haus auf. Karen schaut weiter hinaus und versucht verzweifelt, sich zu erinnern. Sie hat das Gefühl, ihr Leben hängt davon ab.