Kapitel 1

 

Jemand schrie … Sie hasste das Geräusch, verabscheute diese Falle aus sonderbar veränderlichem Licht, einen Ort, an dem man sich nirgends verstecken konnte. Jenseits des Lichts lauerte die Dunkelheit … Nein! Dort durfte sie sich nicht verbergen. Dort wartete Es, suchte und schrie. Es schrie nach ihr. Weil sie etwas angestellt hatte …

Aber was? So sehr sie auch versuchte, sich daran zu erinnern – es fiel ihr nicht ein.

Das laute Schreien hinderte sie daran, einen klaren Gedanken zu fassen. Hunger nagte in ihrer Magengrube. Furcht prägte ihr Empfinden. Und hinzu kam Schmerz, ein entsetzliches Brennen, dessen Ursache sie nicht verstand. Sie krümmte sich zusammen und zog die Beine an, schlang die Arme darum und hoffte, die Schmerzen überlisten zu können, wenn sie nicht mehr atmete. Doch das half kaum etwas. Sie schmeckte Blut, ihr eigenes Blut.

Warum hörte das Schreien nicht endlich auf?

Beweg dich nicht. Bleib liegen. Und gib keinen Ton vor dir. Dann sieht und hört Es dich nicht. Dann verschwindet Es … Aber das Etwas blieb immer in der Nähe, verharrte in den Schatten, so scharf und tödlich wie eine Messerklinge.

Und plötzlich beschränkte sich Es nicht mehr darauf, nur zu warten.

Lauf! Lauf, lauf, lauf …

Und wieder der Schmerz. Viel schlimmer als die von den spitzen Steinen unter ihren nackten Füßen verursachte Pein. Kalter Schweiß strömte ihr übers Gesicht und schien den Augen eine seltsame Art von Frost zu bringen. Alles war kalt, so kalt.

Bitte, Es soll mir nicht weh tun! Bitte lass nicht zu, dass Es mich erwischt …

Sie lief durch schreckliche, helle Korridore, vorbei an gewölbten Wänden aus Felsgestein, bis schließlich das Licht verblasste und sie nichts mehr sah. Das Grauen beherrschte sie nun, und die Schmerzen spielten keine Rolle mehr: Sie lief um ihr Leben, stürmte durch eine von Schreien erfüllte Finsternis. Nicht schnell genug … Hinter ihr erklang das Geräusch von Schritten, und sie kamen näher. Plötzlich fiel ihr etwas ein, und die damit einhergehende Erkenntnis lähmte ihren Willen, schien das Herz in Eis zu verwandeln: Früher oder später würde Es sie erwischen, denn sie konnte nicht für immer fliehen – weil dieser Ort eine Falle darstellte. Weil es hier keinen Ausgang gab.

Irgendwann musste sie sterben.

 

Auf dem Planeten Thieurrull waren die Nächte kalt. Am Tag loderten zwei Sonnen am Himmel und brachten jene Lebensformen um, die nicht irgendwo Unterschlupf fanden. In gnadenloser Hitze zeichneten sich zerklüftete Berge vor einem orangefarbenen Himmel ab, und über den Ebenen flimmerte die Luft so sehr, dass sie flüssig wirkten. Zwischen Gebirge und Wüste erstreckten sich die Reste der einstigen Kolonie. Staub sammelte sich in leeren Zugängen. Das brennende Firmament schwärzte Schlackenhalden. Bohrgeräte ruhten wie seltsame Käfer in Kratern. Es stampften keine Stiefel mehr über den ausgedorrten Boden. Es ertönten keine lauten, zornigen Stimmen mehr, um den Staub zu verfluchen. Kehliges Lachen, Verwünschungen, das Lallen von Betrunkenen – dies alles gehörte der Vergangenheit an. Die Soldaten, Arbeiter und Frauen … Fort. Mit den Raumschiffen waren sie aufgebrochen, und sie hatten ihre Nahrungsmittel mitgenommen.

Sie überließen eine Welt und ihre wenigen Bewohner dem Tod.

Wenn sich Dunkelheit auf alte Stollen und Öffnungen herabsenkte, wenn der heiße Boden abkühlte … Dann krochen und glitten Geschöpfe ins Freie, um zu jagen. Wenn mehrere hungrige Mäuler bei einem Kadaver aneinandergerieten, so kam es zu einem Kampf, den nur der Stärkste überlebte. Nach dem Fressen begann wieder die Suche nach einer Zuflucht, die Schutz gewährte vor dem Tag.

Es schien unmöglich zu sein, aber irgendwie klammerte sich das Leben an Hellguard fest.

Der Planet hatte keine Monde. Des Nachts leuchteten nur die Sterne; in ihrem matten Schein verblassten die rostfarbenen und umbrabraunen Töne zu vagem Grau. Tagsüber schien der Himmel selbst in Flammen zu stehen, und das ferne Feuer der beiden Sonnen gleißte auf die Welt herab, verspottete alles Lebendige.

Weit jenseits der Kolonie, in der offenen Ebene, standen mehrere Zelte unter den Sternen. Der Wind heulte an ihnen vorbei durch die Wüste und wirbelte Staub auf, in dem Lampen einen sonderbaren Halo formten. Jene Fremden, die das Licht gebracht hatten, wussten nicht, dass es sich bei der ehemaligen Kolonie in den Augen hungriger Beobachter widerspiegelte.

 

Spock saß ein wenig abseits, bei den Schatten, die unstet an den Planen des Hauptzelts tanzten. Eine einzelne Lampe hing an der Decke, und in ihrem Schein hockten zwölf weitere Vulkanier. Draußen löste sich die Zugangsplane eines anderen Zelts, flatterte im böigen Wind hin und her. Auf der Bodenmatte lag ein Aufzeichnungsgerät, das in dieser Umgebung fehl am Platz wirkte: ein glänzendes Stück Technik, das nicht zum Schein der Lampe, den in Kutten gehüllten Gestalten und dem Heulen des Winds passte.

Spock sah, wie sein Vater den Recorder einschaltete. Zur einzigen Veränderung im ruhigen und gefassten Gesicht Sareks kam es, als ihm das Lampenlicht über die Augen strich – daraufhin schienen sie kurz aufzuflammen. Nach einigen Sekunden begann Sarek zu sprechen. Spock war dankbar für Schatten und Dunkelheit, dankbar dafür, dass er seinen Teil erledigt hatte. An diesem Abend ging es den Älteren darum, Zeugnis abzulegen von der Tragödie. Was Sareks Sohn betraf: Er war nur ein Kurier gewesen, jemand, der eine Botschaft aus dem Jenseits brachte.

Im Verlauf der letzten fünfzehn Jahre hatte Vulkans Flotte vier Schiffe verloren: die Criterion, Perceptor, Constant und Diversity. Es handelte sich um wissenschaftliche Forschungskreuzer, deren Besatzungen allein aus Vulkaniern bestanden. Sie verschwanden während ihrer Missionen, zuletzt die Diversity vor sechs Jahren. Die letzten Routineberichte kamen aus Raumbereichen unweit der Neutralen Zone, und anschließend trafen keine Kom-Signale mehr ein. Die Raumer hinterließen nicht einmal Nachrichtenbojen oder Trümmer. Man fand keine Spur. Bis vor drei Monaten.

Die Enterprise flog durch den Sektor Gamma Hydra und patrouillierte am Rand der romulanischen Neutralen Zone, als sie plötzlich einen Notruf empfing, bei dem jemand einen veralteten Code benutzte. Er stammte von einem romulanischen Frachter, der zum stellaren Territorium der Föderation floh, verfolgt von einem Kriegsschiff. Die Enterprise griff ein, flog in die Zone. Als sie bis auf Transporterreichweite herankam, eröffnete der romulanische Kreuzer das Feuer auf den Frachter. Im Transporterraum von Kirks Schiff rematerialisierte eine bewusstlose Vulkanierin, die schwere Brandverletzungen erlitten hatte. In der Krankenstation, kurz vor ihrem Tod, führte Spock eine Mentalverschmelzung herbei. Behutsam berührte er ihre Schläfen und gesellte sein Selbst dem der Sterbenden hinzu, um ihr letzten Trost zu spenden. Sein Bericht lautete später schlicht: »Keine Erklärungen.« Doch als die Enterprise eine Starbase erreichte, bat er um Sonderurlaub und kehrte nach Vulkan heim.

Dadurch vergingen Tage und Wochen. Und es verstrich noch mehr kostbare Zeit, weil der Rat von Vulkan sowohl Ermittlungen in Hinsicht auf das romulanische Reich anstellte als auch gewisse Föderationsgesetze diskutierte – Gesetze, über die sich Vulkan hinwegsetzen musste. Man entschied schließlich, die Behörden des interstellaren Völkerbunds nicht zu informieren.

Die Symmetry brach auf, und zwar unbewaffnet – typisch für ein vulkanisches Schiff. Wer die Neutrale Zone durchqueren und ins Reich fliegen wollte, brauchte nicht in erster Linie Phaserkanonen, sondern ein gutes Triebwerk. Selbst ein Raumschiff wie die Enterprise hätte gegen mehrere romulanische Kriegsschwalben keine Chance gehabt, woraus folgte: Ein einzelnes vulkanisches Schiff durfte kaum auf Rückkehr hoffen.

Doch mehr als ein Schiff kam nicht in Frage.

Diese spezielle Mission basierte auf den letzten Gedanken einer sterbenden Vulkanierin – auf Gedanken, die Spock während der Mentalverschmelzung berührt hatte, die im Rat zu Erschütterung und Betroffenheit führten. Auf einer abgelegenen Welt namens Hellguard – der fünfte Planet im Sonnensystem 872 Trianguli – gab es vulkanische Kinder. Und ihnen drohte der Tod in einer wahren Hölle.

»… fehlen Hinweise auf die Forschungsschiffe und ihre Besatzungen«, sagte Sarek gerade. Er sprach fürs Audio-Protokoll. »Fünfhundertsechsundfünfzig Bürger von Vulkan – unsere Schwestern und Brüder, unsere Töchter und Söhne – sind verloren. Wenn sie noch leben …« Dreizehn Selbstsphären hofften das Gegenteil, um der Betroffenen willen. »Wenn sie noch leben, so können wir ihnen nicht helfen. Ich nenne nun ihre Namen, um ihrer zu gedenken …«

Die Romulaner stritten natürlich alles ab. Nein, sie wussten nichts von irgendwelchen vulkanischen Schiffen. Warum erhob Vulkan in dieser Hinsicht überhaupt Vorwürfe gegen sie? Kinder? Wie sollte es dort Kinder geben? Das war eine biologische Absurdität. Nun, die Schiffe mochten verschollen sein, aber bestimmt nicht im Reich … Und überhaupt: Konnten die Vulkanier etwas beweisen?

Jetzt gab es Beweise – konkrete, lebende Beweise. Und von jetzt an wollten die Vulkanier das Geheimnis zumindest untereinander preisgeben. Sarek nannte die letzten Namen, während das Lampenlicht flackerte. Wieder huschten Schatten über die Planen, und im Innern des Zelts schien die stille Luft ein Gewicht zu haben, das schwer auf den Schultern der Anwesenden lastete. Die Leuchtdioden des Recorders blinkten.

»Das Alter der letzten Bewohner reicht von etwa fünf bis vierzehn Jahren. Biosondierungen bestätigen unsere Annahmen: Es sind tatsächlich Vulkanier.« Sarek unterbrach die Aufzeichnung und senkte kummervoll den Kopf; die anderen folgten seinem Beispiel. Er brauchte nicht extra zu erwähnen, was jeder Vulkanier wusste. Es waren keine Zeugen notwendig, um die Ereignisse zu rekonstruieren. Die Existenz der verhungernden Kinder genügte, um eine Vermutung in unleugbare, entsetzliche Wahrheit zu verwandeln.

Vulkanische Männer und Frauen unterliegen biologischen Phasen, die ebenso erbarmungslos sind wie das heiße Ödland ihrer Heimatwelt. Normalerweise bleibt die geschlechtliche Vereinigung dem freien Willen überlassen, doch alle sieben Jahre geht es dabei um Leben und Tod. Dann beginnt das Pon Farr, das ewige Paradoxon der vulkanischen Natur – eine Zeit des Schmerzes und der Unlogik. Wenn sie näher rückt, wagt es kein Vulkanier, den Planeten zu verlassen und mit Forschungsmissionen im All zu beginnen. Vulkanier suchen ihre Geschlechtspartner nie weit von der Heimat entfernt. Und es käme ihnen nie in den Sinn, Romulaner zu wählen. Auf dem fernen Planeten Hellguard waren Biostrukturen modifiziert und vulkanische Seelen gepeinigt worden.

Jemand hatte den zentralen Kern des vulkanischen Wesens verletzt und Vulkanier vergewaltigt.

Sarek hob den Kopf und reaktivierte den Recorder. Das Brennen in seinen Augen ging nicht nur auf Reflexionen des Lampenlichts zurück. Seine Stimme tönte wie das Läuten einer Sterbeglocke durchs Zelt, und gleichzeitig erinnerte sie an fernes, unheilverkündendes Donnergrollen. »Damit beende ich die Schilderung der Tatsachen. Salok wird nun von den Überlebenden und den notwendigen Maßnahmen sprechen.«

Der Heiler Salok war selbst nach vulkanischen Begriffen alt und verfügte über eine einzigartige Fähigkeit: Er konnte ausgezeichnet mit Kindern umgehen. Wenn Salok ihnen sagte, dass sie keine Angst zu haben brauchten, so fürchteten sie sich nicht. Wenn Salok sagte, dass irgend etwas keine Schmerzen verursachte, so tat es auch nicht weh. Saloks Auskünfte wurden nie in Frage gestellt. Salok heilte und verstand. Doch an diesem Abend wirkte er verunsichert und noch älter als sonst. Seine Hände zitterten, und der Glanz in den Augen hatte sich getrübt. Er war mit Dingen konfrontiert worden, die ihn verwirrten, die sich seinem Verständnis entzogen. Zusammen mit den anderen trauerte er um die Verlorenen, doch der Schmerz in ihm galt den Gefundenen.

»Sarek hat bereits darauf hingewiesen«, sagte er. »Wir sind hier, um zu entscheiden, was in Hinsicht auf die Kinder geschehen soll. Spocks Informationen haben sich als richtig herausgestellt: Man hat sie auf diesem Planeten dem Tod überlassen. Viele von ihnen sind gestorben. Die Überlebenden verbergen sich in den Resten der ehemaligen Kolonie. Es grenzt an ein Wunder, dass überhaupt noch jemand am Leben ist. Die Unterernährung gehört zu den unmittelbaren Problemen, aber es gibt noch weitere und wichtigere. Ich denke da an den Geist der Betreffenden, an Verwilderung und Unwissenheit. Allem Anschein nach gibt es hier kein Wertsystem. Es fehlt sogar ein primitiver Sittenkodex. Es wird ohne zu zögern getötet – der geringste Anlass genügt. Die Kinder bringen sich auch gegenseitig um, insbesondere die kleinen und schwachen. Die Leichen …« Salok zögerte zwei oder drei Sekunden lang. »Die Leichen werden als Nahrung verwendet.«

Bei dreizehn Augenpaaren senkten sich kurz die Lider. Vulkanier töteten nicht, um zu essen. Kannibalismus war unvorstellbar für sie.

»Diese Welt geht zugrunde«, fuhr Salok fort. »Hier können wir den Kindern nicht helfen. Ich halte die Forschungsstation von Gamma Eri für geeignet: Dort gibt es eine geschützte Umgebung, die es uns ermöglicht, die Überlebenden zu heilen und sie zu unterrichten. Ich begleite sie dorthin. Bei dieser Angelegenheit benötigen wir die Hilfe unserer besten Ärzte und Lehrer. Wenn die Kinder einigermaßen zivilisiert und zu rationalen Überlegungen fähig sind, findet eine Umsiedlung auf geeignete Welten statt. Das alles … wird viel Zeit in Anspruch nehmen.« Der alte Vulkanier legte eine Pause ein und seufzte erschöpft. Die Zuhörer nahmen seine Worte mit einem gelegentlichen Nicken und allgemeiner Erleichterung zur Kenntnis. »Geduld ist erforderlich. Nun, morgen kehrt das Schiff zurück. Bei Tagesanbruch sollten wir damit beginnen, die Kinder …«

»Ich bitte um Verzeihung.« Spock erhob sich und legte die Hände auf den Rücken. »Ich sehe mich außerstande, die gerade dargelegte Ansicht zu teilen.«

Die Älteren drehten sich zu ihm um. Spock spürte Missbilligung angesichts seiner Unverschämtheit, aber daran konnte er leider nichts ändern. Er holte tief Luft.

»Eines Tages möchten die Überlebenden von ihrem Ursprung erfahren und Aufschluss erhalten über die eigene Identität, über ihren Platz im Universum. Gamma Eri ist eine orbitale Forschungsstation und keine Welt, keine Heimat …«

»Wir retten die Kinder, Spock!« Das Donnergrollen in Sareks Stimme kam jetzt nicht mehr aus weiter Ferne. »Wir versuchen, ihr Selbst auf den rechten Weg zu geleiten. Was schlägst du außerdem vor?«

»Die Überlebenden verdienen es, wie Kinder unseres Volkes behandelt zu werden«, erwiderte Spock ruhig. »Denn das sind sie auch. Uns bleibt nichts anderes übrig, als sie fortzubringen von der Welt ihrer Geburt. Aber ihnen als neue ›Heimat‹ eine Raumstation anzubieten, damit sie dort die vulkanische Kultur kennenlernen, und sie anschließend ›umzusiedeln‹ … Wollen wir auf diese Weise unsere Schuld jenen gegenüber begleichen, deren Namen vorhin genannt wurden? Wir sprechen hier von ihren Kindern – sie verdienen eine wahre Heimat.«

Sareks Gesicht kam einer steinernen Maske gleich. Die anderen wandten den Blick ab, erlaubten es dem Vater, fast privat mit dem eigensinnigen Sohn zu sprechen, der sich so falsch verhielt. »Die Kinder sind das Produkt von Nötigung, Spock«, sagte Sarek. »Sie erinnern daran, dass die vulkanische Natur zerrissen, beschmutzt und entehrt wurde. Die Verlorenen mussten sich Gewalt beugen. Sie bekamen nicht die Möglichkeit, ihr Schicksal selbst zu wählen.«

»Das gilt auch für die Kinder.« Spock sah Sarek an, und sein Blick reichte über die Kluft eines ganzen Lebens hinweg. »Die Geburt gab ihnen das Recht auf unsere Welt. Ihnen gebührt es zu entscheiden, welche und wie viele Aspekte der vulkanischen Kultur sie für sich in Anspruch nehmen wollen.«

»Ich bitte Sie, Spock«, warf Salok ein. »Wir wollen den Kindern helfen, und wir werden es auch. Wir geben ihnen nicht die Schuld für das, was sie sind, aber ebenso wenig dürfen wir ihren Ursprung einfach vergessen. Die Anpassung an das Leben auf Vulkan wäre sehr schmerzhaft und problematisch – nicht nur für sie, sondern auch für uns. Unsere Hilfe muss so beschaffen sein, dass sie möglichst vielen möglichst großen Nutzen bringt.«

»Entschuldigung, Salok, aber diese Gleichung ist falsch strukturiert, wenn die Variable ›möglichst großer Nutzen‹ mit ›Vermeidung von Schwierigkeiten‹ gleichgesetzt wird. So etwas ginge auf Kosten gerade der Personen, die unsere Hilfe brauchen. Wir ehren das Prinzip der Mannigfaltigkeit in unendlicher Kombination. Wollen wir uns nun davon abwenden, nur weil es uns plötzlich nicht mehr gefällt?«

»Wir haben es kaum nötig, von dir an unsere Prinzipien erinnert zu werden!« Sareks Stimme schnitt scharf wie ein Messer durch die von Unbehagen geprägte Stille. »Was die Kinder betrifft, steht dir keine Entscheidung zu. Dein … Dissens … wird hiermit zur Kenntnis genommen.«

Spock bedauerte, dass ihm die Umstände keine Wahl ließen. Deutlich spürte er die Kühle der anderen Vulkanier, als er sagte: »Ich möchte darauf hinweisen, dass der Föderationsrat die gleichen Einwände erheben würde wie ich. Umsiedlungen fallen in den Zuständigkeitsbereich der Föderation, und die interstellaren Gesetze verlangen eine Unterbringung auf der Heimatwelt.«

Diese Worte grenzten an Erpressung. Die Älteren starrten Spock fassungslos an. Sarek schloss beschämt die Augen.

»Sie wären bereit, Außenweltlern von dieser Sache zu berichten?« Der Philosoph und Arzt S'tvan stand auf. Ein leichtes Vibrieren in seiner Stimme wies darauf hin, dass er Mühe hatte, sich zu beherrschen. Seine einzige Tochter und der jüngste Sohn waren Besatzungsmitglieder der Constant gewesen. »Sie drohen uns mit Enthüllung? Mit öffentlicher Demütigung? Wie können Sie es wagen! Dies ist keine Föderationsangelegenheit, sondern ein vulkanisches Problem! Wir kümmern uns um die Mischlinge, auf unsere eigene Art und Weise.«

Spock ging nicht direkt darauf ein. »Ich bin Starfleet-Offizier, S'tvan. Mit einem Eid habe ich mich verpflichtet, die Föderationsgesetze zu hüten – Gesetze, an deren Gestaltung Vulkan maßgeblich beteiligt war. Unsere Anwesenheit an diesem Ort verletzt das Abkommen in Hinsicht auf die Neutrale Zone. Eine Entdeckung durch die Romulaner würde ›nur‹ bedeuten, dass ein weiteres vulkanisches Schiff verlorengeht – und dass wir sterben. Wir provozieren keinen Krieg; deshalb ist meine Teilnahme an der gegenwärtigen Mission – und mein Schweigen – gerechtfertigt. Doch jetzt geht es um andere, um die Überlebenden. Unter den veränderten Bedingungen könnte ich nicht länger schweigen. Es geht um Kinder – um vulkanische Kinder.«

»Nein!«, entfuhr es S'tvan. »Es sind keine Vulkanier!« Er setzte sich, und nacheinander drehten die Älteren den Kopf, wandten sich demonstrativ ab. Spock glaubte, in den Augen des alten Heilers so etwas wie Respekt zu sehen, doch dann war er allein.

»Für den Rest der Beratungen ist deine Anwesenheit nicht erforderlich, Spock«, ließ sich Sarek vernehmen.

Spock nickte. Nun gut – weitere Einwände erübrigten sich ohnehin. Er griff nach seinem Tricorder und schritt durchs Zelt. Als er die Zugangsplane löste, hörte er noch einmal die Stimme seines Vaters.

»Wärst du tatsächlich bereit, Vulkan zu verraten?«

»Wenn ich muss.« Die Plane bewegte sich in Spocks Hand; der Wind zerrte an ihr. »Ich habe so etwas eigentlich nicht für nötig gehalten. Und ich bin auch erstaunt von dieser besonderen Schwäche Vulkans.«

»Bevor du gehst … denk an dies, Spock: Du hast nicht auf der Basis von Logik gesprochen. Vielleicht bist du selbst verraten worden, und zwar von deiner menschlichen Natur. Es geschähe nicht zum ersten Mal.«

»Mag sein, Vater. Manchmal passiert so etwas. Ich bin, was ich bin.« Spock trat nach draußen und verharrte kurz, um die Plane wieder zu befestigen, aber drinnen nahm ihm jemand die Arbeit ab.

Er verließ den Halo der Lampen und wanderte in die Ebene hinaus, so sehr in Gedanken versunken, dass er seiner Umgebung keine Beachtung schenkte. Daher merkte er nicht, dass ihm jemand durch die Dunkelheit folgte.

Die Ereignisse im Zelt bildeten keine Überraschung für ihn, und das galt auch für Sareks Hinweis auf die menschliche Seite seines Selbst. Es war nicht nötig, dass man ihn daran erinnerte.

Erst vor wenigen Monaten hatte er in der Wüste von Gol gekniet, um von allem Terranischen Abstand zu nehmen, in Frieden und Freiheit des Kolinahr ganz Vulkanier zu sein. Doch die Zeit der Wahrheit befand sich noch nicht in Reichweite. Sein Lehrer sah zu, wie er versagte. Die Antwort liegt woanders, Spock … Nicht auf Vulkan. An jenem Tag verließ er Gol mit dem Wissen, dass er nie wirklich frei sein konnte, dass es unmöglich war, gewisse Dinge hinter sich zurückzulassen.

Jetzt erstreckte sich eine andere Wüste um ihn herum. Zu den kalt funkelnden Sternen blickte er empor und wusste, dass sein Vater recht hatte: Er war tatsächlich von seiner menschlichen Hälfte verraten worden, damals ebenso wie heute. Doch diese Erkenntnis reifte nicht zum ersten Mal in ihm heran, und sie brachte keine Veränderung. Er hatte zu den Älteren gesprochen, weil in seinen Adern nicht nur vulkanisches Blut floss. Und weil er ganz genau wusste, worum es ging.

Er hatte die Gesichter der Kinder gesehen: hohlwangig, eingefallen, gezeichnet von Furcht, Elend und Schmerz. Hagere, dürre Gestalten, vom Hunger gegeißelt. Trübe Augen, die tief in den Höhlen lagen und leer wirkten, die beobachteten und darauf warteten, dass die heiße Helligkeit des Tages kühlender Finsternis wich. Halbe Kinder, halbtot, halbe Tiere – und halbe Vulkanier. Als Fremder kam Spock zu ihnen, gut genährt, nicht nur körperlich, sondern auch geistig, von Jahrtausenden der Zivilisation, von den Werten, Errungenschaften und Segnungen der vulkanischen Kultur. Allein der Ort ihrer Geburt verurteilt jene Kinder dazu, verwildert und hoffnungslos zu sein.

Nein, dachte Spock. Ich darf nicht schweigen. Ich muss meine Pflicht erfüllen. Wie dem auch sei: Hier steht nicht nur die Zukunft der Überlebenden auf dem Spiel.

Es gab Fragen, zu viele Fragen. Und er musste Antworten finden, wenn verhindert werden sollte, dass weitere Schiffe und ihre Besatzungen verschwanden. Was Vulkaniern zugestoßen war, mochte sich bei den Angehörigen anderer Völker wiederholen.

Aber was war überhaupt geschehen? Und warum?

Spock kehrte dem Wind den Rücken zu, stellte das mitgenommene Ortungs- und Analysegerät auf den Boden und schaltete es ein. Die Displays des Tricorders bestätigten zuvor ermittelte Daten: seismische Instabilität. Durch häufige Beben wurde der Bergbau zu einer sehr riskanten Angelegenheit – vielleicht eine Erklärung dafür, warum die Romulaner Hellguard aufgegeben hatten.

Warum waren sie überhaupt hierhergekommen? Und was veranlasste sie, Stollen zu graben? Bei seinen Untersuchungen hatte Spock vergeblich nach wertvollen wissenschaftlichen oder militärischen Ressourcen gesucht. Die Bodenschätze bestanden aus Hämatit, Pyrit und einigen anderen Mineralien, die woanders weitaus kostengünstiger abgebaut werden konnten. Nachforschungen in zwei Stollen blieben ohne Ergebnis, da Spock und seine Begleiter an Einstürzen umkehren mussten.

Seltsam: Irgendwo in den Bergen gab es einen isolierenden, abschirmenden Faktor, der weder die Sondierungssignale der Symmetry-Sensoren noch die der Tricorder passieren ließ. Ein natürliches Phänomen? Oder steckte etwas anderes dahinter? War vielleicht ein Kraftfeld installiert worden, um etwas Kostbares oder Wichtiges vor Entdeckung zu schützen? Einmal mehr dachte Spock über die Funktion der Stollen nach. Vielleicht hatten sie überhaupt nicht dazu gedient, etwas aus dem Gebirge herauszuholen. Vielleicht waren sie angelegt worden, um etwas in die Berge hineinzubringen und zu verstecken.

Was allerdings nicht das Verschwinden der vulkanischen Schiffe erklärte. Nun, wenn hier Antworten existierten, so ruhten sie unter jenen weit aufragenden Felsmassiven. Um nach ihnen zu suchen, musste Spock wenigstens bis zum Morgen warten.

Als er die Hand nach dem Ortungsgerät ausstreckte, spürte er ein Prickeln an der Peripherie des Bewusstseins – und im Nacken. Jähe Wachsamkeit lenkte seine Gedanken in eine neue Richtung, und er versteifte sich unwillkürlich.

Er war nicht allein. Jemand beobachtete ihn.

Äußerlich wirkte er auch weiterhin gelassen und unbesorgt, als er den Tricorder auf einen Bio-Scan umschaltete und sich dann langsam um die eigene Achse drehte. Nach etwa hundertachtzig Grad veränderten sich die Anzeigen – das Gerät registrierte die Präsenz einer Lebensform. Art: klein, vulkanoid. Entfernung: 30,2 Meter – zwischen Spock und dem Lager. Er starrte in die stürmische Dunkelheit, sah niemanden und setzte den Scan fort, während er konzentriert überlegte. Er nahm keine Gefahr wahr, keine feindliche Absicht, nur die Nähe eines anderen Selbst. Wer auch immer sich in der Finsternis verbarg – er schien sich zunächst mit der Rolle des Beobachters zu begnügen. Spock beschloss, sich daran ein Beispiel zu nehmen. Er streifte den Trageriemen des Tricorders über die Schulter und ging weiter, ohne noch einmal einen Blick in die Richtung zu werfen, aus der er kam. Er wusste, dass ihn der Unbekannte verfolgte.

 

Vor langer Zeit war es an dieser Stelle zu einem Felssturz gekommen: Das Geröll schuf eine natürliche Barriere, trennte die Kolonie von der Ebene. Spock hätte ihr ausweichen sollen, denn sie bot weder neue Informationen noch eine Abkürzung, endete in einer Sackgasse. Dort machte er kehrt, schritt an Felsblöcken entlang, bis er weiter vorn wieder offenes Gelände sah. Er seufzte und beschloss, den längeren Weg zu …

Es geschah so plötzlich, dass Spock nicht rechtzeitig reagieren konnte. Der Angreifer sprang von den Felsen herab und warf den Vulkanier zu Boden. Spocks Kopf stieß mit einem dumpfen Pochen auf harten Boden, und eine andere Art von Dunkelheit wogte heran. Er versuchte, bei Bewusstsein zu bleiben, stellte fest, dass der rechte Arm unterm Rücken eingeklemmt war, während der linke gegen einen Felsen prallte. Mattes Sternenschimmern glitt über ein krummes, scharfkantiges Metallstück, das man ihm an die Kehle presste.

Ein fratzenhaftes Gesicht mit gefletschten Zähnen schwebte über dem Liegenden. Es gehörte einem Jungen – einem geradezu verblüffend kräftigen Jungen. Zu spät begriff Spock, die Gefahr unterschätzt zu haben. Aber er war völlig sicher gewesen …

Der Junge knurrte drohend und rammte ihm das Knie gegen die Brust.

Das Bild vor Spocks Augen verschwamm. Die linke Hand schien sehr weit entfernt zu sein, aber sie ließ sich bewegen. Wenn es ihm gelang, das Kind für ein oder zwei Sekunden abzulenken … Die Spitze des Metallstücks bohrte sich ihm dicht unterhalb des Kinns in die Haut, und Blut rann über den Hals. Er musste den Kopf völlig still halten, um zu verhindern, dass die improvisierte Klinge noch tiefer eindrang. Eine schmutzige Hand tastete nach der Rationstasche am Gürtel, riss sie los. Kurz darauf hörte Spock, wie sie zu Boden fiel – die Tasche war leer. Die grimmige Entschlossenheit im Gesicht des Knaben nahm zu, und der Vulkanier gelangte zu dem Schluss, dass ein Ablenkungsversuch keinen Sinn hatte. Dafür genügte die Zeit nicht mehr.

Plötzlich zuckte der Junge zusammen und hob ruckartig den Kopf. Sein Mund öffnete sich zu einem Schrei, der nie erklang. Das Licht des Lebens in seinen Augen verblasste, und er fiel nach hinten, blieb reglos liegen.

Spock stemmte sich hoch und kniete neben ihm, spähte in die Dunkelheit und rechnete mit einem weiteren Angriff. Nichts rührte sich in der Finsternis. Wenn der Junge allein war – was hatte ihn dann getötet? Er lag auf dem Boden, die Lippen noch immer zu einem stummen Schrei geformt. Zum Himmel starrte er empor, zu einem Firmament, das er nie wieder sehen würde. Ein Kind, ja. Spock schloss ihm sanft die Augen.

Dann bemerkte er das Messer.

Es steckte in der rechten Seite, und zwar dort, wo sich das Herz befand – wenn die Anatomie des Mischlings der vulkanischen entsprach. Jemand dort draußen wusste, wie man schnell tötete. Und er blieb auch weiterhin unsichtbar.

Spock schaltete den Tricorder aus und versuchte, dem Hämmern hinter seiner Stirn keine Beachtung zu schenken. Der geheimnisvolle Beobachter schien ihn lebend zu wollen. Oder vielleicht wartete er nur auf eine andere Gelegenheit, um ihn ebenfalls umzubringen.

Kurz darauf hörte der Vulkanier etwas: Ein Stein klickte und klackte über die Felsen hinweg, fiel zu Boden. Spock war sich des Risikos bewusst, als er Platz nahm und einfach nur stumm dasaß. Minuten verstrichen, und er wollte schon aufgeben, als er einen Schatten sah, der von einem Felsblock zum anderen huschte. Die Bewegung wiederholte sich, und schließlich gab der Schemen den Schutz der Felsen auf, löste sich aus der Finsternis und trat ins Licht der Sterne.

Ein Mädchen. Faszinierend.

Ganz offensichtlich handelte es sich auch in diesem Fall um ein Opfer des Hungers. Die Überlebende war ein wandelndes Skelett und nackt, abgesehen von einigen um die Hüften geschlungenen Stofffetzen. Alle Rippen und übrigen Knochen zeichneten sich deutlich ab, traten unter einer schmutzverkrusteten Haut hervor. Das dunkle, bis zu den Schultern reichende Haar bildete eine wirre, verfilzte Masse. An Füßen und Beinen zeigten sich viele wundgescheuerte Stellen. Zwischen den Zehen und Fingern hatte sich jede Menge Dreck angesammelt. Wachsam behielt sie Spock im Auge und achtete darauf, dass die Leiche zwischen ihnen blieb, als sie sich näherte, das Messer aus der Wunde zog und den Jungen anstieß, um ihn umzudrehen. Rasch griff sie nach der Rationstasche und durchsuchte sie. Nicht ein einziges Mal blickte sie ins Gesicht des Jungen, zog das Metallstück aus der erschlafften Hand, betastete es kurz und ließ es dann in ihrem Lendenschurz verschwinden. Anschließend hielt sie ihr Messer bereit und wandte sich dem Mann zu.

Spock saß wie erstarrt. Eine seltsame Unruhe erfasste ihn, als er die Gestalt beobachtete, und der Grund dafür war … grotesk.

Gelbe Augen glühten unter fransigem, staubigem Haar – Augen, die von Intelligenz und Neugier kündeten. Wie alt mag das Mädchen sein?, fragte sich Spock. Neun? Zehn? Und wie oft hat es getötet? Das Kind blieb außerhalb seiner Reichweite stehen, zielte mit dem Messer und sah an der Klinge entlang. Stumm musterten sie sich gegenseitig. Erneut gewann Spock einen Eindruck, der ihm völlig absurd erschien: Aus irgendeinem Grund glaubte er, die Namenlose zu kennen. Unsinn. Vermutlich lag es daran, dass er eine Gehirnerschütterung erlitten hatte. Die Gestalt kam etwas näher, und ihr Blick glitt über den Vulkanier, betrachtete alle Einzelheiten seines Erscheinungsbilds: Hände, Gesicht, Kleidung, Stiefel. Und den Tricorder.

Das Mädchen deutete mit dem Messer in die entsprechende Richtung, und Spock schob ihm das Gerät entgegen.

»Was?«, zischte die Überlebende. Enttäuscht stellte sie fest, dass der Tricorder keine Nahrung enthielt. Sie formulierte ein romulanisches Wort, und Spock antwortete in der gleichen Sprache.

»Es … sagt mir Dinge«, erwiderte er.

Das Kind riss die Augen auf, hob den Tricorder hoch und hielt ihn ans Ohr. Einige Sekunden lang lauschte es, schnitt dann eine Grimasse.

»Sag!«, befahl die Namenlose und schüttelte den Apparat. Als er auch weiterhin stumm blieb, hieb sie mit einer knochigen Faust darauf. »Dummes Mistundverflucht!«, fauchte sie und warf das Gerät dem Vulkanier zu. »Du sagst!«

»Gern. Was möchtest du wissen?«

»Sterne!« Sie zeigte zum Himmel, und Spock nahm erstaunt zur Kenntnis, dass sie dieses eine Wort auf Vulkanisch sagte. Wann – und unter welchen Umständen – hatte sie es gelernt?

»Du weißt, um was es sich handelt?« Und was weißt du sonst noch?

Der dürre Arm des Mädchens vollführte eine Geste, die dem ganzen Firmament galt. »Meine Sterne!«, stieß es hervor und richtete erneut das Messer auf Spock – er sollte nicht widersprechen.

»Ja, in der Tat.« Diese Begegnung wurde immer seltsamer. Er hielt einen Versuch für angebracht, das Mädchen zu beruhigen. »Ich will dir kein Leid zufügen. Ich gehe dorthin.« Er nickte in Richtung der Berge. »Wenn du möchtest, kannst du mich …«

Spock unterbrach sich, als er das Entsetzen in dem schmutzigen Gesicht sah. Das Kind sah kurz zu den Felsmassiven, wirbelte dann zornig herum.

»Nein!«

»Was ist los? Was hat es mit den Bergen auf …«

»Neinnein!« Die Überlebende stampfte mit den Füßen, und in ihren Augen blitzte es. Gleichzeitig schwang sie mehrmals das Messer, um ihren Standpunkt zu verdeutlichen. Sie wich zu einem großen Stein am Rand der Ebene zurück, schob das Metallfragment des Jungen darunter und setzte sich. Spock blieb im Fokus ihrer Aufmerksamkeit, als sie die leere Rationstasche hin und her drehte, ihr mit der freien Hand einige wenige Krümel entnahm.

Der Wind pfiff, und das Mädchen fröstelte.

Hinter Spocks Stirn pochte es noch immer. Einmal mehr trachtete er danach, jenen sonderbaren Eindruck zu analysieren: Das Kind blieb in eine Aura des Vertrauten gehüllt. Es erinnerte ihn an … wen? An die zur Enterprise gebeamte Vulkanierin namens T'Pren? Nun, T'Pren hatte zur Besatzung der Diversity gehört, die vor sechs Jahren verschwand. Dieses Mädchen konnte unmöglich T'Prens Tochter sein – es war älter. Spock hielt es für völlig ausgeschlossen, dass er es kannte. Und doch … Er fand keine Erklärung, spürte nur, dass die Zeit knapp wurde.

Behutsam streckte er die Beine, um sie in eine bequemere Position zu bringen. Sofort drohte wieder das Messer.

»Ich muss jetzt gehen«, sagte er und stemmte sich hoch.

»Nein!« Die Klinge sauste an Spock vorbei, verfehlte ihn nur um wenige Zentimeter und bohrte sich in eine winzige Felsspalte hinter ihm. Die Namenlose kam dem Vulkanier entgegen, zog ihre Waffe aus dem Ritz …

Und Spock begriff plötzlich, dass sie das Ziel gar nicht verfehlt hatte. Ein kleines Geschöpf zappelte an der Klinge, ein etwa acht Zentimeter langes Tier. Das Mädchen zeigte es dem Mann. »Neingehen!«, knurrte es mit Nachdruck.

Der Vulkanier erinnerte sich daran, dass er dieses Kind auf keinen Fall unterschätzen durfte – es konnte ihn mit dem Messer umbringen. Aus diesem Grund beschloss er, sich zu fügen.

Die Überlebende kehrte zu dem großen Stein zurück und zog ihre Beute von der Klinge. Die Muskeln des Tiers zuckten auch dann noch, als das Mädchen den Kopf abgeschnitten hatte und sich ihn in den Mund stopfte.

Spock sah in die Ebene und konzentrierte sich auf den Halo aus Lichtern, doch viel zu deutlich hörte er das Knirschen und Knacken, als die Namenlose kaute. Übelkeit stieg in ihm empor, und diesmal lag es nicht nur an der Gehirnerschütterung.

»Du essen«, sagte das Kind und reichte ihm das letzte Stück Fleisch. Ein kostbares Geschenk auf dieser Welt. Allerdings: Es endete in drei Klauen, und dunkles Blut tropfte von schmierigen Fingern.

»Nein«, entgegnete er und hoffte inständig, dass er nicht gezwungen wurde, die Gabe anzunehmen. »Es ist deins.«

Die Überlebende runzelte die Stirn und verschlang auch den Rest des Tiers. Blut rann ihr übers Kinn. Sie leckte es fort und auch von den Fingern, bückte sich dann und suchte auf dem Boden. Jeden einzelnen Tropfen kratzte sie zusammen mit Staub und Dreck von den Felsen, beendete damit ihre Mahlzeit. Und die ganze Zeit über klebte ihr Blick an Spock fest.

Er sah zum Himmel und versuchte, aus den Konstellationen der Sterne auf die aktuelle Zeit zu schließen. Sie leuchteten hell und kalt, während sich am Horizont des erste Glühen der Dämmerung abzeichnete. Bald begann ein neuer Tag, und das bedeutete für Spock: Es war sinnlos, den Weg zum Gebirge fortzusetzen. Er musste zurück zum Lager – die anderen Vulkanier verließen dort ihre Zelte und trafen letzte Vorbereitungen für den Aufbruch. Heute fiel die Entscheidung über Fehlschlag oder Erfolg der Mission. Heute flog das Raumschiff Symmetry durch die Neutrale Zone, und sein Warptransfer kam einem kalkulierten Risiko gleich: Er war nur geringfügig weniger gefährlich als das Verweilen im planetaren Orbit ohne Verteidigungssysteme und Tarnvorrichtung. Aber wenn es der Symmetry nicht gelang, den Patrouillenkreuzern zu entgehen … Dann saßen die Vulkanier mit den Kindern auf Hellguard fest.

Spock zuckte innerlich zusammen, als er merkte, dass sich das Mädchen bewegt hatte, ohne dabei irgendein Geräusch zu verursachen. Es stand nun direkt an jenem Felsen, auf dem er saß, sah ebenfalls zu den Sternen empor. Einige Sekunden vergingen, und dann nahm die Namenlose Platz. Sie wirkte fast andächtig, während sie das Funkeln am noch immer dunklen Himmel beobachtete, und Spock glaubte, dass er nun einer Art privaten Zeremonie beiwohnte. Das Messer baumelte vergessen in ihrer Hand.

»Sterne«, flüsterte sie, und in ihrem Gesicht zeigte sich eine Mischung aus Ehrfurcht und Hoffnung. Sie schien nach etwas Ausschau zu halten, etwas zu erwarten. Oder versuchte sie vielleicht, sich zu erinnern? An was? Woher hat sie den vulkanischen Ausdruck für »Sterne«? Warum hat sie mir das Leben gerettet? Spock besann sich auf die vulkanische Rationalität. Und warum erscheint mir dies alles so … wichtig?

»Ich gehe dorthin«, sagte er. »Um mir deine Sterne aus der Nähe anzusehen. Und du solltest mich begleiten.« Das Mädchen starrte ihn groß an, in den Augen eine stumme Frage. »Meine Gefährten und ich …«, fuhr Spock fort. »Wir sind hier, um euch Nahrung zu bringen. Und wenn ihr gegessen habt … Dann kehren wir gemeinsam zu den Sternen zurück.«

»Nein!« Die Namenlose war mit einem Satz auf den Beinen und wich fort. Sie drückte Messer und Rationstasche an sich, schüttelte furchterfüllt den Kopf. Ihr Blick galt erst Spock, dann den näher kommenden Vulkaniern und schließlich den Bergen. Sie zeigte noch einmal zu den Sternen. »Lauf!«, rief sie, hastete fort und verschwand zwischen den Felsen.

Unruhe regte sich in Spock, dehnte sich immer mehr aus. Das letzte Wort des Mädchens stammte ebenfalls aus dem Vulkanischen und bedeutete soviel wie ›fliehen‹ oder ›um sein Leben laufen‹. Spocks Bemerkungen bewirkten eine sehr seltsame emotionale Reaktion, und eins stand fest: Der Versuch, das Vertrauen der Überlebenden zu gewinnen, war ganz offensichtlich fehlgeschlagen.

Andererseits: Sie hungerte. Bestimmt kam sie zusammen mit den anderen, um zu essen. Ja. Wenn nicht … Dann zweifelte Spock nicht daran, dass ihn der Schrecken in ihrem Gesicht bis an sein Lebensende verfolgte.

Er hob die Leiche des Jungen hoch, der ihn fast umgebracht hätte, trug ihn zur Ebene. Ich lebe, weil dieser Knabe starb, weil das Mädchen aus irgendwelchen nur ihm selbst bekannten Gründen entschied, mich zu retten, dachte Spock. Er schwor den funkelnden Sternen von Hellguard, dass er sich dafür revanchieren würde, und zwar noch an diesem Tag.

Er begann damit, ein Steingrab für den toten Jungen zu errichten.

 

»Die Entscheidung ist getroffen, Spock. Möchten Sie davon erfahren?«

Eine blutrote Morgendämmerung wuchs am Horizont, vertrieb bereits die Kühle und kündigte erbarmungslose Hitze an. Der Wind hatte sich gelegt, und der Staub wurde nun von den Stiefeln der hin und her schreitenden Vulkanier aufgewirbelt. In der Mitte des Lagers erhob sich ein offener Unterstand, kaum mehr als ein auf Pfählen ruhendes, Schatten spendendes Dach. Spock öffnete Kisten mit Nahrungsmitteln. Die Rationen enthielten viel Feuchtigkeit, alle erforderlichen Nährstoffe – und auch Sedative, um die Kinder fügsam zu machen, um sie von der Furcht zu befreien und einem Schock vorzubeugen, zu dem es durch den Transport zur Symmetry kommen mochte. Falls das Schiff überhaupt eintraf.

»Ja, Salok«, antwortete Spock und warf dem alten Heiler einen dankbaren Blick zu.

»Das dachte ich mir schon. Immerhin haben Sie nicht an unseren Erörterungen teilgenommen. Ihre wissenschaftlichen Untersuchungen waren zweifellos wichtiger.«

Spock entdeckte einen Hauch Humor in Saloks Augen. Er schloss daraus, dass man der nächtlichen Konfrontation im Zelt auf typisch vulkanische Weise begegnen wollte: Sie hatte nie stattgefunden.

Jenseits der Kolonie ragte das zerklüftete Massiv auf und wirkte unheilvoll im scharlachroten Licht des Morgens. Spock dachte an verschollene Raumschiffe, an Leben und Tod, an jähes Entsetzen im schmutzigen Gesicht eines Kinds. »Die wissenschaftlichen Untersuchungen erwiesen sich als interessant, Salok.«

»Das freut mich, Spock. Waren sie auch nützlich?«

»Vielleicht nicht. Es wird sich im Lauf der Zeit herausstellen.«

»Ah, die Zeit«, murmelte der Heiler. »Sie gibt über viele Dinge Aufschluss. Nun, auch unsere Diskussionen verdienen die Bezeichnung ›interessant‹.« Der Glanz in Saloks Augen schien sich zu verstärken. »Die Älteren halten es für angebracht, die Kinder bei den Familien ihrer Verwandten auf Vulkan unterzubringen.«

Spocks Miene blieb ausdruckslos. Er achtete darauf, sich seine Genugtuung nicht anmerken zu lassen.

»Andernfalls wäre es notwendig, recht unangenehme Gespräche mit der Föderation zu führen, und dann ließe es sich kaum vermeiden, dass Außenweltler Fragen in Hinsicht auf die Zyklen unserer sexuellen Aktivität stellen – Fragen, die wir beantworten müssten. Hinzu käme unverhohlene Kritik, weil wir sowohl das Föderationsgesetz verletzt haben als auch die Vereinbarung mit dem romulanischen Reich.«

Spock kannte die Konsequenzen natürlich – diesen Erwägungen hatten seine Hinweise in der vergangenen Nacht gegolten.

»Aber die Kinder müssen einverstanden sein«, sagte Salok. »Wenn sie ihre Verwandten identifizieren und die vulkanische Staatsbürgerschaft beanspruchen wollen, so wird der notwendige Gen-Scan durchgeführt. Dieses Recht können sie jederzeit geltend machen.«

»Es sind nur Kinder, Salok. Sie …«

»Wir bleiben an unsere Gesetze und Bräuche gebunden. Und das gilt auch für die Überlebenden von Hellguard. Ihr … ungeformtes, verwildertes Wesen bereitet allen Beteiligten erhebliche Probleme. Jene Kinder, denen es an der Fähigkeit mangelt zu verstehen, bekommen Hilfe – aber nicht auf Vulkan. Eine solche Wahl können wir weder für sie selbst treffen noch für die direkt und indirekt betroffenen Personen. Sie steht den Jungen und Mädchen zu, Spock, nicht Ihnen oder mir.« Eine kurze Pause. »Wir glauben, damit eine gerechte Lösung des Problems gefunden zu haben.«

Die vulkanische Gerechtigkeit: Was gegeben wurde, musste verdient werden; und was man verdiente, wurde gegeben. Die Überlebenden mussten etwas wählen, das jedes vulkanische Kind mit der Geburt erwarb. Und vermutlich stellten sie später fest, dass es die vulkanischen Verwandten vorgezogen hätten, wenn sie nie geboren worden wären.

»Es ist notwendig, ihnen die Umstände zu erläutern, Salok.«

»Ich zweifle nicht daran, dass so etwas geschehen wird«, erwiderte der Heiler.

»Entschuldigung. Es lag mir fern, Ihre Tüchtigkeit und Sorgfalt in Frage zu stellen.«

»Das ist klug von Ihnen, Spock.« Salok faltete die dünnen Hände. »Insbesondere deshalb, weil sich jemand anders um das Erklären kümmert. Sie sprechen die ›Sprache‹ der Kinder, und deshalb kommt diese Aufgabe Ihnen zu. Auch das haben die Älteren beschlossen.«

Spock seufzte innerlich. So etwas hatte er sich nicht gewünscht. Er glaubte, kein besonders guter Pädagoge zu sein. Er wäre ohne zu zögern bereit gewesen, sein Leben für Kinder aufs Spiel zu setzen, doch in ihrer Nähe fühlte er sich oft von Unbehagen erfasst. Wie dem auch sei: In dieser besonderen Situation konnte er nicht ablehnen.

»Ich verstehe«, sagte er. »Nun gut. Ich werde versuchen, den Überlebenden alles zu erklären.«

»Ich bin nicht sicher, ob Sie wirklich verstehen, Spock.« Das Funkeln in Saloks Augen veränderte sich auf eine subtile Weise. »Jemand muss sich um die Kinder kümmern und verhindern, dass sie sich gegenseitig verletzen oder Einrichtungen des Schiffes beschädigen. Während der Heimreise dürfen sie nicht zu einem Störfaktor an Bord der Symmetry werden.«

Spock runzelte die Stirn. »Um derartigen Pflichten zu genügen, ist ständige Überwachung nötig. Meine Pflichten an Bord …«

»… sind revidiert worden.«

»Oh.« Was man verdiente, wurde gegeben. Die vulkanische Gerechtigkeit zeichnete sich durch eine gewisse Eleganz aus.

Der Flug nach Vulkan dauerte eine Weile.

»Die Kinder sind der Grund für unsere Anwesenheit auf diesem Planeten. Eine wichtige Aufgabe erwartet Sie. Und auch mich: Wir arbeiten zusammen.«

»Dann soll meine Pflicht eine Ehre sein, Salok.«

»Vielleicht wird sie das. Auch in dieser Hinsicht gibt nur die Zeit Aufschluss.«

Zwei lodernde Sonnen stiegen über den Horizont, und Suchgruppen verließen das Lager. Der alte Heiler wollte sich ihnen trotz seiner Erschöpfung anschließen.

»Äh, Salok, dort drüben wird das Gelände recht schwierig. Für die Kinder ist es sicher besser, wenn Sie hier auf sie warten.«

»An der Beschaffenheit des Geländes kann man nichts ändern – man muss sich damit abfinden. Aber um der Kinder willen bleibe ich hier. Was Ihre neuen Pflichten betrifft, Spock … Seien Sie unbesorgt. Die Alten und Jungen unterscheiden sich nicht sehr voneinander, wenn es um ›schwieriges Gelände‹ geht. Bei gewissen Dingen sind wir uns alle sehr ähnlich.« Salok konnte vieles entschärfen, sogar die vulkanische Gerechtigkeit.

Die Suchgruppen bestanden aus jeweils zwei oder drei Personen, und zu ihrer Ausrüstung gehörten Scanner und automatische Translatoren. Sie lokalisierten Verstecke, sprachen dort mit ruhigen Stimmen. Die beiden Sonnen kletterten höher, hüllten alles in glühende Hitze. Es war jetzt völlig windstill, und jeder Schritt wirbelte Staub auf. Er brannte in Augen und Hals, formte nach Schwefel stinkende Wolken, während die Vulkanier zwischen den Ruinen der Kolonie wanderten.

Bald erklang nur noch Sareks Stimme. Sie tönte durch die heiße, stauberfüllte Luft, und Translatoren übersetzten sie in die ›Sprache‹ der Kinder. Spocks Vater stellte einfache Dinge in Aussicht: Essen für alle, und zwar jeden Tag; ein Platz, wo man nicht befürchten musste, angegriffen, verletzt oder gar getötet zu werden; Schutz vor der Hitze; Kammern für ungestörten Schlaf in der Nacht.

Nacheinander kamen die Kinder aus ihren Unterschlupfen unter Schutthalden und zwischen umgestürzten Mauern. Für manche von ihnen wäre dieser Tag der letzte gewesen. Keines von ihnen wirkte gefährlich, ganz im Gegenteil. Die Vulkanier sahen dürre, abgemagerte Gestalten. Der Hunger hatte Bäuche aufgebläht; von den Sonnen verbrannte Haut spannte sich über deutlich hervortretenden Knochen. Trübe, tief in den Höhlen liegende Augen blinzelten im gnadenlosen Gleißen. Die Gesichter erschienen leer, ohne jede Hoffnung – offenbar hatten die Kinder bereits mit dem Leben abgeschlossen. Nur ihr Haar wuchs, in zerzausten, schmutzverkrusteten Mähnen. Hilflos standen sie im grellen Licht der beiden Sonnen, die meisten von ihnen furchterfüllt, einige völlig apathisch. Opfer der Romulaner waren sie, ein Vermächtnis der Brutalität und Gleichgültigkeit. Nur wenige versuchten, Widerstand zu leisten und sich zu wehren, als die Vulkanier ihnen entgegentraten, sie über den glühenden Boden trugen. Sareks Worte bedeuteten ihnen nichts – abgesehen von der versprochenen Nahrung. Aber sie hörten Wahrheit und Güte in der Stimme, und auch noch etwas anderes, das sie nicht verstanden: Von Rettung war die Rede.

Stunden vergingen. Die beide Sonnen glitten weiter über einen Himmel, der nun in Flammen zu stehen schien. Das Inferno von Hellguards Nachmittag sorgte dafür, dass selbst die an Hitze gewöhnten Vulkanier litten: Auch ihre Haut rötete sich und warf Blasen. Felsen wurden so heiß, dass man sich die Finger verbrannte, wenn man sie anfasste. Der Boden schien sich in eine gewaltige Herdplatte zu verwandeln, und der Staub wurde allgegenwärtig. Er drang in Mund und Nase, geriet immer wieder in die Augen, bildete ein Patina auf Geräten und Instrumenten. Unterdessen setzten Sarek und seine Begleiter ihre Arbeit fort, zählten die Lebenden und die Toten. Sie fanden bleiche Skelette, schon vor langer Zeit von Tieren abgenagt. Sie entdeckten Leichen: von herabfallenden Felsen zermalmte Jungen und Mädchen. Ein Knabe lag zwischen den Resten einer Mauer und hauchte sein Leben aus, während die Vulkanier versuchten, ihn aus dem Schutt zu befreien. Die Bio-Sensoren lokalisierten elf weitere Kinder, so sehr geschwächt, dass sie überhaupt nicht mehr auf ihre Umwelt reagierten.

Doch nirgends zeigte sich jenes Mädchen mit den intelligent und neugierig blickenden Augen.

Als die letzte Suchgruppe zum Lager zurückkehrte, befanden sich zweiunddreißig Überlebende unter dem Dach des Unterstands: Sie aßen, empfingen medizinische Hilfe oder dösten im Schatten. Spock ging von einem zum anderen, blickte in die Gesichter und suchte nach vertrauten Zügen.

Das Mädchen war nicht da.

Kurz darauf erklang ein neues Geräusch, das eigentlich angenehm klingen sollte: das rhythmische Zirpen eines Kommunikators.

Die Symmetrie schwenkte in den Orbit des Planeten.

»Wir haben alle Überlebenden gefunden, Spock …« Sarek hatte sich den Bericht seines Sohns geduldig angehört. Inzwischen führte man die ersten Kinder fort vom Unterstand. Der Transfer sollte hinter einigen Felsen stattfinden, um zu vermeiden, dass die übrigen Überlebenden durch den Anblick entmaterialisierender Körper in Panik gerieten. Der Vorgang nahm Zeit in Anspruch, und dafür war Spock jetzt dankbar. »Ihre Anzahl stimmt mit den Ergebnissen unserer Sondierungen überein. Liegen dir andere Daten vor?«

»Nein, Vater.« Wertvolle Sekunden verstrichen. Verzweiflungsstrategien und Logik rangen miteinander: Im Orbit bleiben und den Planeten scannen? Wegen einem Leben den Erfolg der ganzen Mission aufs Spiel setzen? Nein, so etwas kam natürlich nicht in Frage. »Trotzdem bin ich sicher, dass jemand fehlt. In der vergangenen Nacht habe ich ein Mädchen gesehen, das sich nicht unter diesen Kindern befindet.«

»Wieso blieb es unseren Sensoren und Scannern verborgen? Wie ist so etwas möglich?«

Ja, wie? Ihm durch offenes Terrain zu folgen, ohne dass er etwas merkte, ihm das Leben zu retten, ihn mit einem Messer in Schach zu halten und vulkanische Worte zu sprechen … Wie war das möglich? Spock verzichtete darauf, diese Einzelheiten zu nennen – seine Glaubwürdigkeit hätte eher darunter gelitten.

»Ich weiß es nicht, Vater«, erwiderte er. »Aber das Kind existiert. Und es stirbt, wenn wir es zurücklassen. Ich möchte niemanden zusätzlichen Risiken aussetzen, aber solange wir noch Zeit haben … Bitte erlaub mir, nach dem fehlenden Mädchen zu suchen.«

»Du bittest darum? Oder teilst du mir nur deine Absicht mit?«

»Es wäre mir lieber, mit deinem Einverständnis aufzubrechen.« Spock veränderte die Justierungen des Tricorders.

»Es ist unlogisch … ohne Hilfe zu suchen. Das sollte ein Starfleet-Offizier eigentlich wissen. Nimm dir so viele Leute, wie du brauchst.«

Aus den Augenwinkeln sah Spock eine flüchtige Bewegung, ein kurzes Huschen, das ihm eine unmissverständliche Botschaft vermittelte. »Danke, Vater, aber ich glaube, das ist jetzt nicht mehr nötig.«

Die Namenlose verharrte auf der anderen Seite des Unterstands, beobachtete aufmerksam und lauschte den Stimmen. In Ihrem Gesicht zeigte sich dabei ein Ausdruck, den Spock schon bei der ersten Begegnung gesehen hatte: Sehnsucht, vielleicht auch das Bemühen, sich an etwas zu erinnern.

Erneut bewegte sie sich. In der einen Hand hielt sie die leere Rationstasche, und damit näherte sie sich ihrem Ziel: einer nur wenige Meter entfernten offenen Nahrungskiste. Den anderen Personen fiel nichts auf. Wie stellte sie das nur an? Wie gelang es ihr, unbemerkt zu bleiben? Spock trat vorsichtig an schlafenden Kindern vorbei und ging einigen Vulkaniern aus dem Weg, die besonders schwache Überlebende trugen.

Er erreichte das Mädchen nicht rechtzeitig genug, um einen Zwischenfall zu verhindern.

Die Namenlose beugte sich über die Kiste und stopfte Nahrungspakete in die Rationstasche. S'tvan spürte eine Präsenz und drehte sich, wodurch das Mädchen erschrak. Es zuckte zusammen, und die Tasche rutschte ihr aus der Hand, fiel zu Boden.

Die Überlebende gab einen zornigen Schrei von sich und sprang in den heißen Sonnenschein, fort von S'tvan. Plötzlich hielt sie ein Messer in der Hand.

Die Klinge glänzte, bedrohte alle Anwesenden, während der Blick des Mädchens zur Rationstasche zurückkehrte. Es fragte sich vermutlich, wie es die wertvolle Nahrung bekommen konnte. Die von Brandblasen und wundgescheuerten Stellen übersäten Füße bluteten auf dem glühenden Boden, doch das Kind rührte sich nicht von der Stelle, beobachtete und plante. Locker ruhte das Messer in der Hand, bereit dazu, gestoßen oder geworfen zu werden. Weiter hinten reichte die Ebene zu den Ruinen der ehemaligen Kolonie – ein offener Fluchtweg.

»Du erhältst etwas zu essen.« S'tvan wahrte eine sichere Distanz und benutzte einen Translator. »Gib mir das Messer. Dann bekommst du Nahrung.«

Ein Fluch klang aus dem Lautsprecher des Übersetzungsgeräts.

Spock trat vor. »S'tvan, vielleicht kann ich …«

»Dieses Kind ist gefährlich. Es muss uns das Messer geben, bevor es essen darf. Jetzt sofort!«

Spock schob die Kapuze seines Umhangs zurück. Ein kurzes Aufblitzen in den Augen des Mädchens deutete darauf hin, dass es ihn wiedererkannte. Dann schnitt es eine finstere Miene, und die Haltung brachte Trotz zum Ausdruck.

»Mein Messer!«, rief die Namenlose und schloss nun beide Hände um den Griff der Klinge. Jetzt ging es nicht nur um Lebensmittel, sondern um mehr – um Ehre.

Hinter ihnen setzte sich die Evakuierung fort. Die Anzahl der Personen im Unterstand schrumpfte immer mehr.

»S'tvan, ich glaube …«

»Bitte mischen Sie sich nicht ein, Spock.« S'tvan schien Spock für jemanden zu halten, der von diesen Dingen nichts verstand. »Entweder trennt sich die Kleine von ihrem Messer, oder sie bleibt hier.«

»Sie versteht, S'tvan. Das stimmt doch, oder?«, fragte er die Namenlose.

Ihr Blick glitt kurz dorthin, wo Kinder für den Transfer hinter die Felsen geführt wurden. Einen Sekundenbruchteil später starrte sie Spock an, und in ihren Augen glomm ein stummer Vorwurf. Offenbar fühlte sie sich verraten.

»Spock, Sie …«

»Seien Sie still, S'tvan«, ertönte Saloks ruhige Stimme. »Spock weiß sicher, worauf es jetzt ankommt.«

Er wusste es nicht, und genau darin bestand das Problem. Wenn das Mädchen die Flucht ergriff … Konnte er es dann rechtzeitig einholen und überwältigen? Spock bezweifelte es.

»Wenn er versagt, ist das Kind zum Tod verurteilt«, murmelte jemand anders. »Uns bleibt keine Zeit mehr …«

Versagen? Nein, ausgeschlossen. Tief in ihm vibrierte fast so etwas wie Ärger. Durch das Publikum wurde alles noch schwerer für ihn.

»Gibt es hier irgendwelche Probleme?«

Spock hätte fast laut geseufzt. Sein Vater war ebenfalls zugegen – auch das noch.

»Ja, Sarek«, bestätigte Salok. »Spock kümmert sich darum. Ich halte ein Eingreifen nicht für erforderlich.«

Stille folgte, als die Vulkanier darauf warteten, dass Spock etwas Weises sagte, das Mädchen mit genialer Logik dazu bewegte, sich von dem Messer zu trennen. Er griff nach der Rationstasche, hob sie und näherte sich.

»Die Nahrung. Sie gehört dir. Iss.« Er warf die Tasche, und sie fiel vor dem Kind auf den Boden. Sofort bückte es sich, tastete hinein und berührte Konzentratpakete. Doch dann fiel ein Schatten des Misstrauens auf die Züge der Überlebenden. Sie sah zu den schläfrigen Kindern, musterte auch die wartenden Vulkanier. Sie nahm die Tasche und drückte sie an sich, aß jedoch nichts.

»Das Messer gehört dir ebenfalls«, fügte Spock hinzu.

Das gefiel ihr. Stolz richtete sie sich auf und neigte ruckartig den Kopf nach unten. Staub löste sich aus ihrem Haar und bildete eine dichte Wolke.

»Nein, Spock! Sie darf das Messer nicht …«

»Seien Sie still, Sarek …«

»Es gibt eine Möglichkeit.« Spock senkte die Stimme und trat noch einen Schritt näher. Er öffnete die Tasche seines Umhangs so, dass nur die Namenlose es sah. »Wir können dein Messer hier drin verstecken.« Und als das Mädchen einmal mehr zu den Vulkaniern sah: »Sie erfahren nichts davon, weil wir darüber schweigen.«

Das Mädchen kniff die Augen zusammen, und ein seltsames Licht zeigte sich nun in den Pupillen – ganz offensichtlich übte das Geheime einen erheblichen Reiz aus. Doch es hing auch an dem Messer. Wie zärtlich strichen seine Finger übers rissige Heft.

»Mein Messer«, flüsterte es verzweifelt, und Tränen schimmerten nun in den Augen. Die Lippen zitterten erst, wurden dann zusammengepresst und bildeten eine dünne Linie. Spock nickte. Er wusste, um was er bat. Die Namenlose hatte nur zwei Dinge: das Messer und ihren Stolz. Und sie lief nun Gefahr, beides zu verlieren. Aber sie war auch hungrig, wollte sich nicht länger fürchten und verstecken. Spock begriff, dass er sich so oder so durchsetzte; doch es kam auch darauf an, wie er den Sieg errang.

»Ich bewahre dein Messer an einem sicheren Ort für dich auf.« Einer plötzlichen Eingebung folgend nahm er den Tricorder, drückte eine Taste und ließ das Gerät am Trageriemen baumeln. »Erinnerst du dich daran?«

»Nichtmesser.«

»Es sagt dir Dinge.« Der Tricorder schwang hin und her, glänzte im Licht, wirkte jetzt viel verlockender und interessanter als während der Nacht. Die Displays und kleinen Sensorfelder funkelten wie Edelsteine; vor einem königsblauen Hintergrund wanderten Datenkolonnen geheimnisvoll über einen kleinen Schirm. Das Licht der untergehenden Sonnen strich übers Metall und gab ihm die Farbe von poliertem Gold. Der Glanz füllte Augen und Geist des Mädchens, weckte in ihm den Wunsch, das Gerät zu berühren …

Die Messerspitze neigte sich nach unten. Ein Schritt. Dann noch einer.

»Dies gehört mir«, betonte Spock. »Du kannst es für mich aufbewahren.«

Die Namenlose bot ihm heimlich das Messer an. Für einige quälende Sekunden schwebte die Klinge dicht neben der Hand. Schließlich ließ das Kind los und beobachtete, wie Spock das Messer unauffällig in der Umhangtasche verstaute. Dann nahm er den Tricorder so, dass ihn alle sehen konnten – und gab das Gerät der Namenlosen. Sie nahm es entgegen und warf den anderen triumphierende Blicke zu.

»Mein!«, verkündete es begeistert und begann damit, Tasten zu betätigen. Spock dachte kurz an die im Tricorder gespeicherten Daten. Es handelte sich um ein für den externen Einsatz bestimmtes Modell, das angeblich stoßfest war sowie besondere Komponenten zum Schutz der Speichermodule aufwies. Dies ist ein guter Test für die Widerstandsfähigkeit des Apparats, fuhr es Spock durch den Sinn. Und für meine eigene.

Die Vulkanier beobachteten das Geschehen schweigend und mit ausdruckslosen Mienen. Sie wechselten bedeutungsvolle Blicke, als sie auseinandergingen; hier und dort wurde mit missbilligendem Ernst ein Kopf geschüttelt. Spock hörte Saloks leise Stimme: »Fassen Sie sich, Sarek. Manchen Vätern fällt es schwer, sich der Erkenntnis zu stellen, dass ihre Söhne so sind wie sie selbst.«

»Komm«, sagte Spock und machte Anstalten, den anderen zu folgen.

Aus reiner Dickköpfigkeit blieb das Kind zurück und rührte sich nicht von der Stelle. Spock seufzte. Ein langer anstrengender Tag ging seinem Ende entgegen, und alles deutete auf einen sehr langen Arm der vulkanischen Gerechtigkeit hin. Sein Arm hingegen war zu kurz, um das Mädchen mit einem vulkanischen Nervengriff außer Gefecht setzen. Ein auf Betäubung justierter Phaser hätte das Problem gelöst, doch er führte keinen bei sich. Existierte eine andere Möglichkeit, Druck auszuüben? Vielleicht.

»Du hast mir gesagt, dass noch etwas anderes dir gehört«, erinnerte er das Kind. Es verstand sofort und sah zum Himmel hoch.

»Meine Sterne weg!« Die Überlebende schnaufte abfällig und schien Spocks Worte für einen dummen Trick zu halten.

»Deine Sterne sind noch immer da«, erwiderte er in einem Tonfall, der keinen Zweifel ließ. »Der Himmel ist jetzt nur zu hell, um sie zu sehen.« Er blickte nach oben und runzelte die Stirn. »Nun, im Gegensatz zu dir kenne ich mich mit den Sternen aus.« Er zuckte wie beiläufig mit den Schultern. »Was die anderen betrifft … Sie werden deine Sterne sehen. Soll ich ihnen mitteilen, dass du dich zu sehr gefürchtet hast, um uns zu begleiten?«

»Neinneinnein!«, heulte die Namenlose. Sie schüttelte die Faust, stampfte mit den Füßen und fluchte hingebungsvoll. »Mistundverflucht Dugeht stirbt in mistundverflucht Staub! Mistundverflucht Ding geht frisst dein mistundverflucht Augen!«

Auf diese Weise ging es eine Zeitlang weiter, bis dem Mädchen aufgrund seines geringen Wortschatzes keine neuen Flüche einfielen.

»Du hast also keine Angst«, stellte Spock fest. »Na schön. Dann komm mit, wenn du dir die Sterne ansehen möchtest.« Er drehte sich um und ging fort. Das Kind blieb stehen, rührte sich noch immer nicht. Spock setzte auch weiterhin einen Fuß vor den anderen.

»Mein Messer! Meine Sterne! Du Mistundverflucht …!« Dann setzte sich die Überlebende in Bewegung und folgte dem Vulkanier.

 

Die Sonnen versanken hinter den Bergen, und Schatten krochen übers Ödland. Wind und Staub verwischten die Fußspuren im Sand – bis zum nächsten Morgen blieb sicher nichts von ihnen übrig. Als Dunkelheit das Licht des Tages verdrängte, funkelten erste Sterne am Himmel und schenkte ihr mattes Schimmern einer leeren Welt.

Tief in seinem Innern grollte der Planet Hellguard im Schlaf.