Der dritte Tag nach dem Beginn des Warptransfers. Spock saß an der wissenschaftlichen Station, und die übrigen Brückenoffiziere nahmen ihre üblichen Plätze ein, während die Enterprise mit vielfacher Überlichtgeschwindigkeit durch den Weltraum raste. Sie flog ›hinter‹ der langen Reihe aus Kontrollstationen, deren Aufgabe darin bestand, die Neutrale Zone im Auge zu behalten. Es gab offene Stellen im Überwachungsnetz – Sulu bezeichnete sie als ›Schmugglerlücken‹. Ionen-Interferenzen und Kometen führten bei Sensordrohnen zu vorübergehender Ortungsblindheit, und manchmal kam es aus weniger natürlichen Gründen zu Fehlfunktionen. Die elektronischen Augen und Ohren konnten überlistet werden, und solche Möglichkeiten blieben nicht nur theoretischer Natur.
Jenseits der Substation 36 hatte der Ionensturm NZ14 monatelang gewütet, und in seinem Einflussbereich kam es zu starker Strahlung in allen Frequenzbereichen. An jener Stelle wollte die Enterprise in die Neutrale Zone vorstoßen, um den Flug an der Peripherie des romulanischen Reiches entlang nach 872 Trianguli fortzusetzen.
Spock hatte den Offizieren das Ausmaß der terranischen Krise sowie Sinn und Zweck der Mission erläutert. Alle im Kontrollraum der Enterprise anwesenden Personen waren sich darüber klar, dass die Zukunft ganzer Welten von ihnen abhing. Doch nur Spock und Saavik wussten, dass der Einsatz auf einem Traum basierte.
Die junge Frau verbrachte ihre Zeit damit, an der nächsten Station programmierte Lektionen durchzuarbeiten, fasziniert die allgemeine Routine auf der Brücke zu beobachten und über den Grund für Spocks lange, private Gespräche mit Chefingenieur Scott nachzudenken. Am vergangenen Tag hatte sie gebeten, daran teilnehmen zu dürfen. Spock wölbte nur eine Braue und wies auf einen Syntaxfehler in ihrem Aufsatz über den symbolischen Syllogismus der Poesie von T'Larn hin. Anschließend teilte er den Offizieren mit, dass sie ihre Arbeit in seiner Abwesenheit fortsetzen sollten. Der Vulkanier verlor kein weiteres Wort und ging zum Turbolift.
Unmittelbar darauf geschah etwas, das Saavik von den rätselhaften Besprechungen ablenkte.
Das Schott des Lifts öffnete sich, und ein seltsames Wesen betrat die Brücke. Die Augen leuchteten gelb, und als eine Hand zum Gruß gehoben wurde, bemerkte Saavik mit Zwischenhäuten ausgestattete Finger. Die Stimme klang gurgelnd, als spräche das Geschöpf unter Wasser.
»Hallo, Ssspock! Mir zusehen beim llleicht rrreparieren?«
»Nein, Mr. Obo. Ich muss mich um andere Dinge kümmern. Beginnen Sie ruhig mit der Arbeit.«
»In Ooordnung. Bbbis ssspäter.« Obo wandte sich den Anwesenden zu. »Hhhallo«, grüßte er und begann mit einer Tour durch den Kontrollraum. Er plauderte froh und munter, während die haarartigen Erweiterungen der dünnen und sehr flexiblen Finger und Zehen Verkleidungsplatten lösten und in die Schaltkreise von Konsolen tasteten. Manchmal nahm sich Obo mehrere Pulte gleichzeitig vor, und nach einigen Veränderungen setzte er alles in Sekundenschnelle zusammen. Die Reaktionszeit der Instrumente wurde kürzer. Das akustische Signal von Uhuras Pult klang nicht mehr wie ein Kreischen, sondern präsentierte sich nun in Form eines melodischen Läutens. Einige knappe Gesten sorgten dafür, dass Saaviks Kontursessel nicht mehr klebte – eine unangenehme Eigenschaft, die sie nie erwähnt hatte. An der wissenschaftlichen Station fand Obo keine Komponenten, die in Ordnung gebracht werden mussten. Dort verharrte er, und seine Wangen glühten rosarot, als er die Instrumente berührte. »Ssspock«, sagte er voller Respekt.
Er reparierte die Kontrollen in der Armlehne des Befehlsstands, kletterte dann in den Kommandosessel und schlief ein. Auf diese Weise fand ihn Spock, als er später zur Brücke zurückkehrte.
»Unser blinder Passagier scheint erschöpft zu sein«, sagte er leise. »Commander Uhura, bitte bringen Sie ihn zu seinem Quartier.«
Der Vulkanier nahm Platz und ignorierte die erstaunten Blicke der Offiziere.
Saaviks Gedanken kehrten in die Gegenwart zurück. Heute hatte sie jenes seltsame Wesen noch nicht gesehen, aber der Tag war jung – vielleicht hielt er einige Überraschungen bereit.
»Ich empfange Mitteilungen auf den Starfleet-Kanälen, Mr. Spock«, sagte Uhura nach einer Weile.
»Neue Informationen, Commander?«
»Ja, Sir. Alle nicht wichtigen Flüge sind aufgeschoben, und man ruft Raumschiffe zu den Basen zurück …« Uhura lauschte und runzelte die Stirn. »Offenbar wird eine Flotte zusammengestellt.«
Diese Nachricht führte zu Betroffenheit. Schlimmes kündigte sich an. Außerdem ließ sich daraus der Schluss ziehen, dass sich die Lage daheim nicht wesentlich verändert hatte. Der Captain saß noch immer im verseuchten Starfleet-Hauptquartier fest; der Erde drohte nach wie vor eine globale Katastrophe.
»Steht ein Krieg bevor?«, fragte Saavik.
»Hoffentlich nicht«, erwiderte Uhura.
»Allerdings werden entsprechende Vorbereitungen getroffen. Auf diese Weise kann Ihre Heimatwelt nicht vor dem Verderben bewahrt werden.«
»Aber vielleicht ist es möglich, anderen Planeten ein ähnliches Schicksal zu ersparen«, sagte Sulu grimmig. »Niemand will den Krieg, Saavik. Allerdings geht es hier ums Prinzip: Niemand darf ungestraft ganze Welten vernichten. Es ist wie mit der Büchse der Pandora.«
»Ein passender Vergleich«, kommentierte Spock und sah sich im Kontrollraum um. Lieutenant Harper saß an der technischen Station und war das einzige neue Mitglied der Brückencrew. McCoy hatte ihn nach der Untersuchung nicht nur für diensttauglich erklärt, sondern betont, dass er dringend Beschäftigung brauchte. Er nahm Scotts Platz ein, der unten im Maschinenraum alle Aggregate des Warptriebwerks überprüfte.
Harper blickte kurz auf – trotz der Sommersprossen wirkte er recht blass – und senkte den Kopf sofort wieder. Er gab nur selten einen Ton von sich.
»Büchse der Pandora?«, wiederholte Saavik. Sie nutzte die gute Gelegenheit, um sich den Navigationspulten zu nähern und dort die Displays zu betrachten.
»Eine alte Geschichte«, erklärte Sulu. »Eine unserer Schöpfungslegenden schildert Pandora als die erste Frau auf der Erde. Sie bekam alle Vorzüge der Götter, galt als klug und sehr schön. Aber sie erhielt auch noch etwas anderes von den Göttern: eine Büchse, die sie auf keinen Fall öffnen durfte.«
»Warum denn nicht?«, erkundigte sich Saavik. »Wenn Pandora die Büchse als Geschenk erhielt, so gehörte sie ihr. Dann hatte sie auch das Recht, sich den Inhalt anzusehen.«
»Nun, Pandora war nicht nur klug und schön, sondern auch eigensinnig und sehr, sehr neugierig. Vielleicht stellte sie sich die gleiche Frage, die Sie gerade an mich richteten. Sie öffnete die Büchse und fand darin … alle Übel der Welt: Seuchen, Verbrechen, Ungerechtigkeit und so weiter. Sie schloss das Gefäß sofort wieder, doch zu jenem Zeitpunkt enthielt es nur noch die Hoffnung. Das Unheil entkam in die Welt, und seitdem begleitet es uns.«
»Und Menschen glauben an so etwas?«, brachte Saavik verblüfft und erschrocken hervor.
»Nein, eigentlich nicht. Es ist nur eine Geschichte, ein Mythos. Doch Mythen sind Teil unseres kulturellen Erbes, und wir halten an ihnen fest, weil sie uns eine tiefere Wahrheit zeigen.«
»Wo verbirgt sich die Wahrheit in diesem Fall, Sir? Ich kann sie nirgends erkennen.«
»Nun …« Sulu fühlte sich von Unsicherheit heimgesucht. »Ich schätze, die Geschichte teilt uns mit, dass zuviel Neugier schaden kann, dass man den Göttern gehorchen sollte und …«
»Eigentlich geht es um folgendes, Saavik.« Uhura drehte den Sessel, und in ihren Augen blitzte es humorvoll. »Die Geschichte ist natürlich von Männern erfunden und weist darauf hin, dass alles Unheil in der Welt von Frauen ausgeht.«
»Von einer bestimmten Dame in Kiew, die alle meine Briefe und Kom-Botschaften ignoriert«, ließ sich Chekov vernehmen.
Gelächter folgte diesen Worten, und Saavik vermutete, dass es sich um eine Bemerkung handelte, die überhaupt keinen Bedeutungsinhalt haben sollte. Sie wandte sich wieder an Uhura.
»Das ist sicher falsch. Eine genaue Analyse der politischen Geschichte Ihrer Welt …«
»Saavik …«, sagte Spock, ohne seine Arbeit zu unterbrechen. »Menschen erachten es als unhöflich, wenn man über ihre Politik diskutiert.«
»Oh.« Enttäuschungsfalten fraßen sich in die Stirn der jungen Frau. »Ich bitte um Entschuldigung. Bitte erlauben Sie mir statt dessen einige Fragen in Hinsicht auf Ihre Götter.«
Uhura unterdrückte ein Lächeln. »Was möchten Sie wissen?«
»Warum verhielten sie sich auf eine so unmoralische Weise? Und warum gilt Neugier – bei der es sich um eine völlig normale Funktion des Intellekts handelt – als etwas Schlechtes?«
»Weil jene alten Götter keine Fragen zu hören wünschten – sie wollten Gehorsam. Außerdem dachten die Leute damals, es gäbe gewisse Dinge, über die Sterbliche besser nicht Bescheid wissen sollen. Doch Pandora erlag ihrer Neugier und trotzte damit dem Willen der Götter, die nicht nur sie bestraften, sondern alle Menschen. Allein die Hoffnung ließen sie uns – so heißt es in der Geschichte.«
»Hoffnung?« Saavik wölbte eine Braue, und wieder musste sich Uhura sehr beherrschen, um nicht zu lächeln. »Soweit ich weiß, zeichnet sich die Hoffnung durch erhebliche Unlogik aus: Man rechnet damit, dass alles gut wird, selbst wenn die Umstände auf das Gegenteil hindeuten.«
»Ja, das stimmt.« Uhura nickte und war plötzlich sehr ernst.
»Konzepte wie ›Götter‹ und ›Hoffnung‹ sind mir fremd«, gestand Saavik. Ein sonderbarer Glanz entstand in ihren Augen, und sie brachte der menschlichen Rationalität nun weitaus weniger Respekt entgegen als vorher. »Aber eins weiß ich: Wenn Unheil in Büchsen existiert, so ist es von jemandem darin untergebracht worden. Vielleicht wollte Pandora nur lernen. Warum gibt der Mythos ihr die Schuld, obgleich göttliche Heimtücke dahintersteckt?«
»Das ist eine sehr gute Frage, Saavik.« Uhura schmunzelte, und Harper bedachte sie beide mit einem Blick, in dem tiefe Dankbarkeit zum Ausdruck kam.
»Ich verstehe auch nicht, warum man an ›Götter‹ glaubt, obgleich Beweise für ihre Existenz fehlen. Wenn überlegene Wesenheiten tatsächlich Ihren Planeten schufen, so sollten sie an intellektuellen Leistungen und dem Sammeln von Wissen mehr Gefallen finden als an Verehrung und blindem Gehorsam …«
»Saavik«, warf Spock ein, während er in den Sichtschlitz des Scanners blickte. »Menschen halten es auch für unhöflich, wenn man ihre religiösen Überzeugungen kritisiert. Heute Abend beim Unterricht können wir entsprechende Themen erörtern.«
»Ja«, erwiderte Saavik, wobei in ihrer Stimme eine Mischung aus Ärger und Enttäuschung erklang. »Entschuldigung. Mit den Tabus der terranischen Kultur bin ich nicht vertraut. Ich muss lernen, sie zu erkennen und zu beachten.« Sie runzelte andeutungsweise die Stirn. »Selbst bei Vulkaniern gibt es Themen, die nicht offen diskutiert werden. In dieser Hinsicht fällt es mir schwer, Zurückhaltung zu üben. Ich stehe auf folgendem Standpunkt: Wenn etwas einen Platz in der Realität hat, so sollte es auch erlaubt sein, darüber …«
»Saavik.« Spock drehte sich um und richtete einen missbilligenden Blick auf die junge Frau. »Ihr Schirm zeigt nun die von Ihnen angeforderten Daten.«
Saavik schwieg. Ja, einige Dinge wurden nicht offen diskutiert … Sie sah Spock an, fühlte sich unehrlich und beschämt. Wortlos kehrte sie zu ihrem Platz zurück. Der Vulkanier beobachtete sie noch einige Sekunden lang, verschränkte dann die Arme, hob beide Brauen und blickte sich streng auf der Brücke um. Die Offiziere wandten sich hastig ihren Konsolen zu und versuchten, nicht zu auffällig zu lächeln.
Das noch ungewohnte Läuten des akustischen Signals erklang von der Kom-Station. Uhura lauschte kurz, hörte eine vertraute Stimme und schaltete die Lautsprecher ein.
»Warum hat mir niemand gesagt, dass sich ein Belandrid an Bord befindet?«
Harper drehte sich besorgt um.
»Gibt es irgendein Problem, Doktor?«, fragte Spock.
»Ja. Es besteht darin, dass ich hier einen Patienten habe und nicht weiß, wie ich ihn behandeln soll!«
»Mr. Harper, bitte melden Sie sich in der Krankenstation«, sagte der Vulkanier. Robert murmelte ein rasches »Danke, Sir« und eilte zum Turbolift. »Worin bestehen Mr. Obos Schwierigkeiten, Doktor?«, fuhr Spock fort.
»Obo … Nun, ich weiß es nicht! Ich glaube, Scott hat ihn ausgeschimpft …«
»… wollte ich dem kleinen Kerl doch kein Leid zufügen.« Scott wanderte in der Krankenstation unruhig auf und ab. »Aber er fummelte an meinen Maschinen herum! Wissen Sie, wir sind gerade damit beschäftigt, das Triebwerk neu zu justieren …«
»Keine Anzeichen von Verletzungen«, stellte McCoy fest und strich mit dem Medo-Tricorder über die reglose Gestalt. »Was ist passiert, Scotty? Hat das Wesen vielleicht einen elektrischen Schlag bekommen oder so?«
»Beleidigen Sie nicht meine Maschinen, Doktor! Sie versetzen niemandem einen elektrischen Schlag!«
»Obo!« Schritte näherten sich, und Harper kam herein. »Obo, ich habe dir doch gesagt … O Doktor, Commander Scott … Die Sache tut mir sehr leid.« Er blickte auf den Belandriden hinab und strich ihm über den Kopf. »Komm schon, wach auf.«
»Sie scheinen nicht sehr besorgt zu sein«, brummte der Arzt. »Geschieht so etwas oft? Fällt der kleine Bursche häufig in Ohnmacht?«
»Nein, nicht unbedingt, Sir. Äh … Obo unterscheidet sich von uns.«
»Was Sie nicht sagen!« McCoy betrachtete die Finger des Wesens. »Was ist los mit ihm?«
»Nun, wenn Commander Scott geschimpft hat …«
»Das habe ich, jawohl – weil er auf dem Dilithiumregulator hockte und …«
»… ihn reparierte, Sir. Unglücklicherweise hat Obo vergessen, vorher um Erlaubnis zu bitten.«
»Wir wissen noch nicht einmal, wo das Problem liegt – also können wir auch nichts reparieren!«, entgegnete der Chefingenieur. »Wer weiß, welcher Schaden angerichtet wurde … Die Triebwerksjustierung ist ein sehr komplexer Vorgang.«
»Pst, Scotty. Obo kommt wieder zu sich. Jagen Sie ihm keinen weiteren Schrecken ein.« McCoy schob Scott fort, und der Schotte wich mit einem entrüsteten Schnaufen zur Tür zurück.
Gelbe Punkte dehnten sich unter Obos Lidern aus und glühten. Winzige Finger zitterten. Ein Auge öffnete sich, und McCoy verglich den Vorgang mit einer Doppeltür, deren Hälften auseinanderglitten.
»Bbbobby?« Das andere Auge öffnete sich ebenfalls. »Ein gggroßer Mann hat mich angeschrien.«
»Du hast nicht um Erlaubnis gefragt«, sagte Harper fest. »Und der Mann kannte dich nicht. Er erschrak. An diese Möglichkeit hast du keinen Gedanken verschwendet, oder?«
»Nnnein, Bbbobby.« Obo ließ den Kopf hängen.
»Nun, beim nächsten Mal fragst du vorher. Obo meint es gut, Doktor, aber wenn man ihn ausschimpft …«
»Verletzte Gggefühle! Tttraurig. Ssschlimm, ssschlimm …«
»Jetzt ist es vorbei, Obo. Ich muss meine Arbeit fortsetzen. Du bleibst hier beim Doktor und bist brav, bis ich zurückkehre.«
»In Ordnung, Bbbobby.«
McCoy trat Harper in den Weg, als er die Krankenstation verlassen wollte. »Wie fühlen Sie sich?«
»Eigentlich ganz gut, danke. Es ist nur …«
»Ich weiß. Manche Dinge brauchen Zeit. Besuchen Sie mich heute Nachmittag, wenn Sie möchten.«
»Ja. Danke, Doc.« Harper winkte Obo zu. »Bis später.«
»Bbbis später, Bbbobby!«, rief der Belandrid.
»Nun, Obo, wenn Sie mir jetzt freundlicherweise Gelegenheit geben würden, Sie zu untersuchen … O nein! Bitte legen Sie das wieder hin! Es ist ein sehr teures und empfindliches Gerät.«
»Llleicht zu rrreparieren«, verkündete Obo und hob ein teilweise demontiertes Instrument. Die dünnen, mit Schwimmhäuten versehenen Finger hielten ein fächerartiges Durcheinander aus Ringen, Linsen und Schaltelementen.
»Nein! Das ist mein DNA-Analysator. Ich muss ihn der Wartungsabteilung schicken, damit er …«
Tränen glänzten in Obos Augen, und alles an ihm brachte tiefen Kummer zum Ausdruck.
»Ach, was soll's. Nehmen Sie das Ding ruhig. Hat ohnehin nie richtig funktioniert.«
Hände bewegten sich über McCoys Kopf, als er seinen kleinen Patienten wieder auf die Liege setzte.
»Schon fffertig!« Obo hielt dem Arzt das Gerät entgegen. »Habe ich eeerschreckt Sie?«, fragte er besorgt.
»Na so was!« McCoy griff nach dem fertig montierten Instrument. Die Betriebslichter leuchteten hell, ohne zu flackern. Ein Druck auf den Sensorschalter genügte, um die Linsen zu bewegen. Die Displays zeigten Daten. »Da soll mich doch … He, Scotty, sehen Sie sich das an. Es ist kaum zu glauben!«
»Aye?« Der Chefingenieur kam vorsichtig näher. »Was ist kaum zu glauben?«
»Maschinenraum an Krankenstation«, tönte es aus dem Interkom-Lautsprecher. »Doktor, wenn Sie Mr. Scott sehen, so richten Sie ihm bitte aus …«
»Aye, McInnis«, antwortete der Schotte. »Haben Sie jetzt den Schadensbericht fertig, oder brauchen Sie einen ganzen Tag dafür?«
»Oh, der Bericht ist fertig, aber er meldet keine Schäden! Die derzeitige Kapazität des Triebwerks beträgt neunundneunzig Komma zwei Prozent. Der Grund dafür ist uns ein Rätsel. Das … äh … Wesen war nur einige Minuten lang hier. Wir überprüfen die Systeme noch einmal, um festzustellen …«
»Neunundneunzig Komma zwei Prozent?« Scott starrte Obo voller Ehrfurcht an.
Die Augen des Belandriden füllten sich erneut mit Tränen. »Nicht fffertig gggeworden«, rechtfertigte er sich. »Ssschlimm, ssschlimm …«
»Lassen Sie nur, McInnis! Und von jetzt an sollten Sie auf Ihre Manieren achten! Das ›Wesen‹ hat viel mehr auf dem Kasten als Sie!« Scott unterbrach die Verbindung und schritt wie auf Zehenspitzen durchs Zimmer. »Können wir noch einmal von vorn anfangen, Mr. Obo?«, fragte er sanft und behutsam. »Ich weiß nicht, wie Sie's anstellen, aber wenn Sie sich jetzt wieder besser fühlen …«
»Kommt überhaupt nicht in Frage!« McCoy legte wie besitzergreifend den Arm um die schmalen Schultern seines Patienten. »Er bleibt hier. Sie haben ihn schon genug erschreckt …«
»Darf ich fffertig rrreparieren?«, gurgelte Obo begeistert.
»Aye, mein Junge.« Scott strahlte. »Kommen Sie mit?«
»Ooo jjja!« Das Geschöpf wandte sich an McCoy und sah ihn aus großen Augen an. »Bbbitte! Fühle mmmich wieder gggut!«
»Nun, ich kann Sie wohl kaum gegen Ihren Willen hier festhalten«, sagte Leonard widerstrebend. Er beobachtete, wie Belandrid und Chefingenieur Seite an Seite durch den Korridor gingen, dabei wie zwei gute Freunde wirkten. »Aber ich bin noch nicht fertig!«, rief er ihnen nach. »Ich erwarte Sie später zur Untersuchung, Obo – haben Sie gehört?«
Eine Art Antwort hallte durch den Korridor: »Llleicht zu rrreparieren …«
Saavik beugte sich zum Bildschirm vor und betrachtete die hässliche, wie zernarbt wirkende Oberfläche von Hellguard. So hatte sich der Planet vor sechs Jahren den Sensoren der Symmetry dargeboten. Selbst von der Umlaufbahn aus gesehen, war die Welt hässlich. Zum ersten Mal befasste sich Saavik nun mit diesen Aufzeichnungen. Bisher hatte sie darauf verzichtet, weil sie nicht an jenen Ort des Schreckens und das wilde, unwissende Geschöpf erinnert werden wollte, das sie damals gewesen war. Trockenes, ausgedörrtes Land, so weit der Blick reichte; eine tote Welt, halb verbrannt vom grellen, heißen Schein der Doppelsonne. Staub wallte, erstickte ihr neues Leben, verspottete alle ihre Erfolge. Panik griff mit kalten Klauen nach Saavik, und gleichzeitig regte sich Zorn in ihr. Sie schaltete den Schirm aus, doch seine Bilder verharrten vor dem inneren Auge, verwandelten sich in ein Phantom, das höhnisch flüsterte: Ich erringe doch noch den Sieg über dich. Sie zwang sich, ruhiger und langsamer zu atmen, hörte irgendwo im Hintergrund eine andere Stimme, die auf der Brücke erklang und keine echte Bedeutung zu haben schien.
»… Verständnis und ein wenig Gefühl, Spock – menschliches Gefühl! Mehr brauchte der kleine Kerl überhaupt nicht. Emotion – so lautete die richtige Medizin für ihn.«
»Ich bitte Sie, Doktor.« Spock saß an der wissenschaftlichen Station und schloss kurz die Augen. »Wenn ich mich nicht sehr irre, waren es Mr. Scotts Emotionen, die dem Wesen eine Ohnmacht bescherten.«
»Sie sollten die beiden jetzt sehen. Und wissen Sie, was Obo fertiggebracht hat? Sie kennen doch mein neues Mikroskop, nicht wahr? Ich meine den Apparat, der nie richtig funktionieren wollte …«
»Doktor, welchen Umständen verdanken wir Ihre Präsenz auf der Brücke? Hat Ihr Besuch einen bestimmten Grund?«
McCoy verschränkte die Arme und lächelte schief. »Zufälligerweise ja. Ein Akademiekadett namens Sahvek hat es bisher versäumt, sich für die Routineuntersuchung bei mir zu melden.«
»Saavik!« Ruckartig drehte sie den Sessel, und ihre Wangen glühten plötzlich in einem grünlichen Ton. Sie starrte den Menschen an, der mit seinem Gebaren Respektlosigkeit Mr. Spocks Autorität gegenüber zeigte – ein Umstand, der den übrigen Offizieren nicht seltsam erschien. Dadurch gewann die gegenwärtige Situation für Saavik einen sonderbaren Aspekt.
Alle sahen sie an.
»Omeingott«, hauchte McCoy. »Noch ein Spitzohr!«
»Mein Name enthält zwei A-Vokale, die wie einer ausgesprochen werden«, erklärte Saavik kühl. »In meinem Fall ist eine Untersuchung nicht nötig, da ich nie krank werde.« Sie wandte sich wieder ihrer Konsole zu.
»He, einen Moment mal!«, brummte der Arzt. »Es handelt sich um eine medizinische Anweisung, Kadett! Und außerdem befinde ich darüber, wer hier krank ist und wer nicht.«
Saavik sah zu Spock, der auf die Monitore der wissenschaftlichen Station blickte und dem Wortwechsel überhaupt keine Beachtung zu schenken schien. Sie wusste es besser – zweifellos hörte er aufmerksam zu.
Die junge Frau musterte McCoy so skeptisch wie eine nicht gekennzeichnete Untersuchungsprobe in einem Stasisgefäß. »Sie sind Arzt?«
»Ja, das bin ich. Wenn Sie gestatten: Dr. McCoy, Erster Medo-Offizier dieses Raumschiffs. Und Sie sind mein Patient. Kommen Sie mit, Fräulein.« Er vollführte eine einladende Geste in Richtung Turbolift.
Verwirrung und Unsicherheit erfassten Saavik.
»Einen Augenblick, bitte«, sagte sie, trat zu Spock und sprach leise mit ihm. In den scharfen vulkanischen Silben kam ihr Missfallen deutlich zum Ausdruck. »… die Ärzte an der Akademie. Warum muss ich mich von diesem untersuchen lassen? Ich bin nicht krank!«
»Einer der Gründe wäre offensichtlich, wenn Sie Ihre Rationalität nicht vom Emotionalen beeinträchtigen ließen: Es blieb nicht genug Zeit, um unsere medizinische Datenbank durch die Akademieaufzeichnungen zu erweitern. Dr. McCoy ist der Erste Medo-Offizier dieses Raumschiffs, und selbst ich bin ihm untergeordnet. Stellen Sie vielleicht die Weisheit der Starfleet-Vorschriften in Frage?«
»Ja! Und auch die Wahl der Ärzte!«, entfuhr es Saavik hitzig. »Gibt es noch einen anderen Grund, Mr. Spock? Eben haben Sie den Plural verwendet …«
»Der andere Grund ist dieser: Ich bitte Sie, sich Dr. McCoy zu fügen, Saavikam. Ihre Lektionen beginnen um sechzehn Uhr Bordzeit, und bei jener Gelegenheit können Sie die Existenz der dimensionalen Tangente in abstrakten und konkreten Begriffen beweisen. Bestimmt sind Ihre Ausführungen sehr interessant.«
»Ja«, erwiderte Saavik grimmig und näherte sich dem Lift wie einem Galgen. Vor der Transportkapsel verharrte sie noch einmal, drehte sich um und sah die Brückenoffiziere an. »Ich weiß unsere Diskussion über den menschlichen Glauben sehr zu schätzen«, sagte die junge Frau. »Sie waren recht informativ – zum größten Teil.« Bei den letzten Worten glitt ihr Blick kurz zu Spock.
»Keine Sorge.« McCoy lächelte. »Die Untersuchung tut überhaupt nicht weh.«
»Ich habe keine Angst vor Schmerzen, Sir. Und Sorgen sind mir fremd.«
»Das hätte ich eigentlich wissen sollen …« Die Tür des Lifts schloss sich.
»Vielleicht stimmt die alte Legende nicht.« Uhura lehnte sich in ihrem Sessel zurück. »Vielleicht blieb etwas anderes in Pandoras Büchse zurück – etwas, das wir für uns entdecken müssen. Was meinen Sie, Mr. Spock. Könnte es sich dabei um Logik handeln?«
Der Vulkanier sah ernst von den Instrumenten der wissenschaftlichen Station auf.
»Es wäre klug von Ihnen, so etwas zu hoffen, Commander«, erwiderte er würdevoll.
»Hm, und dies hier? Bereitet es Ihnen jemals Unannehmlichkeiten?«
»Nein.« Die Finger des Menschen schienen eiskalt zu sein, als er die Narbe an Saaviks Schulter betastete. Sie versuchte, nicht zusammenzuzucken oder zu schaudern, aber der Kontakt erfüllte sie mit Abscheu. Das galt auch für die eklatante Missachtung ihres Rechts auf Privatsphäre. Kinderkrankheiten? Irgendwelche Unfälle während jener Entwicklungsphase? Zu Hause alles in Ordnung? Seit mehr als einer Stunde befand sich Saavik in der Krankenstation, und der Arzt verschwendete ihre – und auch seine – Zeit mit diversen Sondierungen, völlig unnötigen Bio-Scans und albernem Geschwätz. Sie hätte am liebsten die Fäuste geballt und damit an die Wände gehämmert.
»Nichts bereitet mir irgendwelche Unannehmlichkeiten, Sir. Ihre Instrumente zeigen normale Daten an, nicht wahr?«
»Wie wär's, wenn wir ein wenig über Sie plaudern? Kennen Sie Spock schon lange?«
»Ja.« Es gefiel Saavik nicht, ausgerechnet mit dieser Person über sich selbst zu reden. Seine Stimme klang ein wenig herablassend. Er stellte dumme, irrelevante Fragen, während er ihren eigenen und viel vernünftigeren auswich. Die junge Frau befürchtete, dass sie sich zu einer sehr emotionalen Reaktion hinreißen ließ, wenn der Arzt ihre Geduld noch länger auf die Probe stellte.
»Aha. Ist er ein Verwandter von Ihnen? Oder ein Freund der Familie?«
»Nein! Ich weiß beim besten Willen nicht, was diese Dinge mit meiner Gesundheit zu tun haben, aber ich gebe Ihnen trotzdem Auskunft: Mr. Spock ist mein Lehrer. Sind Sie jetzt endlich bereit, mir die Ergebnisse der Untersuchungen mitzuteilen?«
»Nun, warum sollte ich Sie mit irgendwelchen Scan-Daten langweilen? Ihre Gesundheit ist ohnehin eine sehr viel kompliziertere Angelegenheit.« Die Lippen des Doktors formten ein törichtes Lächeln. »Ich kenne Spock schon seit einer ganzen Weile. Bestimmt ist er ein guter Lehrer, nicht wahr? Nie um eine Antwort verlegen.«
»Ja. Entweder kennt er die Antworten, oder er sucht und findet sie.«
»Und er erwartet immer das Beste von Ihnen, nicht wahr?«
»Natürlich!«
»Und für Sie ist es sehr wichtig, seinen Anforderungen gerecht zu werden, stimmt's?«, fragte der Arzt.
Saavik gewann plötzlich den Eindruck, dass eine Falle zuschnappte, dass sie mit ihren nächsten Worten entweder sich selbst oder Spock verdammte. Sie wollte diesen kalten, scheußlichen Raum verlassen, aus der Nähe des irrationalen Menschen mit den feuchten Händen und dem falschen Lächeln entkommen. Der Mann weckte Zorn in ihr.
»Warum sollte ich nicht versuchen, immer das Beste zu leisten, Doktor? Geben Sie sich keine solche Mühe?«
»Oh, ich bemühe mich. Aber niemand ist perfekt. Es kann ziemlich anstrengend sein, nie einen Fehler zu machen. Lehrer verstehen das nicht immer.«
»Ich halte es für absurd, sich dafür zu entschuldigen, Perfektion anzustreben! Für mich bleiben viele Dinge unverständlich, aber Mr. Spock versteht sie alle. Ich habe keine Probleme mit meinem Lehrer. Im Gegensatz zu einigen anderen Personen, die ich inzwischen kenne, unterlaufen ihm nie irgendwelche Fehler.«
»Ach, tatsächlich?« Es blitzte in McCoys Augen, und Saavik nahm diese Reaktion mit Zufriedenheit zur Kenntnis – sie zog es vor, Konflikte offen auszutragen. »Nun, junge Dame, vielleicht sollten Sie Spock einmal auf einen Zwischenfall ansprechen, der sich ereignete, als …« Er gestikulierte, schien damit die Worte aus der Luft radieren zu wollen. »Nein, besser nicht.« Er programmierte einen speziellen Synthetisierer, und wenige Sekunden später erschien ein kleiner, flaschenartiger Behälter mit Tabletten im Ausgabefach. »Bitte nehmen Sie drei oder vier davon, und zwar jeden Tag. Haben Sie gehört?«
»Ja, mit meinen Ohren ist alles in Ordnung. Was ist das?«
»Etwas, das Ihnen der Doktor verschrieben hat!«, erwiderte McCoy scharf. Ruhiger fügte er hinzu: »Es handelt sich um vulkanische Vitamine. Spock nimmt sie, und deshalb dürften die Tabletten auch für Sie gut sein. Was Ihr Streben nach Perfektion betrifft: Legen Sie wenigstens ab und zu eine Pause ein, um zu essen und zu schlafen.«
»Wie Sie meinen, Doktor.« Saavik erhob keine Einwände – sie wollte nicht noch mehr Zeit in der Krankenstation verbringen. McCoy brummte und ließ sie allein. Rasch streifte sie die Kleidung über, ignorierte die Tabletten und verließ den Raum so hastig, dass sie im Korridor fast gegen jemanden gestoßen wäre.
»Entschuldigung, ich … Oh, guten Tag. Mr. Harper, nicht wahr?«
»Nennen Sie mich Bobby«, erwiderte der Mann, und seine Lippen formten ein bewunderndes Lächeln. »Meine Güte, bin ich froh, mit Ihnen reden zu können!«
Saavik fragte sich kurz nach dem Grund dafür, doch dann verdrängte sie diesen Gedanken. Derzeit stand ihr nicht der Sinn nach irgendwelchen Gesprächen. Spock kam aus dem Besprechungszimmer und näherte sich – gerade mit ihm wollte sie jetzt nicht reden.
»Ich bitte um Verzeihung«, sagte sie rasch, »aber leider …«
»Sie sind der Photonentorpedo!«, entfuhr es dem Terraner. »Ich habe Sie beim Training gesehen. Sie waren Spitze!«
Zu spät. Jeder Schritt brachte Spock näher, und er hatte alles gehört.
»Was ist ›Spitze‹, Lieutenant Harper?«, fragte er.
»Oh, äh, Commander!« Der junge Mann nahm Haltung an. »Ich habe gerade gesagt, dass Kadett Saavik …«
»Vielleicht sollten wir dieses Thema bei einer anderen Gelegenheit erörtern«, warf sie verzweifelt ein.
»Dazu sehe ich keinen Grund.« Spock blieb stehen und verschränkte die Arme. »Fahren Sie fort, Lieutenant. Vielleicht stehen uns interessante neue Erkenntnisse bevor. Hat sich Kadett Saavik irgendwie ausgezeichnet?«
»Äh, ja, Sir.« Harper ahnte, dass etwas nicht mit rechten Dingen zuging, und er richtete einen entschuldigenden Blick auf Saavik, die nun die Augen schloss. »Beim Baseball, Sir.« Er konnte seine Begeisterung kaum im Zaum halten. »Wenn Saavik den Ball warf, hatten die Schlagleute überhaupt keine Chance! Ein Schlagmann nach dem anderen musste ausscheiden! Das mit dem großen Spiel ist wirklich schade – diesmal hätten die Oberfähnriche sicher verloren.«
»Ich verstehe.« Spock bedachte Saavik mit einem durchdringenden Blick.
Harper errötete unter den Sommersprossen und fühlte sich plötzlich überflüssig. »Äh, tja … ich glaube, die Pflicht ruft …« Er drehte sich um und floh. Saavik sah ihm kurz nach – auch sie hätte am liebsten die Flucht ergriffen.
»Die Alternative zu ›Photonentorpedo‹ bestand aus ›Vulkanischer Vektor‹, Mr. Spock«, rechtfertigte sie sich. »Unter solchen Umständen hielt ich es für besser …«
»Zweifellos eine kluge Entscheidung.«
Da war Saavik nicht so sicher. »Darf ich jetzt gehen?«
»Mhm«, erwiderte Spock.
Saavik interpretierte das Brummen als positive Antwort und schritt hoch erhobenen Hauptes zum Turbolift. Unterwegs fragte sie sich, ob sie diese unangenehme Angelegenheit damit überstanden hatte.
Ein missbilligendes Murmeln folgte ihr.
»Photonentorpedo … Also wirklich, Saavik …«
Die junge Frau ging weiter und sah nicht zurück.
»Also gut, Harper, Sie … Oh, Sie sind's.« McCoy runzelte die Stirn, als er Spock sah. In einem wesentlich kühleren Tonfall fuhr er fort: »Wenn Sie wegen Saavik hier sind, so kommen Sie zu spät. Könnten Sie mir vielleicht erklären, wonach ich Ausschau halten sollte?«
»Darauf habe ich bereits hingewiesen, Doktor: Es geht mir um eine Antwort auf die Frage, warum sich Saavik nicht an gewisse Ereignisse während ihrer ersten zehn Lebensjahre erinnern kann …«
»Sie war halb verhungert, Spock! Als Kind bekam sie nie genug zu essen! Sie ist noch immer ein Grenzfall in Hinsicht auf Proteinmangel – und Sie denken vor allem an ihr Gedächtnis? Na schön. Es lassen sich weder kraniale Strukturschäden noch ein Hirntrauma diagnostizieren. Zufrieden?«, fragte McCoy eisig. »Nun, könnten Sie mir vielleicht sagen, was man auf Vulkan mit kleinen Kindern anstellt?«
Spock hätte fast das Gesicht verzogen. »Was haben Ihre Untersuchungen ergeben?«
»Oh, eine ganze Menge.« Der Arzt deutete zur Darstellung eines Bildschirms. »Saavik hatte: gebrochene Rippen, eine perforierte Lunge, multiple Frakturen sowie diverse innere Verletzungen, die Narbengewebe zurückließen. Und noch etwas: Sie ist nie behandelt worden. Verdammt, Spock! Was geschah damals mit ihr?«
»Ich weiß es nicht.« Der Vulkanier wirkte wie erstarrt. »Und das gilt auch für Saavik. Aus diesem Grund habe ich Sie um Ihre Meinung gebeten.«
Wie bringt er es fertig, den Gesichtsausdruck zu verändern, ohne dabei einen einzigen Muskel zu bewegen? »Wenn sie nicht von einem fünfzig Stock hohen Gebäude gefallen ist und durch Zufall …«
»Nein.«
Meine Güte, er ist bestürzt, begriff McCoy. »Dachte ich mir schon«, brummte er. »Die Verletzungen sind anders beschaffen. Nun, ich kann nur spekulieren. Zum Glück bekomme ich es nicht sehr oft mit solchen Fällen zu tun: Saavik scheint geschlagen worden zu sein. Jemand hat sie so sehr verprügelt, dass sie fast gestorben wäre. Woraus sich die Frage ergibt: Wie konnte so etwas auf …«
»Es ist nicht auf Vulkan passiert, Doktor.« Spock sah auch weiterhin auf den Bildschirm. »Saavik stammt nicht von dort. Außerdem: Vulkanier schlagen keine Kinder.«
»Das habe ich auch nicht vermutet, Spock. Aber derartige Körperbeschädigungen … Wenn sie sich heute nicht daran erinnert, so liegt das wahrscheinlich am erlittenen Trauma – Saavik hat die betreffenden Reminiszenzen verdrängt. Vielleicht kehren die Erinnerungen irgendwann zurück. Wie dem auch sei: Sie lassen sich nicht herbeizwingen, Spock. Wenn Sie der jungen Dame gegenüber den Eindruck erwecken, es sei persönliches Versagen, die Lücken im Gedächtnis nicht schließen zu können …«
»Doktor, ich versichere Ihnen …«
»Hören Sie, Spock: Bisher haben wir von alten Wunden gesprochen, die längst verheilt sind. Weitaus mehr Sorgen machen mir jene Dinge, die Saavik heute Schmerzen bereiten.«
Der Vulkanier sah den Arzt groß an. »Saavik … leidet?«
»Ja! Die junge Frau kann ihre Pein nicht identifizieren – Sie sind sogar der Ansicht, dass so etwas überhaupt nicht existiert. Die Psycho-Sondierungen weisen auf tief verwurzelte Schuldgefühle und Furcht hin. Furcht! Angst, verdrängter Zorn, ein unterbewusstes Empfinden von Unzulänglichkeit, das den Perfektionismus erklärt. Selbsthass ist eine schreckliche Sache, Spock – und genau daran leidet Ihre Schülerin. Ich glaube, ich kenne auch den Grund.«
Spock nickte. »Diese Mission ist sehr anstrengend …«
»Ich rede von Ihnen! Saavik vergöttert Sie! Nichts lässt sie unversucht, um Ihren hohen Maßstäben zu genügen – was manchmal selbst Ihnen nicht gelingt. Sie möchten sich einem solchen Dauerstress aussetzen? Nur zu. Ich kenne Sie zu lange, um zu hoffen, dass Sie sich jemals ändern. Aber verlangen Sie so etwas nicht auch von ihr. Sie hat bereits genug hinter sich. Nun, mit entsprechenden Informationen ging sie nicht sehr großzügig um. Ganz im Gegenteil. Das Fräulein schaltete immer wieder auf stur. Erwähnte mehrmals das Recht auf Privatsphäre.« Leonard griff nach einem Fläschchen. »Diese Tabletten hätten Saaviks Proteinproblem gelöst, aber sie ließ sie hier zurück. Obwohl ich betonte, dass auch Sie das Medikament nehmen.«
»Was nicht der Wahrheit entspricht, Doktor. Ich nehme keine Proteintabletten. Haben Sie Saavik auch in Bezug auf die Medo-Sondierungen belogen oder ihr Daten vorenthalten?«
»Lieber Himmel, es war genau umgekehrt – sie wollte keine Auskunft geben! Um ganz ehrlich zu sein: Wir kamen nicht sonderlich gut miteinander zurecht. Und da wir davon sprechen, Dinge zu verschweigen: Sie haben mir noch nicht gesagt, warum das Erinnerungsvermögen Ihrer Schülerin so wichtig ist.«
»Ich werde Saavik bitten, Ihnen die Hintergründe zu schildern.«
McCoy seufzte, hob die Arme und ließ sie wieder sinken. »Nun, ich tappe im dunkeln, bis sich jemand dazu herablässt, mir Bescheid zu geben. Eigentlich geht es mir nur um folgendes, Spock: Nehmen Sie Saavik nicht zu hart ran. Sie ist ein Mädchen.«
»Damit haben Sie ihr Geschlecht richtig bestimmt.«
»Sie wissen, was ich meine! Versuchen Sie, ihr Selbstbewusstsein zu stärken, ihr eine Stütze zu sein, wenn sie stolpert. Diese Art von Hilfe braucht sie.«
»Wie wenig Sie doch von ihrem Wesen verstehen, Doktor. Saavik braucht in erster Linie die Wahrheit. Ich bestehe darauf, dass Sie ihr offen und unverblümt die Ergebnisse der Untersuchungen mitteilen. Sie spürt sofort, wenn man ihr etwas verschweigt, und darin sieht sie einen persönlichen Affront. Sie haben ihr Misstrauen geweckt, indem Sie ihr nicht alle Scan-Resultate nannten. Saavik hat ein Recht darauf, ihren eigenen Zustand genau zu kennen. Ihre Aufgabe ist es, sie zu informieren, und ich fordere Sie hiermit ausdrücklich auf, diese Pflicht wahrzunehmen.«
»Sie haben kein Herz, Spock – und Saavik muss dafür büßen. Sie wollen einfach nicht zugeben, dass Sie sich irren.«
»Und Sie weigern sich hartnäckig, über einen kulturellen Horizont zu blicken, der von den Vorurteilen Ihrer Spezies bestimmt wird, Doktor. Soweit ich weiß, ist Saavik nie in ihrem Leben ›gestolpert‹. Derartige Vorstellungen fände sie vermutlich grotesk. Ich fürchte, Ihr Mitgefühl ist bei Saavik ebenso vergeudet wie bei mir. Guten Tag, Doktor.«
»Einen Augenblick, Spock!« McCoy zeigte auf den Bildschirm. »Die chemische Zusammensetzung des Blutes behauptet, dass Saavik zur einen Hälfte Romulanerin ist. Gibt es da einen Zusammenhang mit ihrer Furcht? Weiß sie überhaupt davon?«
Spock blieb in der Tür stehen, drehte sich um und seufzte. »Natürlich weiß sie davon, Doktor. Genau darum dreht sich alles.«
Er ging und ließ einen McCoy zurück, der verblüfft den Kopf schüttelte.
»Da soll mich doch … Jetzt kommt er damit heraus.«
Saavik saß an Spocks Schreibtisch, hämmerte auf die Computertastatur ein und wirkte rebellisch. Spock hatte auf der anderen Seite des Raums Platz genommen, las in einer Zeitschrift und ignorierte die gemurmelten Flüche. Alle Hinweise darauf, dass Fluchen nur den Beweis für ein begrenztes Vokabular darstellte, waren bisher ohne Erfolg geblieben. Saavik reagierte darauf, indem sie ihren Wortschatz vergrößerte – und auch weiterhin fluchte. Sie befasste sich mit Sprachen, die Spock nicht kannte, ging dabei von der logischen Annahme aus, dass er keine Einwände gegen etwas erheben konnte, das ihm fremd war. Ihr Repertoire wurde nun immer umfangreicher und ausgefallener – was einer Sturmwarnung gleichkam.
Schließlich legte Spock das Projektionsmodul mit der elektronischen Zeitschrift beiseite und stellte sich dem Unwetter.
»Die Disharmonie des Geistes erfordert keine Übersetzungen, Saavikam. Was belastet Sie, abgesehen von der dimensionalen Tangente?«
Spocks Schülerin schnitt eine grimmige Miene. »Die Menschen.«
»Ah.«
»Sie sind ein Volk, das sich selbst Grenzen setzt, Mr. Spock! Und sie wissen es. Dauernd sagen sie: ›Ich bin nur ein Mensch‹ und ›Was erwarten Sie von mir?‹ und ›Niemand ist perfekt‹. Wie wollen sie ihre Leistungsfähigkeit verbessern, wenn sie an solchen Einstellungen festhalten? Sie verlangen so wenig von sich selbst. Das kommt ganz deutlich in ihren Worten zum Ausdruck. Wenn sich Vulkanier ›Glück und langes Leben‹ wünschen, begnügen sich Terraner mit ›Guten Tag‹.«
»Warum ärgert Sie das so sehr, Saavikam?«
»Weil … weil für die Menschen alles so einfach ist. Sie lachen und weinen und schreien vor Zorn – und anschließend bitten sie um Entschuldigung für ein Verhalten, das sie von Unbeherrschtheit bestimmen lassen. Sie glauben, dass ihre Probleme aus einer Büchse stammen – angeblich handelte es sich dabei um eine Gabe von Göttern, die ebenso heimtückisch sind wie die Romulaner. Und sie glauben, dass Hoffnung ihre Welt in Ordnung bringt. Nun, ich glaube, dass sie töricht sind … zumindest einige von ihnen … manchmal …«
»Sie verurteilen eine ganze Spezies«, entgegnete Spock. »Aber ich nehme an, Sie haben auch Ausnahmen gefunden, nicht wahr? Vielleicht möchten Sie, dass die Menschen gut von Ihnen denken. Vielleicht möchten Sie, dass auch für Sie alles … einfach ist.«
Saavik warf ihm einen finsteren Blick zu und suchte nach einer Möglichkeit, diese Hypothesen zurückzuweisen. Sie stand auf, wanderte im Zimmer umher und starrte dabei ins Leere. Schließlich blieb sie stehen und blickte auf den sitzenden Vulkanier hinab. »Ich verspüre nicht den Wunsch, die menschliche Natur zu teilen, Mr. Spock. Mein Ehrgeiz gilt vielmehr dem vulkanischen Wesen. Nun, eigentlich sind es gar nicht die Menschen, die mich beunruhigen – ich selbst bin der Grund. Dauernd versuche ich, mich zu erinnern, aber es gelingt mir einfach nicht! Die damaligen Geschehnisse bleiben mir nach wie vor unbekannt, und bald erreichen wir Hellguard …« Saavik ließ sich neben Spock in einen Sessel sinken. »Ich möchte eine richtige Vulkanierin sein, aber manchmal werde ich von Zorn heimgesucht, den ich nicht einmal erklären kann.«
»Ich glaube, Sie haben allen Grund, zornig zu sein. Ich stelle nicht Ihr Recht auf diese Emotion in Frage, vielmehr die Nützlichkeit eines solchen Gefühls. Zum Beispiel: Sie waren heute wütend auf Dr. McCoy, oder?«
»Er zeigte mir gegenüber ein sehr irrationales Verhalten!«
»Hmmm …«
»Außerdem weigerte er sich, mir die Ergebnisse der Untersuchungen mitzuteilen!«
»Und Sie haben ihm vermutlich noch weniger gesagt als er Ihnen. Nun, auch das ist Ihr Recht. Andererseits: Sie möchten sich erinnern, und der Arzt verfügt über umfangreiches medizinisches Wissen. Dadurch bot sich Ihnen zumindest eine Möglichkeit, die Sie jedoch nicht genutzt haben – was mich ein wenig überrascht. Ärger und Zorn verschieben die Perspektive, und dann kann es passieren, dass man gute Gelegenheiten übersieht.«
Die Falten verschwanden nicht aus Saaviks Stirn, als sie darüber nachdachte. Sie zog die Beine an, machte es sich im Sessel gemütlich und schwieg auch weiterhin.
»Ich träume einen anderen Traum«, sagte sie schließlich. »Aber nur, wenn ich wach bin. Bedeutet das, ich bilde mir Dinge ein?«
»Um diese Frage zu beantworten, muss ich den Traum kennen, Saavikam.«
»Es … geschieht an Bord eines Raumschiffs, das sehr schnell fliegt. Die Sterne rasen mir entgegen, und ich beobachte sie aufmerksam, bin ganz auf sie konzentriert. Mir scheint, dass es einen … Ort gibt, von dem die Sterne kommen, dass ich dorthin unterwegs bin und ihn gleichzeitig bereits erreicht habe. Ich weiß nicht, wie er aussieht, aber es gibt keinen Zweifel daran, wie es dort sein wird. Es ist ein Ort ohne Zorn, Mr. Spock. Nur Sterne existieren in jener Sphäre, und ich kenne sie. Ich gehöre zu ihnen. Wenn ich nur ganz bei ihnen sein könnte … Dann wüsste ich, was es mit dem Ort auf sich hat. Dann gäbe es überhaupt keine Rätsel mehr für mich. Dann wäre mir der Grund für meine Geburt klar. Und in dem Fall könnte ich sein, was ich wollte! Es ist ein wundervoller Ort, doch wenn ich nur ganz kurz den Blick davon abwende, so verschwindet er. Wenn das geschieht, so weiß ich, dass es ihn gar nicht gibt, dass er nur in meiner Phantasie existiert, Mr. Spock.« Saaviks Stimme klang nun traurig. »Diese Erkenntnis bedauere ich sehr. Bitte erlauben Sie mir eine Frage. Kann ich lernen, Vulkanierin zu sein – und gleichzeitig den … wachen Traum behalten? Auch wenn er der Realität widerspricht?«
»Er widerspricht ihr keineswegs«, erwiderte Spock leise. »Sie vereinen Vieles in sich, Saavikam – zweifeln Sie nie daran, dass auch das vulkanische Wesen zu Ihren Eigenschaften zählt. Jener Ort … Er befindet sich nicht irgendwo zwischen den Sternen, sondern in Ihrem Innern. Er ruht in uns allen. Sie müssen versuchen, ihn zu bewahren, ihn für sich zu erschließen. Es gelang Ihnen, einen kurzen Blick darauf zu werfen, was keineswegs ungewöhnlich ist. Aber es gibt noch mehr, viel mehr. Die Einheit von Intellekt und Seele, der Frieden reiner Logik – wir bezeichnen diesen Bewusstseinszustand als ›Zeit der Wahrheit‹. Kolinahr.«
»Soll das heißen … Kann ich lernen, mehr zu sehen? Bin ich imstande, das Kolinahr in mir zu finden?«
»Es ist ein Weg, Saavikam, ein Pfad des Lebens. Wer ihn beschreitet, muss alles hinter sich zurücklassen, alle Emotionen und Bindungen. Nur dann kann sich der Geist frei in Rationalität entfalten und die Dinge so sehen, wie sie sind – und nicht so, wie man sie sehen möchte. Nur dann erfahren wir die wahre Bedeutung unserer Existenz, unserer Geburt. Das Kolinahr ist … Erleuchtung und somit eine sehr persönliche Erfahrung.«
»Ich habe nie geahnt … Ist es noch persönlicher und privater als das Pon …«
»Ja. Wir schreiben und sprechen nicht darüber. Die Essenz solcher Erfahrungen offenbart sich jeder Person auf eine andere Weise, sagen die Meister. Diese Wahrheit kann nicht gelehrt, ihr Frieden nicht geteilt werden. Es ist unmöglich, jemanden an ihr teilhaben zu lassen. Auf individuelles Erleben kommt es an. Sie haben nun den Wunsch kennengelernt: Selbst ihn muss man für das Kolinahr aufgeben. Von allem und jedem muss man sich trennen …«
Ihre Antwort liegt woanders, Spock … Damals brachten die uralten Mauern von Gol Bitterkeit, die sich noch immer nicht ganz aufgelöst hatte.
»Aber es ist möglich?« Saaviks Augen glänzten. »Wenn ich lerne und lerne, wenn ich aufhöre, verärgert oder zornig zu sein? Kann auch ein Halbvulkanier …«
»Ich weiß es nicht, Saavikam. Einst bin ich davon überzeugt gewesen. Wenn Sie einen solchen Weg beschreiten wollen, bei den Meistern auf Vulkan … Nun, vielleicht haben Sie Erfolg. Doch mir steht diese Möglichkeit nicht mehr offen. Ich habe … versagt.«
»Aber …« Saavik blinzelte fassungslos. »Sie sind nie zornig! Ich habe Sie nie zornig gesehen! Sie blieben sogar ruhig und gelassen, als ich Ihren neuen Computer beschädigte oder Wasser auf die Speicherkristalle schüttete …«
»Sie waren ein Kind, Saavikam. Sie gaben mir nie Anlass für Zorn und Ärger. Mein Versagen …« Es fiel Spock schwer, diese Worte zu formulieren. »Mein Versagen hatte andere Gründe.«
»Aber was …« Einmal mehr runzelte Saavik die Stirn. Spock wartete auf die unvermeidliche Frage und begriff, dass er sie beantworten musste – wie?
Erstaunlicherweise gab die junge Frau ihrer Neugier diesmal nicht nach. »Ich glaube, dies ist eine durch und durch vulkanische Angelegenheit, von der ich kaum etwas verstehe.« Saavik klang plötzlich unsicher. »Trotzdem möchte ich folgendes bemerken: Vielleicht haben Sie gar nicht in dem Sinne versagt, Mr. Spock. Vielleicht brauchen Halbvulkanier nur länger, um das Ziel zu erreichen. Halten Sie das für denkbar?« Sie richtete einen erwartungsvollen Blick auf den Ersten Offizier der Enterprise.
Spock stellte verblüfft fest, dass sein Misserfolg nach dieser kurzen Erörterung weniger schwer auf ihm lastete – ein Umstand, der ihn mit Dankbarkeit erfüllte. Etwas anderes kam hinzu: Saavik hatte noch nie zuvor auf eine Frage verzichtet – sie lernte, taktvoll und freundlich zu sein.
Das Interkom summte. Spock trat zum Schreibtisch, doch bevor er das Gerät aktivierte, blickte er noch einmal zur jungen Frau im Sessel. »Vielleicht haben Sie recht, Saavikam«, sagte er.
Eine Taste klickte. »Hier Spock.«
Sulu führte das Kommando, und sein besorgtes Gesicht erschien auf dem Schirm. »Wir empfangen einen Notruf – ein Mayday-Signal. Kurs null drei acht Komma sieben. Wie reagieren wir darauf?«
»Wie viel Zeit verlieren wir, wenn der Kurs geändert wird?«
»Dann erreichen wir den Planeten ein bis anderthalb Solartage später als geplant. Vorausgesetzt natürlich, es kommt nicht zu weiteren Verzögerungen …« Sulu unterbrach sich kurz. »Uhura meldet gerade, dass es sich um einen automatischen Notruf handelt. Er wird in regelmäßigen Abständen wiederholt und verändert sich nicht, Sir.«
Was vielleicht bedeutete, dass an Bord des betreffenden Schiffes niemand mehr lebte. Wenn die Enterprise in so geringer Entfernung von der Neutralen Zone einen externen Kom-Kanal öffnete, so mochte sie sich damit den romulanischen Überwachungssonden verraten. Das musste vermieden werden. Außerdem ging es darum, möglichst schnell nach Hellguard zu gelangen – ein Umweg kostete wertvolle Zeit. Aber es gab noch andere Situationsaspekte: Vielleicht stellten sie auf dem Planeten fest, dass überhaupt kein Arsenal existierte. In dem Fall gesellte sich dem Scheitern der Mission die Erkenntnis hinzu, dass Menschen oder Angehörige anderer Völker gestorben sein mochten, weil die Enterprise das Notsignal einfach ignoriert hatte. Ein Schiff, keine zwei Flugtage entfernt, im stellaren Territorium … Die relativ hohe energetische Intensität des Notrufs ließ den Schluss zu, dass es sich um einen großen Raumer handelte. Vielleicht befanden sich Hunderte von Personen an Bord, die auf Hilfe hofften …
Spock seufzte. »Wir unterbrechen den Warptransfer, Mr. Sulu. Berechnen Sie den neuen Kurs und wahren Sie Funkstille. Ich bin unterwegs zur Brücke.« Er schaltete das Interkom aus und runzelte die Stirn. »Ein neues Problem – und nein«, fügte er hinzu, kam damit der Frage zuvor. »Sie können nicht mit mir kommen. Widmen Sie Ihre Aufmerksamkeit statt dessen der dimensionalen Tangente.«
»Ja, Mr. Spock.« Saavik begleitete ihn zur Tür. »Bitte gestatten Sie mir, noch einmal auf das vorherige Thema zurückzukommen. Das Kolinahr … Ist es schwer zu erlernen?«
»Ja.«
»Und das Wesen eines wahren Vulkaniers wird davon bestimmt?« Saavik wartete einige Sekunden lang vergeblich auf eine Antwort. »Stellt es alles dar, was ein Vulkanier sein kann?«
»Nein.« Kummer und eine alte Sehnsucht vibrierten in Spocks Stimme. »Nein, Saavikam, es ist nur der Anfang. Lernen Sie gut.«
Die junge Frau nahm wieder am Schreibtisch Platz und versuchte, sich zu konzentrieren. Nach mehreren Minuten fiel ihr etwas ein, und sie öffnete die linguistische Datenbank. Laut und deutlich sprach sie ein Wort, um anschließend die Definition auf dem Bildschirm zu lesen. KIDNAPPEN: EINE PERSON GEGEN IHREN WILLEN FORTBRINGEN. BEGRIFF WIRD HÄUFIG VERWENDET ALS SYNONYM FÜR ›ENTFÜHREN‹. BEZEICHNET EINE TÄTIGKEIT, DIE SICH HÄUFIG DURCH EIN HOHES POTENZIAL AN GEWALT AUSZEICHNET. SIEHE AUCH: VERSCHLEPPUNG, LUFTPIRATERIE, KINDESENTFÜHRUNG, MENSCHENRAUB.
Dr. McCoy hatte einen solchen Ausdruck verwendet – an den Kontext erinnerte sich Saavik nicht mehr. Die Begriffserläuterung bewies ihr die Irrationalität des Bordarztes; er schien nicht einmal die Signifikanz der von ihm selbst benutzten Worte zu kennen. Nun, dieses Phänomen traf man bei Menschen oft an. Vermutlich ein Charakteristikum der terranischen Kultur, dachte Saavik und wandte sich einer noch viel rätselhafteren Frage zu:
Warum hatte ausgerechnet Spock … versagt?
Kirk fand keine Ruhe. Er schlief nicht, döste nur, wenn ihm vor Erschöpfung die Augen zufielen. In solchen Fällen schreckte er schon nach kurzer Zeit hoch, geweckt vom gnadenlosen Schrillen einer inneren Alarmsirene. Dann hämmerte das Herz, und ein jäher Adrenalinschub ließ ihn zittern – bis ihm der Anblick von Renn und Kinski auf den Kom-Schirmen mitteilte, dass er nicht der einzige Überlebende des Planeten Erde war. Er wurde müde – so müde, dass sich am Rande seines Blickfelds Schatten in Personen verwandelten, die laut zu ihm sprachen; so müde, dass sich seine Umgebung von einem Augenblick zum nächsten in die Brücke der Enterprise verwandelte. Alles in ihm drängte danach, an die Realität solcher Trugbilder zu glauben, und er brauchte seine ganze Willenskraft, um diesen Verlockungen zu widerstehen. Jim lenkte sich ab, indem er immer wieder den Kurs ›seines‹ Schiffes berechnete, indem er durch die Korridore lief, bis er schweißgebadet war. Er durchstreifte die verschiedenen Sektionen, erforschte den Quartiersbereich, schaltete hier und dort Monitore ein, um den Spott der Stille zu verbannen. Die Zeit verstrich nur langsam im Gewölbe.
Ein Experiment nach dem anderen schlug fehl. Das Virus widerstand allen Versuchen, es zu neutralisieren oder seine molekulare Struktur zu modifizieren. Von der Erde bis hin zu Vulkan arbeitete man in Dutzenden von wissenschaftlichen Zentren an dem Problem, und der Datenaustausch erfolgte durch besonders abgeschirmte Starfleet-Kanäle. Man erörterte Theorien, bereitete neue Tests vor und schickte immer wieder ferngesteuerte Roboter durch die Flure des Hauptquartiers. Hoffnungen verbanden sich mit jeder transferierten Sauerstoffflasche – und wichen Enttäuschung, wenn sich das Ventil öffnete. Es folgten Analysen und lange Diskussionen; Renn und Kinski nutzten solche Phasen, um zu essen und zu schlafen.
Derzeit gab es einen Kom-Kontakt mit Nogura, und Renn schilderte die erfolglosen Bemühungen dieses Tages.
»… und der zweite Versuch hat ebenfalls nicht funktioniert, Admiral. Der genetische Code ist uns noch immer unbekannt. Die Vulkanier arbeiten an einer Methode fürs molekulare Gen-Spleißen, um das Virus verwundbar zu machen, aber wenn Sie Einzelheiten hören wollen, so muss ich passen – von solchen Dingen habe ich keine Ahnung.«
»Schon gut, Doktor. Sonst noch etwas?«
Renn zögerte. »Nur Spekulationen, Sir. Und zwar meine eigenen.«
»Ich würde sie gern hören«, erwiderte Nogura sanft. Kirk spürte plötzliche Zuneigung dem alten Mann gegenüber – er konnte auch Rücksicht nehmen, wenn es die Umstände verlangten: Renn versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, aber sie offenbarte dennoch eine Mischung aus Aufregung und Bestürzung.
»Es geht um das Virus, Admiral. Bisher haben wir vermutet, dass eine Art vorgesehene Schwäche existiert – oder ein Gegenmittel. Inzwischen befürchte ich, dass die Romulaner eine schlimmere Waffe geschaffen haben, als sie selbst ahnen. Wenn sich der Organismus nicht vermehren kann, wird er einfach inaktiv und hiberniert. Nichts tötet ihn, nicht einmal absolutes Vakuum. Das bedeutet: Er könnte auch außerhalb der Atmosphäre überleben, um von Raumschiffen oder dem Sonnenwind zu anderen Welten getragen zu werden. Und ich bezweifle, dass so etwas geplant war. Ich schätze, dies ist der erste planetare Einsatz des Virus. Vielleicht wollte man nur feststellen, ob es tatsächlich eine globale Katastrophe bewirkt.«
Nogura hörte aufmerksam zu. »Das sind interessante Überlegungen, Doktor. Bitte zeichnen Sie Ihre Spekulationen auf und fügen Sie sie Ihrem nächsten Bericht hinzu. Und noch etwas, Dr. Renn: Lassen Sie sich nicht entmutigen. Sie leisten sehr wichtige Arbeit.« Er wandte sich an Kirk. »Wenn Sie ein wenig Zeit für mich erübrigen könnten …« Unter den gegebenen Umständen, fand Jim, war eine solche Ausdrucksweise absurd. »Wie kommen Sie zurecht?«
»Oh, prächtig«, erwiderte Kirk trocken. »Wie steht's mit der Enterprise?«
»Morgen müssten wir von ihr hören. Vom Reich fehlt bisher jede Stellungnahme, und die Entscheidung des Föderationsrates steht noch aus. Komack hat die Delegierten informiert. Sarek spricht schon seit sechs Stunden, und ein Ende seiner Rede ist nicht in Sicht. Bis zur Abstimmung dauert es noch eine Weile, doch Sarek legt die Karten schon jetzt ganz offen auf den Tisch: Vulkan wird sich an allen Maßnahmen beteiligen, die dazu dienen, Leben zu retten, nicht jedoch an Kriegsvorbereitungen – daran hat er keinen Zweifel gelassen. Es finden heftige verbale Auseinandersetzungen statt. Zwar gewinnen wir dadurch Zeit, aber es kommt auch zu erheblichen Spannungen in der Föderation. Viele Mitgliedswelten protestieren und weisen darauf hin, dass Starfleets Pflicht darin besteht, sie zu schützen. Kaum jemand glaubt an eine wissenschaftliche Lösung.«
»Warum überlassen Sie es Komack, die Flotte zu repräsentieren? Warum sprechen Sie nicht selbst zum Rat, Heihachiro? Verstehen Sie denn nicht …«
»Sie sind hier derjenige, der nicht versteht, Jim!«, sagte Nogura scharf. »Die Delegierten haben Angst. Ich brauche den Bericht von Dr. Renn, weil im Rat gewisse Stimmen laut geworden sind: Hier und dort schlägt man vor, das Virus als Waffe weiterzuentwickeln. Alle sollten wissen, welches Ende solche Forschungen nehmen könnten.«
»So etwas … dürfen Sie auf keinen Fall zulassen!«
»Ein solcher Hinweis muss ausgerechnet von Ihnen kommen!« In Noguras Gesicht zeigte sich nun ein Ärger, den er während der vergangenen Tage unterdrückt hatte. »Sie gehen mit Ihrer beruflichen Laufbahn so um wie mit einem Spiel! Sie halten die Enterprise für Ihren persönlichen Besitz und möchten am liebsten die Zeit anhalten! Der Präsident hat mich aufgefordert, unsere besten Leute zu schicken – einer davon befindet sich nun mehr als hundert Meter unter der Erde, weil er mir einen dummen Streich spielen wollte! Als Sie den Treueid ablegten, haben Sie sich auch verpflichtet, Ihren Dienst dort zu leisten, wo Sie am meisten gebraucht werden. Ich benötige Sie hier, Jim. Und ich möchte, dass Sie endlich mal darüber nachdenken.«
»Das habe ich, verdammt!«, erwiderte Kirk verärgert. »Ich bin einfach nicht der richtige Mann für Sie. Früher oder später würde ich irgendwelchen Leuten so sehr auf den Fuß treten, dass sie die Klamotten hinschmeißen und gehen.«
»Werden Sie erwachsen, Jim.« Nogura seufzte. »Man tritt den Leuten nicht auf die Füße, sondern hält sie an einer Leine, und zwar an einer kurzen – um sie ständig unter Kontrolle zu haben.«
»Genau deshalb gehöre ich nicht in Ihr Büro! Ich mag keine Leinen! Ich bin zu meinem Schiff zurückgekehrt, weil ich ein guter Captain bin. Wenn ich jemals hier herauskomme, so versuche ich erneut, das Kommando über die Enterprise zu erhalten. Aber die Wahrscheinlichkeit dafür erscheint mir sehr gering. Vielleicht bin ich dazu verurteilt, den Rest meiner Tage hier unten zu verbringen. Vielleicht gewinnen Sie doch noch, Admiral. Zu schade, dass Sie kein Wetter sind.« Kirk wusste, dass er gereizt und müde klang; er verabscheute sich dafür.
»Sie könnten sich gar nicht mehr irren … Admiral«, sagte Nogura und unterbrach die Verbindung.
»Verdammt und verflucht!« Jims Fluch galt einem leeren Schirm. Zorn brodelte in ihm, und gleichzeitig spürte er eine seltsame Leere im Herzen. Seine Worte hallten durchs Gewölbe, und niemand hörte sie.