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sprich nicht, wenn dein mund voller lügen ist.

Diese Anmerkung in Meeting Oliver Bennett unterstrich Bea aggressiv mit hellgelbem Textmarker. Ihr Haar, schon tagelang nicht mehr gewaschen, hatte sie zu einem unordentlichen Knoten gebunden und sie saß im Schneidersitz auf der Couch. Sie trug nur einen Pulli und ein schwarzes Spitzenunterhöschen. Die letzten vier Tage hatte sie ausschließlich mit dem Versuch zugebracht, den Irrsinn zu verdauen, der ihr Leben dermaßen zunichtegemacht hatte. Als sie in jener Nacht von The Nook nach Hause gegangen war, hatte sie eine Mischung aus Schmerz, Verrat und überwältigender Enttäuschung empfunden. So muss sich Julia gefühlt haben, als Winston sie der Ratten wegen verraten hat, hatte sie voller Verbitterung gedacht und 1984 in einem ganz neuen Licht gesehen. Aber als sie an diesem Morgen, mehrere Tage später, in ihrer stillen, kalten, leeren Wohnung aufgewacht war, hatte sie ein ganz anderes Gefühl empfunden.

Gleichgültigkeit.

Sie war drüber weg. Über Cassandra. Über Zach, der ihr nur was vorgemacht hatte und in Wirklichkeit eine Art beschissener Escortservice war. Und über die Lächerlichkeit ihres eigenen Lebens und alles, was damit zusammenhing. Sie hatte es satt, wegen Menschen Tränen zu vergießen, von denen sie wusste, dass es umgekehrt wahrscheinlich nie der Fall sein würde. Bea setzte sich ein neues Ziel. Statt Trübsal zu blasen, würde sie ihre ganze Energie darauf konzentrieren, zu der einzigen Person in ihrem Leben Kontakt aufzunehmen, die sie weder verurteilt noch betrogen hatte, die sie weder in die Irre geführt noch enttäuscht hatte. Zu der einen Person, deren tiefempfundene Erkenntnisse in Beas Seele widerhallten. Zu der einzigen Person, bei der sie Trost gefunden hatte, als sie sich so ungeheuer einsam gefühlt hatte.

Sie wollte Kontakt zum echten Geheimnisvollen Autor aufnehmen.

Sie würde herausfinden, wer wirklich hinter diesen Anmerkungen steckte – und wenn es das Letzte war, was sie im Leben tat! Und sie würde ihr Ziel ohne jedes weitere Klagen, ohne Weinkrampf und Gebrüll verfolgen.

Bis drei Uhr früh hatte sie Meeting Oliver Bennett noch einmal fast komplett durchgearbeitet. Auch diesmal achtete sie nicht auf die Handlung, stattdessen hockte sie über das Buch gebeugt auf der Couch und analysierte jeden Kommentar, jede Markierung und jede Notiz mit neuem, prüfendem Blick. Sie goss sich ein weiteres Glas Wodka mit Eis ein – Wenn ich schon nicht heulen darf, kann ich wenigstens saufen, sagte sie sich – , kippte es hinunter und schmatzte genüsslich mit den Lippen.

melbourne hat mich sowieso nie leiden können.

Diesen Satz markierte sie, griff nach ihrem Notizbuch und kritzelte hinein:

Vielleicht von anderswoher?
Lebt vielleicht nicht mehr in Melbourne?

Sie seufzte, ließ die Knöchel knacken und runzelte die Stirn. Sie wollte unbedingt etwas finden, irgendetwas, das sie wegführte von ihrem Ex-Freund, dem Hochstapler. Bea drehte sich auf den Rücken und hob das Buch über den Kopf. Sie streichelte die harten Buchecken, liebkoste die abgenutzten Seiten leicht mit den Fingern und blätterte ziellos im Buch herum.

mitgefühl steht dir gut.

dein seltenes lächeln war oft zu sehen.

halte durch, du schönes rätsel.

deine fürze riechen nach honig.

Bea brach in Gelächter aus. »Ach, wunderbarer Autor, wer bist du nur? Wenn du mich in einem solchen Augenblick noch zum Lachen bringen kannst, dann gibt es nichts, was du nicht kannst«, murmelte sie vor sich hin. Wurde sie jetzt endgültig verrückt? Sie hielt sich das Buch näher vors Gesicht und fuhr mit der Fingerspitze über die schrägen Buchstaben. Sie hing ihren Gedanken darüber nach, was für ein Mensch wohl eine so zierliche Handschrift haben mochte, da rutschte ihr der Roman aus den Händen und landete klatschend auf ihrem Gesicht. Bea schrie leise auf und setzte sich aufrecht hin. Dabei warf sie das Buch hinunter. Es lag nun geöffnet auf dem Boden, und die Seiten berührten ihr Telefon, das ebenfalls auf dem Boden lag. Das Telefon, das sie ausgeschaltet hatte, seitdem sie sich in sich selbst zurückgezogen hatte. Plötzlich fiel es ihr wieder ein: Da war eine Telefonnummer gewesen. Im Buch! Sollte sie noch einmal versuchen, dort anzurufen? Vielleicht kann die mir mehr über den Besitzer des Buches verraten?

Sie hob das Buch auf und blätterte darin herum, bis sie die Nummer fand, die hastig auf den Rand gekritzelt war. Sie legte den Zeigefinger darauf, griff mit der anderen Hand nach ihrem Handy, schaltete es mit fest zusammengekniffenen Augen an. Sie wusste, was jetzt kommen würde.

18 : 02 [Verpasster Anruf von Zach]

19 : 36 [Verpasster Anruf von Zach]

20 : 34 [Verpasster Anruf von Zach]

20 : 55 [Verpasster Anruf von Zach]

21 : 44 [Verpasster Anruf von Zach]

22 : 08 [Verpasster Anruf von Zach]


Zach: Bitte, Bea! Es tut mir leid. Ich liebe dich. Bitte können wir reden?


In ihrem Hals bildete sich ein Kloß, und ehe sie sich zurückhalten konnte, wählte sie eine Nummer, die sie eigentlich gar nicht hatte wählen wollen.

*

»Bea, geht’s dir gut?« In der Tür stand Dino. Offenbar war er gerannt, seine Jacke hielt er in der Hand. Er trug weite Jogginghosen und ein weißes Muskelshirt, sodass man die Tattoos sehen konnte, die seinen ganzen Arm bedeckten. Sein Haar war noch verwuschelter als sonst, seine Augen leicht gerötet und sein Blick nicht ganz zielgerichtet. Es war zu früh am Morgen, als dass er schon seinen üblichen Schutzwall um sich hätte errichten können. Bea sah ihn zum ersten Mal so verletzlich. Es war unerwartet – und irgendwie vielsagend.

»Tut mir leid, ich hätte dich nicht bitten sollen herzukommen«, sagte sie und spielte mit dem Tunnelzug ihrer Pyjamahose herum, in die sie noch schnell geschlüpft war.

Dino drängte sich an ihr vorbei zur Couch. Beim Versuch, in letzter Minute Ordnung zu machen, hatte Bea ein Glas Wodka, fünf Schokoladenpapiere und einen BH (den sie sich zuvor in einem Anfall feministischer Wut vom Leib gerissen hatte) in eine Schachtel unter dem Couchtisch gestopft. Die Flasche Absolut Vodka hatte sie vergessen, und Dino hielt sie nun anklagend in die Höhe.

»Hast du das etwa alles allein getrunken?«

Bea schaute verlegen zu Boden.

»Kein Wunder, dass du so beschissen aussiehst.«

Sie verdrehte die Augen und setzte sich neben ihn. »Danke, dass du gekommen bist. Ich wusste nicht, wen ich sonst anrufen sollte.« Sie schaute ihn an.

Dino nickte. »Willst du mir nicht erklären, was genau an dem Abend passiert ist? Und warum du auf keinen einzigen Anruf von mir reagiert hast, seit du aus meinem Café gerannt bist?«

Also erzählte Bea zum ersten Mal die ganze Geschichte.

Dino lief im Wohnzimmer auf und ab, die Fäuste geballt, die Pupillen vor Wut geweitet. »Das glaub ich einfach nicht«, stieß er hervor.

Nachdem sie sich die ganze Geschichte von der Seele geredet hatte – Cassandras Verrat, Zachs Profil bei Airtasker und dass Zach gar nicht der Geheimnisvolle Autor war – , spürte sie einen Frieden, als hätte sie mit jedem Wort mehr losgelassen von all der Unbarmherzigkeit, dem Verrat und dem Betrug. Sie legte sich auf die Couch und ließ den Kopf herunterhängen, sodass sie alles verkehrt herum sah. Bea genoss ihre neue überraschende Gleichgültigkeit und beobachtete, wie Dino herumtigerte.

»Der Dreckskerl.«

Bea setzte sich auf. »Was?«

»Den bring ich um.« Dino schlug sich mit der Faust in die offene Handfläche. So hatte Bea ihn noch nie gesehen, so dermaßen geladen, so voller Beschützerinstinkt.

»Dino, mach dich nicht lächerlich.« Bea stand auf, aber er blickte geradewegs durch sie hindurch und atmete so heftig, dass auch Bea tiefere Atemzüge machte.

»Dino«, flüsterte sie und legte ihre Hand auf seine. Er schaute auf und blickte ihr endlich in die Augen.

Seine Haltung wurde ein bisschen lockerer. »Tut mir leid. Ich bin nur so fürchterlich wütend auf ihn, weil er dir das angetan hat.«

Bea spürte, wie seine Hand sich entspannte. Sie lächelte leicht. Er sollte wissen, dass es ihr gut ging und dass sie ihm dankbar war für seine Anteilnahme.

Dino blickte sich im Zimmer um und starrte auf ihren unordentlichen Stapel von zerlesenen Büchern und Zeitschriften. »Wenn ein Buchtitel deine Stimmung wiedergeben sollte – welcher wäre es?«, fragte er.

»Wie bitte?«

»Das hat mich meine Großmutter immer gefragt«, erklärte Dino. »Ich habe früher, als ich jünger war, immer fürchterliche Wutanfälle bekommen und konnte nicht erklären, warum eigentlich. Meine Oma sagte mir dann immer, ich solle versuchen, es ihr mit einem Buchtitel zu erklären, und irgendwie hat das geholfen. In der Regel war es Die kleine Raupe Nimmersatt«, versuchte er, die Stimmung aufzuheitern.

Bea lächelte. »Klingt so, als wäre deine Großmutter eine weise Frau gewesen.«

»Das war sie auch.« Er nickte ernst.

»Du hättest es wissen können«, antwortete Bea. »Das ist von Jean Hanff Korelitz.«

Dino griff nach ihrer Hand, eine so intime Geste, dass Bea überrascht war, und sagte seinerseits: »Die gelborange Wut.«

Sie war froh, dass er sie nicht korrigierte, und sagte, sie habe es unmöglich wissen können. Sie war nicht in der Stimmung für Mitleid. »Hoffnungslos«, antwortete sie.

Dino starrte sie konzentriert an, ehe er mit für ihn untypisch belegter Stimme antwortete: »Überredung.«

Bea lief ein Schauer über den Rücken. Sie biss sich auf die Lippen.

Dino packte ihre Hand noch fester. »Was ich euch nicht erzählte.«

Bea holte tief Luft und murmelte dann: »Hunger.«

»O mein Gott, Bea.«

»Das ist kein Buch.«

»Not Sorry: Vergeuden Sie Ihr Leben nicht mit Leuten und Dingen, auf die Sie keine Lust haben«, erwiderte er nur, drehte ihr Gesicht zu sich und küsste sie voller Hingabe.

Bea blieb der Atem weg, so überrascht war sie, und dann küsste sie ihn zurück. Sie hatte noch immer den Geschmack von Wodka im Mund, aber sein intensiver minziger Geschmack überdeckte ihn. Es fühlte sich an, als würde sie schweben, während er sie mit solchem Verlangen küsste, als hätte er sein Leben lang darauf gewartet. Er schlang ihr den Arm um die Hüfte und zog sie näher zu sich, ohne seine Lippen von ihren zu lösen, versunken in einem Nebel aus Leidenschaft und perfekten Berührungen. Langsam schob er seine Hand unter ihren weiten Pulli und fuhr mit den Fingerspitzen ganz leicht über ihre Taille. Erneut stockte Bea der Atem.

Sie konnte kaum fassen, wie gut es sich anfühlte, wie richtig es war, dass er sie so eng umschlungen hielt. Nein – wie falsch es war, dass er sie so eng umschlungen hielt.

»Halt, Stopp.«

Dino ließ die Arme sinken und zog sich zurück. »Alles klar?«

»Das ist nicht richtig. Wir sollten das nicht tun«, sagte Bea mit abgewandtem Blick.

Dino fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund, als würde er versuchen, ihren Kuss abzuwischen. »Ja, du hast recht. Zu chaotisch, viel zu chaotisch«, murmelte er und trat einen Schritt zurück, als wollte er so viel Abstand wie möglich zwischen sie bringen.

»Tun wir einfach so, als wäre das nie passiert«, sagte Bea rasch.

Dino nickte nur.

»Wir sind beide nicht ganz bei Verstand. Berauscht von Wut beziehungsweise in meinem Fall vom Wodka.« Sie lachte schwach.

Einen Augenblick standen sie da und starrten auf den Abgrund, der sich zwischen ihnen aufgetan hatte. Bea fühlte sich schrecklich, schlimmer noch – wie der letzte Dreck. Nein, schlimmer als Dreck. Wie das allerniedrigste Geschöpf, das je auf der Welt gewandelt war. Sie war ein Mistkäfer, der Dung schaufelte. Wie konnte sie das ihrer Freundin Sunday antun? In diesem Augenblick war sie keinen Deut besser als Cassandra.

»Ich geh jetzt besser.« Dino drehte sich auf dem Absatz um, griff nach seiner Jacke, die er achtlos aufs Sofa geworfen hatte, und ging zur Tür.

»Warte«, rief Bea ihm leise nach.

Dino wandte sich um, die Augenbrauen erwartungsvoll erhoben.

Das Herz schlug ihr hart in der Brust. Sie öffnete den Mund, brachte aber nichts heraus. Sie schüttelte den Kopf und schaffte nur zu sagen: »Ach nichts, nichts weiter. Wir sehen uns, wenn ich das nächste Mal auf einen Kaffee vorbeikomme.«

Dino gab ein abschließendes, lautstarkes Schnauben von sich. Halb lächelte er, halb runzelte er die Stirn und ließ Bea atemlos und voller Bedauern in ihrem Wohnzimmer stehen.