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»Kaffee. Ich brauche Kaffee!«

Kurz vor Ladenschluss stolperte Bea in The Nook und warf sich dramatisch über die Theke. Hinter ihr lagen einige Tage voller Herausforderungen. Sie hatte oben im Büro ein Meeting nach dem anderen durchgestanden, in denen sie gezwungen gewesen war, Protokoll zu führen, sich um die Kaffeebestellungen zu kümmern und den kreativen Mist ihrer Kollegen anzuhören. Die schlaflosen Nächte machten das Ganze nicht besser. Seit zwei Tagen hatte sie nichts mehr von Zach gehört, nachdem sie ihn dämlicherweise zu sich nach Hause eingeladen hatte. Um nicht daran denken zu müssen, war Bea lange aufgeblieben, hatte bis in die frühen Morgenstunden gelesen und versucht, sich Zach auf dem Umweg über seine Notizen zu nähern.

»Lange nicht gesehen«, sagte Dino ein bisschen zu herablassend, als es Bea in ihrem derzeitigen Zustand guttat.

»Ich hab bloß eine halbe Stunde, dann muss ich in meinen Albtraum namens Leben zurück. Kaffee – bitte!«, jammerte sie.

»Ach nee.«

»In einer halben Stunde muss ich am Steuer eines unpraktischen, gemieteten Großraumwagens sitzen, während der schlimmsten Bauarbeiten, die Melbourne je erlebt hat, und das auch noch auf der Autobahn! Ich muss meine Eltern, den Mann meiner Schwester, Nick, und ihre Zwillingstöchter zum Flughafen bringen. Nick und die Zwillinge besuchen seine Eltern. Der Haken an der Sache ist: Meine Schwester hat ein ›Sponsoring-Treffen‹ für ihre Instagram-Seite und bleibt deswegen noch in Melbourne. Und sie wohnt bei mir, mit in meiner winzigen Wohnung, die in etwa so groß ist wie ein Schuhkarton. Sie bleibt eine ganze Woche!«, rief Bea verzweifelt aus.

Dino lachte. »Warum kann sie denn nicht zu Hause wohnen, während ihr Mann und ihre Kinder weg sind?«

»Weil sie, ich zitiere: ›zu klein ist, um ganz allein in so einem großen Haus zu bleiben‹.« Bea verdrehte die Augen. »Also, wie ich schon sagte: Ich brauche Kaffee. Bitte!«

Dino fing an, die Bohnen für Beas Latte zu mahlen, setzte die Kaffeemaschine unter Dampf und schäumte die Milch auf. Er schnappte sich einen Stift und kritzelte ein neues Zitat auf einen Take-away-Becher. Dann goss er den heißen Kaffee hinein und schob ihn Bea hin, die noch immer über der Theke hing, das Gesicht auf dem Tresen plattgedrückt. Der tröstliche Duft riss sie allmählich aus ihrer Benommenheit, sie richtete sich auf und trank gierig einen großen Schluck.

»Du bist einfach der Beste«, seufzte sie, umklammerte den Becher mit beiden Händen und drückte ihn an die Brust.

Dino räusperte sich vielsagend.

»Wie konnte ich das nur vergessen!« Bea hob den Becher auf Augenhöhe und drehte ihn langsam, während sie das Zitat las. »Nach einem starken Kaffee kann man allen vergeben, sogar der eigenen Familie«, las sie laut und kicherte leicht, bevor sie einen übertrieben großen Schluck trank.

»Aber wenn du dein nächstes Gehalt kriegst, kaufst du dir endlich einen Keramikbecher«, sagte Dino, wandte Bea den Rücken zu und wischte die Milchspritzer ab, die ihr Kaffee hinterlassen hatte. »Schon was von Zach gehört?«

»Nein, aber wenigstens hab ich seine Notizen als Gesellschaft. Hör dir mal dieses Zitat an: ›Sich ein Leben lang nach morgen sehnen.‹ Ist das nicht unglaublich treffend?« Bea setzte sich auf dem Barhocker zurecht, nahm sich, ohne zu fragen, einen Apfel-Zimt-Muffin aus dem Auslagekorb und biss hinein.

Dino nickte unverbindlich. »Großartig. Bist du auch sicher, dass du um diese Tageszeit einen Zuckerschock brauchst?«, fragte er und blickte kurz von seiner Arbeit auf.

»Es ist Obst drin, also zählt es nicht«, sagte Bea mit vollem Mund, dass die Krümel nur so flogen. »Außerdem kann ich alles an Gebäck brauchen, was ich kriegen kann, damit ich diesen Nachmittag überlebe!«

Dino ging ins Hinterzimmer und kehrte mit einem großen Rahmen zurück. Bea schwenkte auf ihrem Barhocker herum und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Theke. Sie schaute zu, wie Dino in einer eleganten Bewegung auf die niedrige Sitzbank sprang, die an der Seitenwand des Cafés entlanglief. Wie gut, dass gerade – so kurz vor Ladenschluss – nichts los war. Er kickte ein paar Kissen zur Seite, neigte den Rahmen leicht und hielt ihn an die Wand.

»Und, was hältst du davon?«

Es war ein einfacher Druck. Man sah eine lange schwarze Linie. Auf den ersten Blick bestand sie nur aus zufälligen Windungen, aber als Bea längere Zeit darauf starrte, bildeten die Farbspritzer die Worte: Ich filtere Kaffee, keine Menschen.

Bea verbarg ihr Lächeln hinter dem Becher. Merken: Dino mag neben Wortspielen, neuer Kleidung und öffentlicher Zurschaustellung von Gefühlen ganz klar eine weitere Sache nicht: Instagram. »Du willst mir also zu verstehen geben, dass ich in deinem Café keine Fotos machen darf?«

»Du kannst dein letztes Geld drauf wetten, dass ich genau das meine. In diesem Café sind Instagram-Influencer unerwünscht.«

»Du bist ganz schön eingebildet, Dino«, sagte Bea. »Würdest du denn für eine bescheidene Bookstagramerin eine Ausnahme machen?«

»Jetzt sag bloß nicht, du bist auf die dunkle Seite hinübergewechselt?«, sagte Dino und lehnte sich wie in einem Anfall von Schwäche theatralisch gegen die Wand. »Gerade als ich dachte, wir könnten Freunde werden.«

»Ich konnte nicht anders«, antwortete Bea.

Dino schüttelte den Kopf und schnalzte missbilligend mit der Zunge. »Das glaub ich dir nicht.«

»Es ist nichts Angeberisches, was ich mache – ich erzähle bloß, was ich von Zachs Buch halte.«

»Dann bist du also jetzt seine Managerin? Wie sexy.«

Bea verdrehte die Augen. »Wenn du’s genau wissen willst: Ich hatte die Seite schon angelegt, bevor ich ihm begegnet bin, aber – na ja, ich hab diese Onlinelesergemeinschaft irgendwie liebgewonnen, also hab ich danach weitergemacht. Und meine Leser lieben Zachs Bemerkungen fast genauso sehr wie ich. Hör dir bloß mal die hier an: ›In einem Raum voller Kunstwerke sehe ich nur dich.‹«

Dino antwortete nicht, also fuhr Bea fort. Es war ihr plötzlich ein Anliegen, dass Dino anerkannte, wie besonders Zachs Notizen waren. »Das ist noch nicht mal eine seiner besten Sachen. Ich bin von diesen Notizen total besessen, Dino, ehrlich, ich fühl mich wie ein Teenager, der total auf Homer in Morgen war Krieg steht.«

»Ich freu mich sehr für dich, Bea«, sagte Dino gleichgültig und wischte über das Glas des Bilderrahmens. Zufrieden sprang er von der Bank und ging zurück auf seinen Platz hinter der Theke. »Hey, musst du nicht allmählich mal los?«

Bea blickte auf die Uhr, sprang von ihrem Hocker und schnappte sich ihre Tasche. Plötzlich war sie hellwach. »Scheiße! Danke für den Kaffee, Picasso!«, rief sie noch über die Schulter, während sie hinausrannte.

*

Bea umklammerte das Steuer, beugte sich vor und tat ihr Bestes, um sich auf die Straße zu konzentrieren. Der Verkehr nahm immer mehr zu, die Zwillinge schrien sich auf der Rückbank die Seele aus dem Leib, und ihre Mum fing bereits an, leise vor sich hin zu schluchzen (Maggie war noch nie besonders gut im Abschiednehmen gewesen). Bea bereute die ganze Sache jetzt schon.

»Schatz, ein ganz klein bisschen weiter nach links – ja, genau so«, bat Lizzie und schoss ein paar Dutzend Fotos von ihren unbezahlbaren und emotional verstörten Töchtern. Nichts war so wahrhaftig wie ein paar echte Tränen mitten unter der Woche. Lizzie ging es immer darum, ihren Onlineauftritt perfekt auszubalancieren. Willow war an diesem Tag jedoch nicht besonders kooperativ. Sie schlug Lizzie das Telefon aus der Hand, was einen gemessenen, aber strengen Tadel ihrer Mutter zur Folge hatte.

»Lizzie, sei nicht so streng mit Willow«, schaltete sich Nick nun sanft ein. »Wir wollen doch versuchen, bei den Mädchen mehr auf positive Verstärkung zu setzen. Sie müssen sich angenommen fühlen, so wie sie sind. Erst dann wissen sie, dass es auch in Ordnung ist, wenn sie mal v-e-r-s-a-g-e-n.« Das letzte Wort buchstabierte er, damit die Zwillinge auch ja kein bisschen negative Energie mitbekamen.

»Mach dich nicht lächerlich, Nick, sie müssen schließlich lernen, dass es Grenzen gibt«, gab Lizzie scharf zurück.

Maggie hörte so lange mit dem Weinen auf, dass sie Lizzie ermutigend zunicken konnte, und stimmte ein Loblied darauf an, was für eine geduldige und positive Mutter Lizzie doch war. Martin nutzte die Gelegenheit und fragte Bea weiter über ihr Leben in Melbourne aus.

»Schätzchen, ich hab nachgedacht: Wenn du das Gefühl hast, deine jetzige Stelle ist nicht interessant genug, warum schaust du dich nicht nach etwas anderem um?«, sagte er und trommelte mit den Fingern auf dem Propeller seiner Drohne herum. Er weigerte sich, sie mit dem Gepäck zusammen aufzugeben. »Vielleicht probierst du es auch mal mit Reality-TV. Du weißt doch, dass die Tochter von Celeste und Barry bei MasterChef aufgetreten ist? Jetzt verdient sie Geld, wenn sie einfach nur Fotos von sich macht, wie sie beim Brunch sitzt.«

Bea nickte bloß. Eher würde sie nackt auf der Straße tanzen, als sich bei einer Reality-TV-Show zu bewerben. »Super Idee, Dad. Ich werde drüber nachdenken.«

»Schluss mit dem ganzen Nachdenken, du musst es einfach nur riskieren«, fuhr Lizzie dazwischen. »Schau doch nur, was der Bachelor für meine Karriere bedeutet hat. Ich bin in meinem ganzen Leben nie glücklicher gewesen!«

Bea betrachtete Lizzie im Innenspiegel. Sie schien ganz gefasst, während sie den Batzen Apfelkompott wegwischte, den Lola ihr gerade in den Ausschnitt gespuckt hatte. Langatmig ließ sie sich weiter darüber aus, wie man seine Karrierechancen durch Netzwerken optimieren konnte, während ihre Mutter sich immer wieder mit hilfreichen Tipps einschaltete, wie man LinkedIn zu seinem Vorteil nutzte.

»Du hast doch hoffentlich wenigstens ein Account bei Bumble Bizz? Bea, also ehrlich.« Lizzie schüttelte herablassend den Kopf, und M&M murmelten nervös vor sich hin. »Bea, das werde ich alles für dich regeln. Ich bin schließlich Unternehmerin!«

»Psssst«, murmelte Bea leise vor sich hin.

»Wie bitte, Beatrix?«, fragte ihr Vater sanft.

»Ihr sollt jetzt alle mal ruhig sein«, flüsterte Bea mit zusammengebissenen Zähnen.

»Häh?«, fragte ihre Familie einstimmig.

»Seid ruhig! Ihr müsst jetzt alle mal die Klappe halten, damit ich uns durch diesen Albtraum von Verkehr und Stau zum verdammten Flughafen bringen kann, ohne dass ich absichtlich vor die Wand fahre!«, brüllte Bea los.

Alle schwiegen schockiert. Sie waren es nicht gewohnt, dass Bea so schroff war. Normalerweise war sie die ruhige und besänftigende Kraft in der Familie. Selbst Willow und Lola hielten ihre Mäulchen.

Der Rest der Fahrt verlief schweigend, nur das leise Gemurmel des Abendprogramms im Radio war zu hören, während die verletzten Gemüter schwiegen. Bea liebte ihre Familie heiß und innig und vermisste sie ganz fürchterlich, seit sie nach Melbourne gezogen war. Aber hier, mitten im Lärm und Chaos, mit der geradezu erstickenden Fürsorge und den besorgten Blicken, fühlte sie ihnen gegenüber eine merkwürdige Entfremdung.

Nach siebenundzwanzig unerträglich langen Minuten hielt Bea, noch immer mit zusammengebissenen Zähnen, endlich vor dem Terminal von Qantas. Sie half, die Koffer aus dem Wagen zu zerren, und umarmte ihre tränenüberströmte Mutter und ihren Vater zum Abschied.

»Du wirst mir fehlen, Liz.« Nick küsste Lizzie auf den Mund und klemmte sich unter jeden Arm einen Zwilling.

»Ich werde euch beide so vermissen, meine schönen Babys! Mummy hat euch lieb. Macht es euch nett mit Oma und Opa. Wir sehen uns bald wieder!« Lizzie traten die Tränen in die Augen, als sie ihre Kinder leidenschaftlich umarmte. Dann zogen Nick, Lola, Willow und M&M durch die großen Glastüren davon. Lizzie wandte sich an Bea. Die Wimperntusche lief ihr über die Wangen.

»Die Zeit wird ganz rasch vorbeigehen, Liz. Es ist doch bloß eine Woche«, sagte Bea ermutigend. Sie wusste, dass die Situation für ihre Schwester ganz schön schwierig war, denn sie war bisher noch nie länger als ein paar Nächte von ihren Kindern getrennt gewesen.

Lizzie nickte und gewann ihre Fassung wieder. »Wir werden jede Menge Spaß haben! Hashtag girls’ week!«