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Dino: Schau mal, was ich gerade in meiner Twitter-Mailbox gefunden habe: @SophPearson: Hey @CuppaDino. Tut mir echt leid, aber ich kann heute Abend doch nicht zu eurem Bücher-Speeddating kommen. Es kam last minute eine Deadline rein, du weißt ja, wie das ist! Aber viel Spaß, und hoffentlich schaff ich’s nächstes Mal.
Bea: Das ist ja echt beschissen.
PS: Du bist auf Twitter?!
Dino: Nur wegen der saukomischen Tweets von Trump. Keine Sorge, Bea, wir haben die Sache im Griff.
Bea warf ihr Handy etwas heftiger aufs Bett, als sie eigentlich vorgehabt hatte. Das war so klar gewesen! Warum sollte Sophie Pearson auch ausgerechnet ihr kleines Buch-Event pushen? Das war einfach zu schön gewesen, um wahr zu sein. Na gut, heute Abend wird’s trotzdem toll, sagte sie sich, obwohl sie nicht ganz davon überzeugt war. Es war erst sechs Uhr morgens, und Bea hatte eigentlich nicht vor neun aufstehen wollen. Aber die Enttäuschung über Dinos Nachricht hatte sie aufgescheucht, und plötzlich fühlte sie sich nervös und ruhelos.
Sie drehte sich um und betrachtete den schlafenden Zach. Er trug nur locker sitzende Boxershorts, und seine nackte Brust hob sich sanft bei jedem Atemzug. Bea glitt mit dem Finger vorsichtig seinen Kiefer entlang und achtete darauf, ihn nicht zu wecken. In der letzten Zeit schien sich bei Zach etwas verändert zu haben. Er war wie verwandelt, ganz präsent. Seit sie vor zwei Wochen das erste Mal miteinander geschlafen hatten, war er fast jede Nacht bei ihr geblieben. Wahrscheinlich nur, weil er wusste, wie sehr sie den menschlichen Kontakt brauchte, jetzt, wo sie ihre langen, arbeitslosen Tage meistens alleine zu Hause verbrachte, Next Chapter vorbereitete und nach Freelance-Aufträgen suchte. Aber trotzdem machte es Bea unbeschreiblich glücklich, Zach in ihrer Nähe zu haben. Er stellte ihr sogar Pfefferminztee ans Bett, ehe er sich morgens auf den Weg zur Arbeit machte, massierte sie vor dem Zubettgehen, und einmal hatte er sogar von der Bäckerei die Straße runter, die 24 / 7 geöffnet war, ein Schokoladenbaiser mitgebracht, als er wusste, dass sie so richtig Lust drauf hatte.
Und dann war da noch der Sex – oh ja, der beste, der allerbeste, den sie je gehabt hatte. Die Art, wie Zach sie berührte, wie er ihre Haut zum Prickeln und ihre Hüften zum Aufbäumen brachte, war einfach phänomenal. Bea war es fast ein bisschen peinlich, aber jedes Mal, wenn sie allein waren, fand sie einen Weg, es so hinzudrehen, dass sie schon wieder im Bett landeten. Sie kuschelte sich in Zachs Armbeuge und schob ihr Bein über seines.
»Guten Morgen«, flüsterte sie und konnte nicht widerstehen, sie küsste seine Brust.
Zachs Kopf kippte zur Seite, die Augen fest geschlossen. »Ist es wirklich schon Morgen?«, sagte er mit leicht belegter Aufwachstimme.
Sie rollte sich auf ihn hinauf und sie umarmten einander. Er kraulte ihr mit den Fingerspitzen den Rücken.
»Also, Babe, was machen wir heute?«, fragte Zach, die Augen noch immer geschlossen.
»Musst du dich nicht allmählich fertig machen für die Arbeit?« Bei dem Wort »Babe« wand sich Bea innerlich, ignorierte es aber (Nobody’s perfect), schlang dann die Beine fester um seine und bereitete sich innerlich auf ihren einsamen Vormittag im Bett vor.
»Heute nicht. Ich hab mich gestern Abend noch krank gemeldet.« Er täuschte ein Husten vor. Viel wacher klang er allerdings jetzt immer noch nicht.
Bea schaute ihn fragend an, obwohl sie wusste, dass er sie nicht sehen konnte.
»Heute ist ein wichtiger Tag für dich.« Zach umfasste ihr Gesicht mit den Händen und bekam jetzt endlich die Augen auf. »Heute Abend ist das große Next-Chapter-Event. Ich kann doch nicht zulassen, dass du den ganzen Tag allein bist und dir Sorgen machst.« Er küsste sie sanft auf die Stirn.
Bea lächelte. »Wieso habe ich bloß so viel Glück?«, sagte sie und erstickte ihn fast mit Küssen.
*
Bea versuchte, sich auf die Worte des schlaksigen, mittelalten Mannes, der ihr gegenübersaß, zu konzentrieren. Er hielt ein Hardcoverbüchlein von der Größe eines Hamsters in der Hand und hatte in den letzten viereinhalb Minuten pausenlos über Sir John Monash geschwafelt. Trotz aller Anstrengung waren bei Bea nur einzelne Satzfetzen hängen geblieben, so was wie »Bauingenieur«, »sich selbst das Rüstzeug fürs Leben geben« und »ein bedeutendes und herausragendes militärisches Vermächtnis«. Sie rutschte auf ihrem Stuhl herum, nickte und lächelte höflich und dachte die ganze Zeit: Ich bin ein Versager, ein kompletter, totaler, nutzloser Versager.
Sie blickte sich im Café um. Außer den üblichen Verdächtigen Zach, Ruth und Dino waren nur fünfeinhalb weitere Teilnehmer gekommen. Der biografieversessene Herr, der ihr gegenübersaß, und die beiden Frauen aus der Kleinen Buchhandlung in der Brunswick Street, von denen eine zwischen den einzelnen Bücherrunden Kniebeugen vollführte. Beide hielten Ausgaben von Jane-Austen-Klassikern in der Hand (Emma und Sinn und Sinnlichkeit). Dann war da noch ein junges Mädchen, das nicht viel älter als sechzehn sein konnte und einen dicken Stapel Virginia-Woolf-Romane dabeihatte, und schließlich Sunday. Der »Halbe« war ein Typ in den Zwanzigern, der am Café vorbeigegangen war, im Schaufenster einen Stapel Cupcakes und daneben das Schild »Next Chapter: Essen und Bücher umsonst« gesehen und auf dem Absatz kehrtgemacht hatte und zu ihnen gestoßen war. Nicht gerade feinsinnig verschlang er zwei Stücke Red Velvet Cake und zog sich dann langsam zurück. Lizzie konnte diesmal auch nicht, sie war wegen irgendeiner Veranstaltung der West Coast Eagles, bei der Nick eine Rede hielt, mit in Perth. Aber zum Ausgleich und vielleicht auch im Versuch, das ganze »Dein Freund hat mich angetatscht«-Debakel hinter sich zu lassen, hatte sie wie verrückt über das Event getwittert.
Qualität ist wichtiger als Quantität, sagte Bea sich wieder mal, als sie aufstand, Mr. Biografie die Hand schüttelte und zu den kleinen Keksen in Taco-Form hinüberspazierte, die sie in der Hoffnung bestellt hatte, das Event kulinarisch auf das nächste Level zu heben. Sie biss in einen hinein, nahm sich eine Serviette und schluckte die schlechten Gefühle zusammen mit der zuckrigen Köstlichkeit hinunter. Für die heutige Veranstaltung hatte sie sich so viel erwartet! Diesmal würde es sicher anders zugehen, geschäftiger, lebendiger, einfach weniger … armselig. Nach dem Sophie-Pearson-Coup und angesichts der unaufhörlichen Tweets ihrer Schwester hatte Bea sich von dem heutigen Abend so großartige Vorstellungen gemacht, dass sie sich nicht erlaubt hatte, auch nur in Erwägung zu ziehen, es könnte irgendetwas anderes werden als ein voller Erfolg.
Sie aß den Keks auf und blickte Dino an. Er lächelte ermutigend, hob den Daumen und wandte sich wieder seiner Unterhaltung mit Sunday zu. In diesem Moment tauchte jemand neben ihr auf, und ehe Bea noch »Wer die Nachtigall stört« sagen konnte, schlang die Gestalt ihr die Arme um ihren Körper.
»Zach?«, sagte Bea, und ein Teil ihrer Anspannung fiel von ihr ab, während sie sich aus der Umarmung befreite und sich umdrehte.
Und dann erstarrte sie. Sie zwinkerte ein paarmal, kniff die Augen fest zusammen und war sicher, dass sie ein Gespenst sah.
»Bea, hab ich dich erwischt!«, sagte Cassandra nur, von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet, mit einem leichten Lächeln.
Cassandra, Beas untergetauchte beste Freundin. Die beste Freundin, deren Hochzeit sie ruiniert hatte. Die beste Freundin, die Bea in den letzten Monaten immer wieder vergeblich zu erreichen versucht hatte. Cassandra stand einfach so vor ihr und sah umwerfend aus wie immer. Die Zeit schien von ihnen abzufallen. Obwohl es so lange her war, schien es erst wie gestern, dass die beiden so eng miteinander gewesen waren. Als hätte sich seitdem nichts geändert. Ob sie mir jetzt endlich verzeiht?, dachte Bea hoffnungsvoll.
»Cass? Du bist hier?«, stotterte Bea. »Wie kommt das denn?« Sie war knallrot geworden und trat unbewusst ein Stück näher auf Cassandra zu.
»Ich folge Lizzie auf Twitter. Und nach fünfzig Tweets konnte ich dich einfach nicht mehr ignorieren – und auch nicht diese, ähm, Veranstaltung hier«, sagte Cassandra gleichgültig und schaute sich abschätzend im Café um. »Ich bin beruflich in Melbourne, und da dachte ich mir, warum geh ich da nicht einfach mal vorbei?«
»Bedeutet das, du verzeihst mir? Dass wir neu anfangen können?«, fragte Bea und konnte die Freude, die in ihrer Stimme lag, nicht verbergen. Plötzlich schien alles Sinn zu machen – ihr Schmerz, ihre ganze Enttäuschung, die Tatsache, dass sie sich für die Chance auf einen Neubeginn den Arsch aufgerissen hatte. Mit einem Mal fühlte es sich so an, als wäre es das alles wert gewesen, weil es Cassandra in ihr Leben zurückgebracht hatte.
»Wie wär’s, wenn ich das Buch für mich sprechen lasse? Darum geht es doch bei diesem kleinen Event hier schließlich, oder?«, sagte Cassandra und kniff die Augen ein klein bisschen zusammen. Ihre Stimme klang sehr verurteilend.
Bea wich ein bisschen zurück und erinnerte sich daran, wie es Cassandra – nicht sehr oft, aber immer wieder – durch ihre gedankenlose Art geschafft hatte, dass Bea sich unerträglich klein fühlte. »Ja, natürlich.« Sie spürte, wie ihr heiß und kalt wurde, warf einen vorsichtigen Blick auf Cassandras ausgestreckte Hände und griff nach ihrer literarischen Gabe. Sie drehte das Buch um und las den Titel laut vor: »Große Erwartungen?« Die Worte »Du steckst in jeder Zeile, die ich je gelesen habe« schossen ihr durch den Kopf.
»Vielen Dank, dass du ein Buch mitgebracht hast. Das wäre wirklich nicht nötig gewesen! Es reicht doch schon, dass du gekommen bist.« Bea wollte nach ihrer Hand greifen, aber Cassandra zog sie weg.
Stattdessen deutete sie mit einem schlanken Finger träge auf das Buch. Gehorsam schlug Bea den abgegriffenen Buchdeckel auf und blätterte durch die ersten Seiten. Sie ließ ihre Finger über die leeren Ränder gleiten, als auf einmal, wie durch Zauber, ein zusammengefaltetes Blatt Papier zu Boden segelte. Bea bückte sich und griff danach. In der linken oberen Ecke war ein Bild von Zach, etwa so groß wie ein Passfoto. Bea stand wieder auf, und durch die plötzliche Bewegung fühlte sie sich einen Augenblick lang benommen. Sie blickte Cassandra fragend an und verschlang dann, was auf dem Blatt stand.
Da sackte ihr das Herz ab und fiel, viel tiefer noch als das Buch, das ihr aus den Händen rutschte.