25
Am Morgen nach der Veranstaltung war Lizzie bereits bei Sonnenaufgang aus Beas Haus gestürmt. Forrest Gump wäre nicht schneller gewesen. Zach hatte Lizzies Anschuldigungen rundweg abgestritten, als Bea ihn damit konfrontiert hatte. Er behauptete, er hätte sich zu ihr hinübergelehnt, um ihr seinen Lieblingsabschnitt aus Catch-22 zu zeigen, und sie dabei möglicherweise berührt – mehr aber ganz sicher nicht. Die ganze Geschichte war mal wieder typisch Lizzie. Sie bildete sich ein, dass einfach jeder von ihr besessen, in sie vernarrt und Hals über Kopf in sie verliebt war.
Außerdem brachte es Bea nicht über sich zu glauben, dass Zach je eine andere Frau betatschen würde – und schon gar nicht ihre Schwester. Er blickte Bea jetzt immer mit einer derartigen Leidenschaft an, dass sie sich fühlte, als wäre sie eine Romanfigur, über die er viele herrliche Bemerkungen schrieb. Sie fragte sich oft, was genau er über sie zu Papier bringen würde. In ihrer Vorstellung waren es Dinge wie: ein bisschen seltsam, verrückt, hat Mohn zwischen den Zähnen kleben, warum hat sie das gerade gesagt? Und was würde sie über ihn schreiben? Nachdenklich, geistreich. Ich frage mich, wie er wohl als Baby ausgesehen hat. Ob er mich lieber hat als ich ihn? Warum zwinkert er eigentlich so selten? Sieht hinreißend aus, einfühlsam, so ein unglaublich schönes Gesicht.
Bea musste schon lächeln, wenn sie nur an Zach dachte. Sie wäre am liebsten herumgerannt und hätte überall mit dem neuen Mann in ihrem Leben angegeben, auf ihn gezeigt und gerufen: »Leute, mit diesem Typen bin ich zusammen! Mit diesem Mann mit dem perfekten Schopf brauner Locken, mit einem Strahlen im Gesicht, so leuchtend wie die Milchstraße, und einem Geist, der so komplex und faszinierend ist wie der von Zadie Smith.«
Es war ein völlig neues Gefühl für Bea. Ihre früheren Beziehungen waren eher flüchtige Spielereien gewesen und in der Regel genauso schnell zu Ende gegangen, wie sie angefangen hatten. »Das Einzige, was du wirklich richtig gut auswählen kannst, ist ein gutes Buch«, hatte Cassandra immer gelacht. Lachy zum Beispiel: Er war letztes Jahr in einem Café auf Bea zugekommen, als sie anlässlich Lizzies Geburtstag gebruncht hatten, und hatte Bea um ihre Telefonnummer gebeten. Liz hatte sie ermutigt, sie ihm unbedingt zu geben. Und zwei Monate später hatte sich Bea in einer Beziehung wiedergefunden, von der sie gar nicht sicher war, ob sie sie überhaupt wollte. Lachy war ja wirklich nett, aber er hatte nur ein einziges Gesprächsthema: Kricket. Doch weil er unter allen jungen Frauen ausgerechnet Bea ausgewählt hatte, machte sie einfach mit, bereit, das Elend so lange durchzuhalten, bis sich die Beziehung endlich in einen Roman von Nicholas Sparks verwandeln würde. Das hätte sie sich sparen können: Kurz darauf machte er nach einem Testspiel Schluss mit ihr – mit der Begründung, sie sei zu langweilig! Und gerade als sie angefangen hatte, an dem ewigen Kricket Gefallen zu finden …
Bea kuschelte sich unter die Decke und wünschte sich, Zach würde eines Tages auf dem leeren Platz neben ihr liegen. Seufzend stellte sie den Wecker noch einmal weiter, blätterte die nächste Seite in Meeting Oliver Bennett um und saugte Zachs Worte in sich auf.
*
»Es lief nicht unbedingt alles wie geplant, Martha.« Bea hatte auf der Toilette mal wieder Meeting Oliver Bennett gelesen, als ein Paar dunkelblaue Stiefeletten, nicht ganz so knallig, aber noch immer von müheloser Eleganz, in die Nachbarkabine geschritten kamen. Bea ließ Martha gar nicht erst zu Wort kommen, sondern tischte ihr sofort sämtliche Einzelheiten von Next Chapter auf. Sie ließ nur aus, dass ihre Schwester gedacht hatte, ihr Freund hätte sie angegrabscht.
»Ich sag dir, Martha, ich muss diese Sache noch viel stärker bekannt machen und die Events irgendwie so weit kriegen, dass sie Geld einbringen. Und sobald es so weit ist, werde ich aus diesem gottverlassenen Höllenloch verschwinden und meinen eigenen Laden aufmachen. Das mein ich ganz ernst. Ich halte es hier keine Sekunde länger aus. Wer will denn schon mit einem Haufen Idioten und Sexistenschweinen neue Zahnpasta vermarkten? Ich habe angefangen, mir die allerbescheuertsten Namen und Slogans für Zahnpasta auszudenken – und meine Chefs stürzen sich geradezu drauf. Gestern sind sie voll ins Schwärmen geraten über meine ›Minz and Body‹-Idee. Also, da hört doch wirklich alles auf!«
Spülung.
Spülung.
Die Toilettenspülungen rauschten gleichzeitig. Das war noch nie vorgekommen. In all den Monaten zuvor hatte Bea stets gewartet, bis Martha die Toilette verlassen hatte. Sie waren sich noch nie von Angesicht zu Angesicht begegnet. Bea gefiel die Anonymität ihrer Beziehung. Auf diese Weise konnte sie sein, wer immer sie wollte. Sie erwog, noch in ihrer Kabine zu bleiben, aber dann überlegte sie es sich anders. Nun komm schon, Bea! Sie hörte, wie Martha die Kabinentür öffnete.
Bea holte tief Luft, ihre Hand schwebte über dem Riegel. Diesen Moment hatte sie sich seit Monaten ausgemalt. Wie würde Martha mit den wunderbaren Schuhen aussehen? Hatte sie schwarzes, zu einem strengen Knoten hochgestecktes Haar? Trug sie umwerfende Ohrringe und knallroten Lippenstift, wie Bea sich immer vorgestellt hatte? Oder würde sie oberhalb ihrer tollen Schuhe viel schlichter und einfacher aussehen und Beas Erwartungen komplett über den Haufen werfen? Sie öffnete die Kabine und blieb in der Türe stehen. Martha stand schon am Waschbecken und wusch sich die Hände.
Bea stockte der Atem. Martha war absolut außergewöhnlich.
Sie war älter, als Bea sie sich vorgestellt hatte, mit einigen eleganten grauen Strähnen im honigblonden Haar. Anmutige Fältchen zierten federleicht ihre Stirn, und sie hatte die Lippen leicht geschürzt. Ihre Nägel waren makellos manikürt und blassrosa lackiert, und sie trug ein Kleid, das mit West Highland Terriern bedruckt war und dem man auf den ersten Blick ansah, wie unglaublich teuer es gewesen war.
»Martha? Ich kann nicht glauben, dass du das bist.« Bea trat ans Becken neben ihr und machte den Wasserhahn an. Sie bedauerte, dass sie heute nur ihr schäbiges gelbes Spitzentop anhatte. »Von diesem Moment träume ich schon seit …«
»Ich möchte Sie gleich mal unterbrechen, Beatrix Babbage«, fuhr die Frau sie in einem Ton an, der das genaue Gegenteil eines britischen Akzents war. Sie spuckte Beas Namen aus, als wäre er giftig.
Entgeistert trat Bea einen Schritt zurück.
»Wissen Sie, wer ich bin?«, fragte die Frau.
Bea sank leicht in sich zusammen. »Ähm, Martha aus der Buchhaltung?«
Die Frau grinste höhnisch und regelrecht boshaft.
»Ach, Kindchen. Ich bin nicht Martha. Da haben sie mich offenbar mit jemandem verwechselt. Mein Name ist Catherine Bradley, und ich bin Chief Executive Officer in diesem ›gottverlassenen Höllenloch‹.«
Bea blieb das Herz stehen.
»Und Sie, meine Beste, sind gefeuert.«
Scheiße. Verdammt. Scheiße. Verdammt. Scheiße!
*
Bea wischte sich die Muffinkrümel vom Kinn, während sie bereits nach einem Schokocroissant schielte. Ihre Augen waren verheult, und ihr brannte schon fast der Mund von all den Obszönitäten, die sie pausenlos vor sich hin murmelte.
»Verdammte Scheiße, ich bin ja so beschissen scheiß-dumm!«, murmelte sie undeutlich vor sich hin.
»Bea, wenn du noch ein einziges Mal das Wort mit SCH sagst, muss ich dich leider auffordern, mein Café zu verlassen«, flüsterte Dino und warf einen Blick auf die Kinder im Grundschulalter, die in einer Ecke saßen und mit ihrem Vater Kakao tranken. Dino trug wie gewöhnlich seine dunkelgrüne Schürze, aber heute darunter ein für ihn ganz untypisches, enges weißes T-Shirt, das seine Tattoos sehen ließ. Er war gerade erst beim Friseur gewesen, sein Haar war weniger struppig und ein bisschen geschniegelt, und trotzdem hing es ihm noch lässig in die Stirn.
Gleich nachdem Catherine Bradley sie gefeuert hatte, war Bea in The Nook gerannt und hatte Dino um so viel Schokolade gebeten, wie er nur dahatte. Zum Glück war Sunday am Morgen da gewesen und hatte sich so richtig ins Zeug gelegt. Bea war es viel zu peinlich, Zach gegenüberzutreten, und sie wollte auch nicht allein sein, also bestand die Rettung vor der Demütigung in ihrem Herzen aus Muffins mit extragroßen Schokostückchen. Bea hing jetzt seit fast zwei Stunden auf ihrem Barhocker und war inzwischen bei ihrem siebten Teilchen und ihrem vierten Kaffee, aber sie fühlte sich immer noch nicht besser. Obwohl sie vor lauter Zucker und Koffein allmählich total überdreht war. Cass wüsste genau, was man jetzt tun muss, dachte sie immer wieder. Sie würde wahrscheinlich sagen: »Die haben dich sowieso nicht verdient. Du findest was Besseres.«
»Du hast da noch was.« Dino tippte sich mit dem Finger auf die Wange und bedeutete Bea, das Gleiche zu tun.
Bea fuhr sich mit den Händen ins Gesicht und wischte sich die verbliebenen Krümel ab.
»Bea, ich sag dir, das ist ein Geschenk des Himmels. Du hast deinen Job gehasst wie die Pest. Jetzt hast du Zeit, das zu tun, was dir wirklich wichtig ist.«
»Ja, und mit welchem Geld soll ich das machen?«, schnaufte Bea voller Verachtung.
Dino schwieg und machte einen extrastarken Cappuccino für eine Frau in Sportkleidung, dann legte er das Schokocroissant für Bea in die Mikrowelle. Sie nutzte diesen Augenblick, um Zach endlich eine Nachricht zu schreiben. Wenn sie ihre Beziehung auf das nächste Level heben wollte, war doch diese Situation, wo sie Ehrlichkeit und Verlässlichkeit brauchen konnte, eine großartige Gelegenheit.
Bea: Bin gerade gefeuert worden. Ertränke meine Sorgen in Kaffee und Zucker, brauche aber vielleicht später was Härteres. Wärst du bereit, mein Saufkumpan/geduldiger Begleiter zu sein, wenn ich mich später beim Arbeitsamt in die Schlange stelle? x
»Denk doch mal an J. K. Rowling«, sagte Dino und stellte ihr das warme Croissant hin. Das lenkte Bea von ihrem Telefon ab.
»Was?«, fragte sie und biss in die schokoladige Köstlichkeit.
»Sie ist auch gefeuert worden. Sie hat als Sekretärin gearbeitet, und da hat man sie rausgeschmissen, weil sie heimlich auf ihrem Computer Geschichten geschrieben hat. Und heute ist sie eine der reichsten und berühmtesten Schriftstellerinnen aller Zeiten.«
Bea zuckte mit den Achseln. »Ich bin aber keine J. K. Rowling, Dino.« Sie trank einen Schluck Kaffee.
Agatha Christie schob sich unter Beas Arm, um gestreichelt zu werden – auch eine Art von Trosttherapie. Der Pudel reagierte darauf, indem er an Beas Croissant schnüffelte.
»Wehe«, sagte Dino streng und warf einen Blick auf das Stückchen Croissant, das Bea gerade für den Hund abriss.
Bea runzelte die Stirn und aß das Stück selbst. Die Erinnerung an den heutigen Nachmittag überfiel sie erneut und ließ sie schaudern. Was machte sie bloß mit ihrem Leben? Es war, als würde sie Katastrophen magisch anziehen, egal wohin sie ging. Beas Blick fiel auf das Tattoo eines Tornados gleich neben Dinos Ellenbogen. Absolut passend! Sie wanderte mit ihren Blicken weiter an seinen Armen entlang, verzweifelt auf der Suche nach etwas, das ihre Gedanken von den heutigen Ereignissen ablenken würde. Dinos Tattoos waren regelrechte Kunstwerke, und sie konzentrierte sich jetzt ganz auf die detailreichen Bilder: Pfotenabdrücke, steil aufragende Berggipfel, Croissants und Kaffeetassen, dahinschmelzende Uhren und Worte, die sie nicht richtig entziffern konnte. Es war, als würde sie ein Buch in einer fremden Sprache lesen. Jedes Bild auf Dinos Arm erzählte eine Geschichte, die sie nicht richtig verstand.
»Wer ist Delilah?«, fragte sie und deutete auf den Namen, dessen kleine kursive Lettern über sein Handgelenk liefen. Ihr war jedes Mittel recht, um das Gespräch von der Katastrophe namens »Beas Berufslaufbahn« abzulenken.
Dino erstarrte und schüttelte den Kopf. »Ein andermal vielleicht«, sagte er mit rauer Stimme. »Ich arbeite schließlich.« Er reichte einem wartenden Kunden seinen Chai-Tee. Als er Beas enttäuschtes Gesicht sah, ließ er sich erweichen. »Na gut – such dir ein anderes Tattoo aus.«
Bea nickte. »Was ist mit den Murmeln?« Sie zeigte auf die farbige Abbildung eines umgekippten Beutels, aus dem Murmeln kullerten. Dieses Tattoo fiel auf, weil es offensichtlich neuer als die anderen war und deutlicher hervorstach.
Er berührte die Stelle an seinem Arm, wo die Zeichnung eintätowiert war. »Miss Marbles«, sagte er.
»Wie bitte?«
»Miss Murmeln – Miss Marbles. So habe ich Miss Marple genannt, als ich noch klein war. Meine Großmutter war regelrecht besessen von Agatha Christie.«
»Da wär ich nie draufgekommen«, sagte Bea und hob Agatha Christie, den Zwergpudel, hoch.
»Tja, vielleicht sogar ein bisschen mehr als nur besessen. Sie war total auf die Romane und Geschichten fixiert. Es war, als würde sich für sie das echte Leben innerhalb der Bücher abspielen und als wäre die echte Welt nur ausgedacht.«
»Ich weiß genau, wie sich das anfühlt«, murmelte Bea so leise, als spräche sie mit sich selbst.
»Sie hatte alle Bücher von Agatha Christie: Mord im Pfarrhaus, Die Schattenhand, Karibische Affäre, Fata Morgana … Sie waren im Haushalt so präsent wie ihre Kinder. Vielleicht hatte es damit zu tun, dass ihr echtes Kind, meine Mutter, in ihrem Leben irgendwie nicht so richtig präsent war. In meinem Leben übrigens auch nicht.« Dino beugte sich vor und verwuschelte Agatha Christies Fell, dann legte er seine Hände auf die Theke.
»Wo ist denn deine Mum?«
»Ach, mal hier, mal da. Sie ist schon da – wenn sie will. Aber wenn in Byron Bay ein Festival stattfindet, wenn sie einen neuen Kerl in Daylesford hat oder in Mornington oder in Sydney, dann ist sie lieber dort. Ihr Motto lautet: ›Jeder ist sich selbst der Nächste‹.« Dino zuckte mit den Achseln
»Das muss ganz schön schwer sein«, sagte Bea. Dinos Unwillen, andere Menschen an sich heranzulassen, wurde auf einmal viel verständlicher für sie.
»Tja, und meinen Dad hab ich nie kennengelernt, jedenfalls kann ich mich nicht dran erinnern, und meine Mutter war immer mit anderen Dingen beschäftigt. Ich bin hauptsächlich bei meiner Grandma aufgewachsen. Sie hat mir jeden Abend und jeden Morgen, eigentlich immer, aus den Büchern von Agatha Christie vorgelesen. Ich hab immer um mehr ›Miss Marbles‹-Geschichten gebettelt, und Grandma hat sich jedes Mal kaputtgelacht, wenn ich sie so genannt habe.« Er lächelte. »Als sie letztes Jahr gestorben ist, hat mich das ganz schön getroffen. Ich hab ihren Hund geerbt und jedes einzelne Werk aus ihrer zerlesenen Kriminalbibliothek. Und ihr zu Ehren hab ich mir dann dieses Tattoo stechen lassen.« Dino schaute weg.
Bea legte ihre Hand auf seine. Sie wünschte, sie hätte gewusst, was sie jetzt sagen sollte. Cass wüsste es. Sie sagte in jeder Lebenslage das Richtige. »Es tut mir sehr leid mit deinen Eltern und mit deiner Oma.« Sie lächelte ihn an. »Und ich sitze hier, mache mich total lächerlich und heule rum, nur wegen eines beschissenen Jobs.«
Dino runzelte die Stirn und wandte sich eilig ab. Er fing an, einen Kaffee zu machen, für den gar keine Bestellung vorlag, nahm einen Stift aus der Schürzentasche und krakelte rasch etwas quer über den Becher, die Stirn immer noch in Falten. Dann schob er Bea den Kaffee hin, und sie hob den Becher hoch und las: Das Traurigste im Leben ist das, woran man sich erinnert.
»Das ist von Agatha Christie«, bemerkte er und fing an, im Schrank hinter sich herumzukramen.
Jemand schlang von hinten die Arme um Bea.
»Ich bin gleich los, als du geschrieben hast«, sagte Zach.
Bea schmiegte sich in seine Arme.
»Mach dir keine Sorgen. Die können dich nicht einfach aus einer Laune heraus rauswerfen, das ist einfach kompletter Blödsinn! Erzähl mir mal ganz genau, was vorgefallen ist, jedes Wort! Die verklagen wir. Die müssen sich ganz warm anziehen.« Zachs Gesicht war knallrot, als wäre er den ganzen Weg gerannt. Bea sah, wie ein Schweißtropfen von seiner perfekt glatten Stirn seine Wange hinunterlief.
»Erzähl schon!«, forderte er sie erneut auf. »Bea, es ist wichtig, dass du mir jetzt sofort alles erzählst, damit du auch nichts vergisst. Ich schreibe mit.« Er holte sein Telefon heraus, öffnete eine App für Notizen und hielt die Daumen tippbereit über dem Display.
»Tja, ich … ähm«, stammelte Bea, und wieder traten ihr Tränen in die Augen. Stell dich nicht an wie ein Baby!
»Herrgott, Mann, ich glaube nicht, dass sie jetzt darüber sprechen will«, ging Dino ein bisschen zu unwirsch dazwischen. Sein Gesicht war auf einmal viel härter, als wäre er plötzlich ein kühles, ganz neues Buch anstelle eines abgegriffenen, geliebten Buchs mit lauter Eselsohren drin.
»Ach ja? Ich werde ja wohl wissen, was das Beste für meine Freundin ist«, fuhr Zach ihn an.
Bea lief ein Schauer über den Rücken. Zachs forsches Auftreten überraschte sie vollkommen. Sie war es nicht gewohnt, dass er so mit jemandem sprach. Und: »meine Freundin«? Es war das erste Mal, dass er sie so nannte. Bea hatte sich vorgestellt, dass sie in einem wesentlich romantischeren Rahmen offiziell zu Freund und Freundin werden würden. Na ja, es ist eben, wie es ist.
»Kann schon sein. Aber du musst nicht grausam sein«, sagte Dino.
»Die Welt ließ mich grausam werden«, sagte Zach und schaute Bea an, als erwarte er eine Bestätigung von ihr.
»Falls du gerade versuchst, Emily Brontë zu zitieren, dann muss es heißen: ›Das Herz ließ mich grausam werden‹«, erwiderte Dino.
»Nein, so heißt es nicht.«
»Doch. Ich sollte es wissen, ich lese nämlich mehr als nur Comics«, sagte Dino mit steinernem Gesicht.
»Und ich arbeite in einem Verlag, Blödmann.« Zach schlug ein bisschen zu heftig auf die Theke.
Bea schaute zwischen den beiden Männern hin und her – eher zwischen den beiden großen Jungs – , die vor ihren Augen diesen kindischen Streit vom Zaun gebrochen hatten.
»›Entsetzen‹«, sagte Bea.
»Was?«, sagten die beiden gleichzeitig.
»Entsetzen«, sagte Bea. »›Das Entsetzen ließ mich grausam werden.‹ So lautet das Zitat aus Sturmhöhe. Ihr Deppen habt alle beide unrecht.« Sie lachte, und die Spannung löste sich ein klein wenig.
»Oh.«
»Oh.«
Bea warf Dino einen leicht entschuldigenden Blick zu und wandte sich an Zach. Sie fasste ihn bei der Hand und stand zittrig auf. So abgefüllt, wie sie mit Koffein und Gebäck war, fürchtete sie, nicht mehr allein laufen zu können.
»Zach, kannst du mich nach Hause bringen?«
»Natürlich«, sagte er und nahm sie nicht einfach an die Hand, sondern hob sie hoch und warf sie sich über die Schulter. Sie kreischte, als Zach sie aus dem Café trug. Hinter ihnen knurrte Dino zum Abschied.
*
Nachdem sie auf diese Weise einen Block hinter sich gebracht hatten und Bea die ganze Zeit gelacht und spielerisch nach Zach getreten hatte, stellte er sie vorsichtig wieder auf den Boden. Sie griff nach seiner Hand, und zusammen gingen sie vorbei an betriebsamen Bars, in denen lauter Leute saßen, die ihre Jobs noch hatten und auf einen kleinen After-Work-Drink eingekehrt waren. Der Himmel leuchtete geheimnisvoll pink. Es war die besondere Zeit des Tages, wenn die Sonne noch nicht ganz untergegangen war und der Mond schon am Himmel schien.
»Danke, dass du gekommen bist«, sagte Bea ein bisschen schüchtern. »Und danke, dass du es geschafft hast, mich zum Lachen zu bringen.«
»Geht’s dir jetzt besser?«
»Ach, heute war ein echt beschissener Tag«, seufzte sie.
Sie gingen eine Weile nebeneinander her. Bea war erleichtert, dass Zach ihr nicht haufenweise Plattitüden oder Lösungsvorschläge an den Kopf warf, sondern schwieg und ihr diese Zeit ließ, in der sie sich schlecht fühlen konnte. Vielleicht hatte er begriffen, dass Dino recht hatte und sie etwas Abstand brauchte, um den Tag zu verarbeiten.
Zach blieb stehen und wandte sich zu Bea. »Weißt du, ich hab dich wirklich sehr gern, Bea.« Sie standen mitten auf dem Bürgersteig, Hand in Hand. So etwas machte Bea normalerweise nervös. Sie wollte niemandem im Weg stehen oder zu viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Aber Zach blickte sie so ernsthaft an, dass sie nicht anders konnte, als sich ganz auf diesen Augenblick zu konzentrieren. Doch als Antwort brachte sie nur ein dezentes Nicken zustande. Sie fühlte sich plötzlich ein bisschen überfordert.
»Wir kennen uns doch noch gar nicht so lange. Ich weiß auch nicht, woran es liegt, aber ich habe das Gefühl, als hätte ich dich immer schon gekannt.« Zach lachte, offenbar verlegen wegen seiner eigenen Offenheit. »Toller Spruch, was?«
»Ich mag dich auch, Zach. Ich bin so unglaublich froh, dass wir uns kennengelernt haben.«
»Ich glaube, es ist mehr als das.« Er ließ den Kopf leicht hängen und schaute sie mit einem Blick an, den sie nicht so richtig deuten konnte. Eine Frau, die eine zum Bersten gefüllte grüne Supermarkttüte an sich drückte, machte einen kleinen Bogen um sie.
»Diese Hände.« Zach zog Beas Hände zu sich heran und fuhr ihr mit dem Daumen über die Fingerknöchel. »Es sind die schönsten Hände, die ich je gesehen habe.« Er drückte auf jede Hand einen Kuss. Dann blickte er Bea wieder an und drückte ihr dreimal sanft die Hände.
Bea lächelte ratlos und wusste nicht, was sie sagen sollte. Noch nie in ihren dreißig Lebensjahren hatte jemand sie so angeschaut, und noch nie hatte sie dermaßen viele Schmetterlinge im Bauch gespürt.
Wieder drückte Zach Bea dreimal die Hände, diesmal mit erneutem Eifer. »Bea, du hast mich ganz schön zugerichtet.«
»Was ist denn heute in dich gefahren, Zach?«
»Du – du bist in mich gefahren! Du gehst mir in einer Art und Weise unter die Haut, wie ich es noch nie erlebt habe. Als ich dich getroffen habe, hätte ich nie erwartet, dass du so … du selbst sein würdest.« Er drückte ihr wieder dreimal die Hände und küsste sie sanft.
Bea erwiderte den Kuss und seufzte leicht. Sie hatte Gänsehaut bekommen und drückte Zachs Hände einmal lang zurück.
»Das ist nicht richtig so«, sagte Zach und trat einen winzigen Schritt zurück. »Pass auf, ich zeig dir, wie das geht. Ich«, sagte er und drückte leicht zu. »Liebe.« Er drückte wieder. »Dich.« Und erneut drückte er zu.
Bea wurde von etwas überwältigt, das sie nicht kannte. Die drei kleinen Worte berührten etwas ganz tief in ihrem Innersten. Sie konnte nicht glauben, was sie da gerade gehört hatte, und stand da, mit offenem Mund und vollkommen überwältigt. Ich bin es wert, dass man mich liebt?
»Ich weiß ja, ich weiß, es ist verrückt. Wir sind gerade mal ein paar Wochen zusammen«, sagte Zach leicht verlegen. »Es sieht mir überhaupt nicht ähnlich, dass das bei mir so schnell geht. Ehrlich, wenn du wüsstest! Aber ich konnte es einfach nicht für mich behalten.«
Bea hatte jetzt begriffen, dass es sich wirklich nicht um einen Tagtraum handelte, zog Zach an sich, blickte ihm in die Augen und zwang sich, sich ganz diesem Augenblick hinzugeben. Du schaffst das. Nur Mut! »Es ist nicht zu früh«, sagte sie und drückte seine Hände dreimal.
Zachs Gesicht leuchtete auf, und seine Augen strahlten so, dass Beas Magen einen kleinen Sprung machte. »Ehrlich?«
»Ehrlich.«
Ein kleiner rotbrauner Hund kam zu ihnen gerannt und sprang an ihnen hoch, während er seinen Besitzer hinter sich herzerrte. Lachend ließen sie sich los und streichelten den übermütigen Welpen. Er genoss die Aufmerksamkeit, die er von ihnen bekam, und ließ sich dann zufrieden weiterführen.
»Weißt du, ich denke die ganze Zeit nur an dich und an nichts anderes mehr, Bea Babbage«, sagte Zach, als sie, die Hände wieder ineinandergeschlungen, weitergingen. »Und ich dachte, das solltest du gleich hier und jetzt erfahren.« Er lächelte sie an, und Bea lächelte zurück. »Ich möchte nirgendwo anders sein, denn ehrlich, ich bin ganz schön verrückt nach dir.«
Bea stellte sich auf die Zehenspitzen. Sie griff nach seinem Nacken und zog sein Gesicht zu sich herunter, sodass sie ihn mit aller Macht küssen konnte.