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Es war Mittwochnachmittag, und Bea konnte sich zu nichts aufraffen. Sie arbeitete nicht. Sie vermied es, darüber nachzudenken, wie die letzte Begegnung mit Dino ausgegangen war. Sie antwortete nicht auf die Nachricht von Zach, in der er fragte, wie es ihr gehe. Sie war in jederlei Hinsicht derart unmotiviert, dass sie quer durch die Stadt zu einem Café lief, für das sie nicht mal annähernd cool genug war.

Das fragliche Café hieß ARK, und ihr Besuch dort war Teil der Suche nach dem Geheimnisvollen Autor. Sie hatte eine der Adressen aus dem Buch mit Leuchtstift markiert, die sich dann als die Anschrift des Cafés herausgestellt hatte. Neben der Adresse war eine einfache Zeichnung von etwas, das aussah wie ein Croissant. Bea hatte ihre »Gesucht«- Zettel zusammengerollt in der Handtasche dabei und war bereit, sie in diesem extrem supertrendigen Café ins Fenster zu hängen, sobald sie ihre nötige Dosis an Koffein intus hatte. Sie hatte gehört, der Kaffee sei nördlich des Flusses besser, und obwohl sie das bezweifelte, wollte sie es doch einmal ausprobieren.

Hinter der Karte hervor blickte sie sich im Café um. Dafür, dass es ein Nachmittag mitten in der Woche war, war es ordentlich voll: kleine Grüppchen von Freunden und Familien mit kleinen Kindern plauderten gut gelaunt, tranken Latte, aßen Sauerteigtoast und brachten sich gegenseitig auf den neuesten Stand. Bea notierte sich ein paar Dinge auf den Notizblock, den sie aufgeschlagen neben sich liegen hatte, und schaute sich um, welches wohl der geeignetste Ort wäre, um ihre Zettel auszuhängen.

»Was hätten Sie gern?«

Bea schaute auf und warf dabei die Speisekarte herunter. Der Kellner bückte sich und hob sie wieder auf.

»Entschuldigung, ich war gerade abgelenkt!«, sagte Bea entschuldigend. Der Kellner, in einer zerschlissenen Jeans und ein ungeduldiges Lächeln auf den Lippen, hob nur blasiert die Augenbrauen. »Ähm, einen Skinny Latte, bitte.«

Als der Kellner mit ihrem Getränk an den Tisch zurückkehrte, entschied sich Bea, die Gelegenheit beim Schopfe zu packen. Sie hoffte, sie könnte ein paar Informationen aus ihm herauslocken. »Ganz schön voll heute, was?«, fragte sie schüchtern und trank einen Schluck Kaffee. »Ugh, viel zu heiß«, keuchte sie dann.

Der Kellner schaute ungerührt drein. »Ist das erst mal alles?«

»Mm, eine Frage noch«, sagte Bea und trank rasch einen Schluck kaltes Wasser hinterher. »Haben Sie hier viele grüblerische Schriftsteller? Ich bin ja so verrückt nach Büchern! Letztes Jahr hab ich eine Reise gemacht auf den Spuren eines meiner Lieblingsbücher, Noch so eine Tatsache über die Welt. Kennen Sie es? Ich habe mehr oder weniger jede einzelne Bushaltestelle in Westaustralien besucht. Tja, so was macht man nur, wenn man echt verrückt nach Büchern ist!«

»Wie schön für Sie.« Der Kellner hatte ganz klar keinen Bock auf Bea.

»Tja, kommen denn hier viele Schriftsteller her und tipp, tipp, tippen auf ihren Laptops rum? Oder kritzeln ihre Notizen in irgendwelche Hefte? Scheiben möglicherweise Anmerkungen in Bücher?«

»Das weiß ich nicht, aber ich denke, das ist gut möglich. Wir sind hier ja schließlich in Northcote.«

Bea stützte die Ellenbogen auf und beugte sich vor. »Könnten Sie vielleicht ein bisschen genauer werden?«

»Ab und zu treffen sich hier ein paar Buchklubs. Es bleiben jede Menge Post-its liegen. Ich weiß nicht, vielleicht könnten Sie ja so einem Klub beitreten?« Der Kellner war zwei Schritte zurückgewichen.

»Ach, das ist ja toll. Super! Haben Sie da möglicherweise Kontaktdaten für mich?«, fragte Bea, den Stift bereits gezückt.

Der Kellner runzelte die Stirn. »Das bezweifle ich, aber ich werde mal den Manager fragen.« Und mit einem erleichterten Seufzer machte er sich davon.

Bea war frustriert. Sie hatte keinerlei Informationen bekommen. Rasch trank sie ihren Kaffee, kippte zwei Gläser Wasser hinunter und machte sich auf die Suche nach der Toilette, die im Hinterhof lag. Hier hoffte sie einen weiteren Ort zu finden, wo sie ihre »Gesucht«-Zettel aufhängen konnte. Zum Glück war sie gerade nicht besetzt, also klebte sie einen Zettel an die Innenseite der Toilettentür und einen weiteren rechts neben den Spiegel. Dann setzte sie sich hin, entspannte sich und fing an, durch Instagram zu scrollen.

Sie kam wieder in die Wirklichkeit zurück, als jemand an der Tür rüttelte.

»Sorry, occupado!«, rief Bea.

»Verzeihen Sie bitte«, rief eine engelsgleiche Stimme zurück.

Die Stimme kenn ich doch! Bea beugte sich so weit wie möglich nach vorne und verrenkte sich fast den Hals, um unter dem Türschlitz hindurchspähen zu können. Zwei kobaltblaue Wildlederabsätze, hoch wie Wolkenkratzer. Die Schuhe kenn ich doch! Eilig zog Bea die Spülung und wusch sich die Hände. Ich glaub’s einfach nicht! Ihr Herz raste. Rasch trocknete sie sich die Hände ab und öffnete die Tür.

»Martha!«

Eine kleine, zierliche Frau mit dunkler Haut, schulterlangem blondem Haar mit ausgeprägten Ponyfransen und umwerfenden Kunstharz-Ohrringen drehte sich zu Bea um.

»Verzeihung, kennen wir uns?«, fragte die Frau, die sichtlich nicht wusste, was sie mit dieser Situation anfangen sollte.

»Martha, ich bin’s! Bea! Von AKDB«, sagte Bea und umarmte die überraschte Frau.

»Bea von der Toilette?« Martha machte sich los und packte Bea bei den Schultern. »Was machst du denn hier? Ich fass es nicht, dass du das wirklich bist.«

»Ich weiß! Ich vermisse unsere Schwätzchen auf der Toilette so!«

Sie traten zur Seite, als ein junger Mann sich zwischen ihnen hindurch zur Toilette drängte und sie neugierig anschaute.

»Wie läuft’s bei der Arbeit?«

»Schrecklich!«

Bea hob besorgt die Augenbrauen.

»Ach, weißt du, die üblichen Zickereien zwischen den Kollegen. Um ehrlich zu sein, feiere ich heute krank. Wenn jemand fragt: Ich habe Bindehautentzündung«, sagte Martha. Das überraschte Bea. Wegen Marthas vornehmer Ausstrahlung hatte sie immer gedacht, diese sei jemand, der sich genau an die Regeln hielt. »Und seit du nicht mehr da bist, lockt mich auch nicht mehr unser täglicher Jane-Austen-Eskapismus ins Büro. Wenn ich die Toilette betrete, vermisse ich das vertraute Geräusch von Seiten, die umgeblättert werden. Allerdings muss ich sagen, dass ich in letzter Zeit schon viel produktiver geworden bin.«

Sie lachten. Es war ein bisschen merkwürdig, von Angesicht zu Angesicht miteinander zu sprechen.

»Jetzt erzähl du mal.« Martha beugte sich vor, und der Duft ihres teuren Parfüms zog zu Bea hinüber. »Wann ist der nächste Buch-Speeddating-Abend? Ich hoffe, die machst du noch? Ich habe kürzlich ein unglaubliches, außergewöhnliches Buch zu Ende gelesen – Schwarze Magnolie. Es geht um eine Frau, die aus Nordkorea flüchtet. Eine wahre Geschichte! Ich kann gar nicht aufhören, darüber zu reden. Und mein Mann hat es so satt, er kann es einfach nicht mehr hören!«

Bea fand Marthas Begeisterung ermutigend. »Das nächste Treffen ist in ein paar Wochen geplant. Es war ein bisschen schwierig, alles unter einen Hut zu kriegen, bei der Arbeit ist eine ganze Menge los.« Bea brachte ihre Ex-Kollegin rasch auf den neuesten Stand in Sachen Agentur Schnabeltier.

»Das klingt ganz fabelhaft, meine Liebe! Einfach fabelhaft! Kann ich dir da irgendwie helfen?«, fragte Martha und trat einen Schritt zur Seite, damit sie dem Kellner nicht im Weg stand, der einem Paar, das in einer Ecke des Hofes miteinander schwatzte, seinen Kaffee brachte.

»Oh, würdest du mir tatsächlich mal helfen? Das wäre wunderbar, Buchhaltung ist nämlich so gar nicht mein Ding«, sagte Bea.

»Weißt du was, ruf mich einfach an, dann schauen wir mal, was ich für dich tun kann.« Martha griff in ihre Handtasche, zog eine Visitenkarte heraus und notierte eine Handynummer darauf. »Schreib mir lieber keine Mail in die Arbeit. Man darf mich nicht dabei erwischen, wie ich mit dem Feind kollaboriere.« Sie zwinkerte und gab Bea die Visitenkarte, dann umarmte sie sie herzlich.

»Es war echt super, dass wir uns zufällig hier über den Weg gelaufen sind«, stieß Bea hervor.

Martha warf ihr eine Kusshand zu und trat in die Toilette, die nun wieder frei war. Bea ging zurück ins Café, nahm ihre Jacke von der Stuhllehne und wollte zahlen. Sie warf einen letzten Blick auf den Kellner. Er stand hinter der Kasse, und sie beschloss, dass sie den Einsatz erhöhen und mehr tun musste, als nur ein paar Flyer in irgendwelchen Toiletten auszuhängen.

»Entschuldigung«, sagte sie und ging auf ihn zu. Der Kellner nickte gleichgültig, zweifellos hatte er sie mittlerweile mehr als satt. »Nur eine letzte Frage! Haben Sie jemals dieses Buch gesehen?« Sie holte Meeting Oliver Bennett heraus, hielt es hoch und blätterte es durch, sodass ihm die geheimnisvollen Notizen förmlich vor der Nase tanzten.

Der Kellner tat, als ob es ihn interessierte und warf einen kurzen Blick darauf, dann schüttelte er den Kopf. »Macht drei fünfzig.«

Bea war noch nicht bereit, die Segel zu streichen. »Sind Sie sicher, dass Sie das an nichts erinnert?« Sie schwenkte das offene Buch und hielt es ihm noch näher hin.

»Ich sehe hier jeden Tag eine Menge Unterschriften. Wenn ich mich an jede einzelne Kritzelei erinnern wollte, die durch diese Tür kommt« – er nickte zum Eingang hin – »wäre hier oben kein Platz mehr für die wirklich wichtigen Dinge.« Er tippte sich an die Stirn.

Bea gab sich geschlagen und ließ das Thema fallen. Sie kramte in ihrer Tasche nach losem Kleingeld und reichte ihm ein Durcheinander von unterschiedlichen Münzen. Der Kellner verzog das Gesicht und machte sich daran, sie auseinanderzusortieren.

Er spürte ihre Enttäuschung und sagte: »Sie könnten es höchstens noch mal mit dem Aquarium probieren.« Er zeigte auf ein großes Glasgefäß voller Visitenkarten, das auf der Theke stand. »Wir haben eine Zeit lang einmal im Monat eine Verlosung gemacht – derjenige, dessen Namen wir ausgelost haben, hat eine Woche lang kostenlosen Kaffee gewonnen.« Er beugte sich vor. »Unter uns gesagt, machen wir das jetzt schon ein paar Jahre nicht mehr. Die Schüssel füllt sich aber dennoch regelmäßig. Die Leute schreiben normalerweise ihre Namen auf die Karte. Sie könnten also Ihr Glück versuchen. Vielleicht finden Sie ja eine Schrift, die mit Ihrer übereinstimmt.«

Bea lächelte den Kellner dankbar an, griff sich die Schüssel und schleppte sie an einen leeren Tisch hinten im Café. Sie schickte ein Stoßgebet zum Himmel, schob die Hand so tief in das Glasgefäß, dass sie auf Grund stieß, und zog eine Handvoll Karten heraus. Bea arbeitete sich durch alle Karten, drehte sie um und las eine riesige Anzahl von Namen und Telefonnummern. Große, kraftvolle Unterschriften, schwungvolle Unterschriften, Handschriften, die vollkommen unleserlich waren – aber kein einziges Wort, das von ihrem Geheimnisvollen Autor stammen konnte. Sie wiederholte den Vorgang, versenkte die Hand wieder tief in die Schüssel, holte den nächsten Stoß Karten heraus und arbeitete sich auch durch diesen, wobei sie jede einzelne genau untersuchte. Wieder und wieder wiederholte sie das Ganze, bis mehr Visitenkarten und Kassenzettel neben der Schüssel lagen als darin. Bei zwei Gelegenheiten glitt der Kellner an ihr vorbei. Er schnalzte einerseits missbilligend, schaute ihr jedoch gleichzeitig neugierig über die Schulter.

»Noch ein Schwung, dann bewegst du deinen Hintern zurück zur Arbeit«, flüsterte Bea. Sie schloss die Augen und griff sich einen weiteren Packen.

Nein – nein – ganz sicher nicht – nein – Moment mal!

Bea hielt inne. Ihre Hand hing fast vor ihrer Nase in der Luft. Zwischen Daumen und Zeigefinger hielt sie den Teil einer Kinokarte. Bea untersuchte sie genau. Sie war bereits so verblasst, dass man nur noch den Titel des Films lesen konnte, aber über der Stelle, wo der Name des Kinos stehen musste, stand in der Schrift, die sie nun schon so gut kannte: freundlichkeit. gib sie weiter.

»Das kann nicht wahr sein.« Bea überlief ein Schauer, und ihre Hände zitterten.

Rasch zog sie die Ausgabe von Meeting Oliver Bennett aus der Handtasche und verglich die Schriften miteinander, obwohl sie wusste, dass sie nicht falschliegen konnte. Sie kannte die Schrift einfach zu gut.

»Na, was gefunden?«, fragte der Kellner, der aus dem Nichts wieder neben ihr aufgetaucht war.

»Sie haben ja keine Ahnung!« Bea sprang auf, und bei dieser schwungvollen Bewegung flatterte eine Handvoll Visitenkarten zu Boden. »Darf ich die hier mitnehmen?« Sie hielt dem Kellner die Karte vor die Nase.

»Sicher, nur zu. Ist ja nur ein Abschnitt von einer alten Eintrittskarte.«

Nur ein Abschnitt von einer alten Eintrittskarte, der mir helfen könnte, diesem Geheimnis auf den Grund zu gehen.