12
»Weit aufmachen.«
Bea befolgte Zachs Anweisung, und er legte ihr ein winziges pinkfarbenes Marshmallow mit der Aufschrift »Iss mich« auf die Zunge. Sie standen in einem Zimmer mit Kronleuchtern, staubigen Büchern, einem alten Klavier und einer Handvoll Schauspielern, die als Figuren aus dem Buch von Lewis Carroll verkleidet waren. Ein Mann im pinkfarbenen Kunstfellkostüm der Grinsekatze tippte Bea auf die Schulter. Damit waren sie nun offiziell eingetaucht in diese alternative Welt von Alice im Wunderland.
»Wir sind hier alle verrückt«, sagte der Mann und kicherte sie aufdringlich an.
Zach ergriff Beas Hand. »Bist du froh, dass du mit mir ins Kaninchenloch gesprungen bist, oder hältst du mich jetzt für völlig bekloppt?«
»Du bist völlig bekloppt!«, rief Bea aus. »Aber ich verrate dir ein Geheimnis.«
»Die besten Leute sind alle verrückt.« Zach grinste, während er das Zitat aus dem Film vollendete, und Bea fühlte sich, als würde ihr ganzer Körper vor Freude strahlen.
Ein großer Mann mit einem gräulichen Bart, als Alice verkleidet, eilte an ihnen vorbei und schubste Bea gegen eine Wand mit vergilbten Buchseiten. Zach trat dicht neben sie, und sein Arm berührte ganz beiläufig ihre Hüfte. Er schob ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
Bea neigte den Kopf zur Seite. »Du weißt sicher, dass ich gleich wieder anfange, von deinem Buch zu reden. Ich muss einfach die ganze Zeit an diese Notizen denken und an die Erkenntnisse, die darin stecken, und kann mich kaum auf das konzentrieren, was der eigentliche Autor geschrieben hat.«
»Ich würde sagen, ich glaube nun mal nicht alles einfach unbesehen«, sagte Zach ruhig.
»Was hast du gemeint, als du geschrieben hast: ›Ich kenne die schnellste Möglichkeit zu reisen‹?«, platzte Bea mit der ersten von vielen Fragen heraus, die sie Zach stellen wollte.
»Na, was wohl – Bücher natürlich!«, lachte er.
Der verrückte Hutmacher, mit einem großen dunkelroten Hut und gestreiften Beinkleidern in Gelb und Schwarz, bot ihnen einen Cocktail in einer Teetasse an. Sie nahmen ihn dankbar entgegen.
Zach stieß mit ihr an. »Es kommt mir so vor, als hättest du einen ziemlich unfairen Vorsprung. Du hast meine tiefsten Gedanken gelesen und bohrst noch immer weiter, ich hingegen weiß noch überhaupt nichts über dich.«
Bea ließ die süße pinkfarbene Flüssigkeit im Mund kreisen, ehe sie sie hinunterschluckte. Sie wollte unbedingt mehr über Zachs Anmerkungen wissen, aber offenbar war hier vorerst nichts zu holen. Also ließ sie widerstrebend zu, dass er das Thema wechselte. »Was möchtest du denn gern über mich wissen?«
»Was ist dein Lieblingsbuch?«, fragte er.
Ein Mann nach meinem Herzen. »Ganz einfach. Die geheime Geschichte.«
»Dieses Buch liebe ich auch.« Er lächelte und rückte noch ein bisschen näher an sie heran.
»Wirklich?«
»War es nicht Donna Tartt, die etwas in der Art gesagt hat wie: ›Es ist besser, ein einziges Buch ganz genau zu kennen als tausend Bücher nur oberflächlich‹?«
»Angeber.« Bea schubste ihn leicht und kicherte. Sie war entzückt, dass er auf eines ihrer großen Autorinnen-Vorbilder verweisen konnte.
Eine Herzkönigin mit einem Silbertablett voller Törtchen mit Marmeladenfüllung ging an ihnen vorbei. Zach nahm sich eins, biss hinein und hielt Bea den Rest vor den Mund. Sie biss einmal ab und leckte sich die Lippen.
»Woher weißt du eigentlich so viel über Bücher? Bist du ein Autor oder ein Lektor oder ein Verleger – oder einfach nur ein Buchliebhaber so wie ich?«
»Zach Harris, Lektor bei Thelma & Clarke, sehr erfreut.« Er streckte ihr die Hand hin, und Bea ergriff sie.
»Mensch, das ist ja sexy.«
»Und du bist?«, fragte er.
»Bea Babbage, Marketingmanager bei AKDB. Ich arbeite neben dem Melbourne Writers Festival.«
»Neben?«
»Das ist eine lange Geschichte.« Bea schlürfte ihren restlichen Drink. Zach schaute sie nachdenklich an, als machte er sich im Kopf Notizen über sie.
»Ich hätte nie gedacht, dass ich mal jemanden treffen würde, der Bücher genauso liebt wie ich«, sagte er voller – war das etwa Ehrfurcht?
»Ich auch nicht«, sagte Bea. »Und wo wir gerade von Büchern sprechen, ich hätte da noch ein paar Fragen. Erstens: Wann hast du damit angefangen, Anmerkungen in deine Bücher zu schreiben?« Sie musste die Unterhaltung einfach wieder auf ihr Buch zurücklenken.
Zach fummelte einen Augenblick an seinem Jackett herum, vielleicht auf der Suche nach den passenden Worten. »Ich glaube, diese Angewohnheit hatte ich schon immer. Ob du’s glaubst oder nicht, das Lesen ist mir als Kind nicht leicht gefallen. Zum Glück war ich ein sturer kleiner Kerl und wollte unbedingt so weit kommen, dass ich Fünf Freunde lesen konnte. Ich müsste mich eigentlich bei Enid Blyton bedanken.« Er blickte gedankenverloren in seine Teetasse. »Ich bin jede Nacht aufgeblieben und hab mit einer Stirnlampe unter der Bettdecke gelesen.«
Bea stellte sich einen kleinen Jungen mit lockigem Wuschelkopf vor, der die Buchseiten mit leicht gerunzelter Stirn anstarrte, genauso wie Zachs Stirn jetzt aussah.
»Jedes Wort, das ich nicht kannte oder nicht verstanden habe, hab ich unterstrichen. Und am nächsten Morgen habe ich meine Mum mit Fragen bombardiert und ihr mein Buch mit den Unterstreichungen unter die Nase gehalten, während sie versucht hat, Frühstück zu machen.«
»Und überleg mal, was später aus dir geworden ist! Du schreibst deine eigenen Geschichten als Anmerkungen in deine Lieblingsbücher! Nimm nur mal diese eine Anmerkung, die du geschrieben hast: ›Wenn man ein Mensch unter Millionen ist, dann gibt es immer noch mehr als siebentausend Leute, die so sind wie man selbst‹ … so oder so ähnlich stand es da.«
»Ich glaube, ich habe vor allem daran gedacht, dass wir Menschen immer solche Angst vor dem Alleinsein haben. Aber selbst für den allereinsamsten Menschen gibt es irgendwo auf der weiten Welt jemanden, der genauso ist wie er selbst.«
Bea nickte. Das hätte für sie in diesem Augenblick nicht wahrer klingen können. Aber sie hatte noch mehr Fragen. Und sie hatte das Gefühl, sie gar nicht schnell genug stellen zu können.
*
Bea und Zach beendeten den Abend im hellen Glitzernebel und nur minimal angetrunken. Sie hatten die Abenteuer von Alice nacherlebt und Drinks geschlürft (es stellte sich heraus, dass die Grinsekatze nicht nur Schauspieler, sondern auch Magier und Barkeeper war und den ganzen Abend wundersamerweise Wodka-Shots aus dem Nichts erscheinen lassen konnte), hatten sich unterhalten und ganz einfach die Anwesenheit des anderen genossen. Bea hatte erfahren, dass Zach mit viel Grün im Vorort Camberwell aufgewachsen war, sich als Klassenclown einen Namen gemacht und drei Golden Retriever geliebt und verloren hatte. Außerdem hatte er eine Abneigung gegen Teigtaschen entwickelt, nachdem er die Herausforderung angenommen hatte, hundert Stück in Folge zu verspeisen (er hatte es geschafft, aber er litt noch heute an den Folgen). Und er war süchtig nach Netflix-Dokus (»Hast du schon gehört, dass die Existenz von Aliens rein statistisch eine Gewissheit ist?«, hatte er ernsthaft gefragt).
Nachdem sie schon ein paarmal gegähnt hatten, schoben sie sich durch die verbleibenden Gäste hinaus ins Freie und machten sich auf den Weg zum Bahnhof. Dort studierten sie die verschiedenen Fahrpläne, die über die Bildschirme glitten, auf der Suche nach dem schnellsten Weg nach Hause.
»Welche Linie nimmst du?«, fragte Bea und versuchte, es wie nebenbei klingen zu lassen.
»Alamein. Und du?«
»Sandringham.« Sie zögerte und suchte langsam nach ihrer Dauerkarte.
Der Abend war großartig gewesen, tatsächlich einer der wenigen wirklich guten Abende, seit sie nach Melbourne gezogen war. Und sie hatte Angst, dass er jetzt schon zu Ende gehen würde. Also holte Bea tief Luft und machte zum ersten Mal seit langer Zeit etwas Mutiges.
»Willst du noch auf einen Drink oder so mit zu mir kommen? Ich kann richtig krasse Cosmopolitans mixen«, platzte sie heraus.
Zach lächelte. Er holte seine Fahrkarte heraus und folgte ihr zu den Drehkreuzen. »Das klingt zwar sehr verlockend, aber ich hatte einen ziemlich langen Tag und sollte vielleicht besser nach Hause gehen.«
»Ja, natürlich«, erwiderte Bea etwas niedergeschlagen. Wie bescheuert von dir, Bea! Das kam viel zu früh!
»Wir sehen uns, Bea.« Zach verabschiedete sich mit einem kleinen Winken. Bea winkte zurück. Nicht mal ein Abschiedskuss? Verlegen drehte sie sich um und fühlte sich ziemlich dämlich, als sie sich auf den Weg zu ihrem Bahnsteig machte, der genau in entgegengesetzter Richtung lag. Sie fühlte sich einsamer denn je.