11
Auf dem Weg zur Arbeit schaffte Bea in der Straßenbahn nur eine einzige Seite von Meeting Oliver Bennett. So kurz die Fahrt von ihrer Wohnung in Windsor nach South Yarra war – sie hatte bei jedem kleinen Gefälle und jeder Kurve das Gefühl, sie müsste sich gleich übergeben. Bums. Hoppla. Rumpel. Aber die eine Seite, die sie schaffte, ging ihr die ganze Zeit im Kopf herum. Sie liebte es, das Großbritannien der 1940er-Jahre aus der Sicht des bärenstarken Oliver Bennett zu erleben und zu erfahren, wie er die junge Liebe mit wilder Leidenschaft durch alle Untiefen steuerte. Doch es waren die hastig gekritzelten Worte auf der Seite, von denen Bea ihre Gedanken nicht losreißen konnte. Sie lagen vor ihr auf ihren Knien wie eine Opfergabe.
Und genauso wenig konnte sie ihre Gedanken von dem Mann losreißen, der diese Notizen geschrieben hatte. Zach.
Sie ließ sich den Namen auf der Zunge zergehen. Seit sie in der neunten Klasse in Philosophie beinahe durchgefallen wäre, glaubte Bea nicht mehr an die abstruse Auffassung von Schicksal (nicht zuletzt auch, weil Cassandra vehement darauf bestand, dass so etwas Unsinn und nur was für kleine Kinder war. Das hatte sie schon mit elf Jahren gesagt). Aber ihre zufällige Begegnung hatte doch ganz entschieden etwas Besonderes an sich. Sie war dem gut aussehenden, gebräunten Mann begegnet, der die Anmerkungen geschrieben hatte, die sie so sehr beschäftigten. Und, nun ja, Schicksal war in diesem Zusammenhang das einzige Wort, das für sie irgendeinen Sinn ergab.
Bea fuhr sich mit den Fingerspitzen über die Lippen und hing der Erinnerung an den spontanen und für sie ganz untypischen Kuss nach. Bea küsste normalerweise keine Fremden. Sie war sehr wählerisch, wenn es darum ging, mit wem sie ihren Speichel austauschte (»Man weiß nie, von wem man sich einen Herpes holen kann«, pflegte ihr Dad immer zu sagen, bevor sie das Haus verließ). Aber für Bea hatte es sich so angefühlt, als würde sie Zach schon lange kennen. Die impulsiven Anmerkungen auf den Seiten des Buches hatten sie in ihrem tiefsten Innern berührt. Die Leichtigkeit und die Unbekümmertheit, mit der sie geschrieben waren, waren ihr unter die Haut gegangen.
Sie hatte es genossen, den Mann zu küssen, der dahintersteckte, und sie wollte es wieder tun. Und zwar bald.
Aber will er das auch? Bea lehnte den Kopf gegen die Fensterscheibe der Straßenbahn und schloss die Augen. Sie spürte das Rumpeln des Waggons durch ihre Fersen in den Körper dringen, die Jeans herauf und in ihr weißes Leinenshirt. Bitte lass ihn nicht so sein wie alle anderen, betete sie im Stillen. Auf einmal stand ihr wieder alles vor Augen: Momentaufnahmen enttäuschender Dates, Anrufe, die niemand beantwortete, und Sleazy Shane – der Freund, mit dem sie immer mal wieder zusammen gewesen war und dann wieder nicht. Bitte lass Zach anders sein, bitte mach, dass er seinen Anmerkungen gerecht wird! Sie hielt sich das abgenutzte Exemplar von Meeting Oliver Bennett dicht vors Gesicht und sog seinen Geruch ein. Der holzhaltige Geruch der Seiten riss sie für kurze Zeit aus ihrem Kater. Sie lächelte, während sie ihr Gesicht noch tiefer zwischen den Seiten vergrub. Sie dachte an Ströme von Worten und Notizen, an Grübchen und breite Schultern, an Zitrone und Cola und an Zach, Zach, Zach.
»Mensch, nimm dir doch ein Zimmer«, knurrte ein Junge neben ihr und schnipste mit dem Finger gegen das Buch.
Bea machte die Augen auf, senkte das Buch und lachte. »Keine Sorge. Das werde ich.« Sie holte ihr Telefon heraus, um Cassandra von dem Mann zu schreiben, den sie kennengelernt hatte. Sie schickte ihr eine rasche Nachricht und schrieb dann einen Post für ihren Instagram-Account. Dafür benutzte sie ein Foto, das sie vor ein paar Tagen gemacht hatte.
Halloistdasdeinbuch
Anmerkung des Tages: Lass deine Hemmungen fallen.
LEUTE, ICH HABE DEN GEHEIMNISVOLLEN AUTOR GETROFFEN! Den Geheimnisvollen Autor himself! Ich war in einer Bar, und da hat er sein Buch wiedererkannt. Er ist genauso wundervoll, wie wir ihn uns vorgestellt haben, und mit seinem Gesicht kann er Joshua Templeman aus Sally Thornes Küss mich, Mistkerl! Konkurrenz machen.
*
Trinken macht die Menschen interessanter, stand in krakeliger Schrift auf ihrem Kaffeebecher, und Bea las es laut vor.
»Das ist von …«
»Ich weiß, Hemingway. Ha, ha – sehr lustig«, sagte sie. Bea sah heute Morgen wirklich sehr mitgenommen aus. Sie war mehr oder weniger in The Nook hineingestolpert und hatte um ihre tägliche Ladung Koffein gebeten. Ihre sonst so lockigen, voluminösen Haare waren zu einem unordentlichen Knoten hochgesteckt, der ihr schief auf dem Kopf saß, und ihr Oberteil war ganz fürchterlich verknittert. Dino hatte sie nur finster angeschaut und ihr den Kaffee hingestellt, ohne ein Wort zu sagen, bis sie das Zitat gelesen hatte.
Bea kippte den Kaffee hinunter. »Was ist denn?«
Dino zuckte mit den Schultern und wandte sich ab, um den nächsten Kunden zu bedienen. Bea verdrehte die Augen, spielte mit dem Fell von Agatha Christie herum und schaute Dino zu, wie er Kakaopulver über seine neueste Kreation verteilte und den Deckel schwungvoll auf den Take-away-Becher drückte.
»Und, ist da gestern Nacht was gelaufen zwischen dir und diesem lächerlich konventionellen Typ?«, fragte er schließlich. Bea mochte es, wie Dino in die Sprache eines klatschsüchtigen Teenagermädchens zurückfiel, wenn er unter Druck stand.
Sie lachte. »›Lächerlich konventionell‹? Wovon redest du da eigentlich? Übrigens, sieht Agatha heute nicht ein bisschen dicker aus als sonst?«
»Versuch nicht, das Thema zu wechseln«, sagte Dino, während er die Croissants auf der Theke so arrangierte, dass sie eine perfekt symmetrische Pyramide bildeten. Er stellte einen Miniatur-Eiffelturm daneben. »Jetzt komm schon, der sah doch so aus, als käme er geradewegs von den Dreharbeiten zu Gossip Girl.«
Bea spürte, wie ihr die Röte den Hals hinaufkroch, allein beim Gedanken an den Gossi-Girl-ähnlichen Menschen, mit dem sie vor weniger als zwölf Stunden erst geknutscht hatte. Sie tat Dinos Bemerkung mit einer Handbewegung ab. »Ich hab nur seine Telefonnummer gekriegt, das ist alles. Ich fand ihn echt süß.« Offenbar war sie jetzt eine dieser Frauen geworden, die nicht über ihr Liebesleben sprachen. »Und konventionell ist er wohl kaum. Er liest. Und er schreibt!«
Dino starrte sie an. »Soll ich jetzt etwa überrascht sein, dass er kein Analphabet ist?«
»Er kann nicht nur schreiben, er ist ein verdammter Dichter!«
Dino hob nur zweifelnd eine Augenbraue.
»Na ja, nicht so ein Dichter wie du«, gab sie zu. »Aber ich bin in der Kleinen Buchhandlung in der Brunswick Street – da solltest du übrigens auch mal hingehen – auf ein Buch gestoßen, dass er ihnen verkauft hatte und in das er ganz viele Notizen gemacht hat. Das Buch ist fast von oben bis unten vollgeschrieben! Da stehen jede Menge unglaubliche Einsichten zur Handlung des Buches und lauter weltgewandte Beobachtungen und Parallelen, die er zu seinem eigenen Leben zieht.« An diesem Punkt gestikulierte Bea bereits so wild, dass selbst Agatha Christie schon überrascht zu ihr aufzublicken schien. Sie konnte ihre Entdeckung einfach nicht mehr für sich behalten. »Wie auch immer, er scheint wirklich interessant zu sein.«
»Klingt nach einem tollen Fang. Gut gemacht!«
»Mmm, das Buch – also Zach – der scheint wirklich was ganz Besonderes zu sein.«
»Du solltest aber den Tag nicht vor dem Abend loben.«
»Danke für den Tipp, du Optimist! Ist es denn so schlimm, wenn man mal ein bisschen träumt?« Grollend warf Bea eine Serviette nach Dino, der er gewandt auswich. »Und jetzt gib mir bitte ein Schokomuffin, ehe ich hier verhungere«, sagte sie.
Dino reichte ihr vorsichtig das Gebäck über die Theke. »Tja, ich weiß, dass ich keine Marginalien-Literatur verfasse, aber kommst du heute Abend wieder zu meinem Poetry-Slam?«
»Klar. Jede Poesie ist gute Poesie!«, sagte Bea, den Mund voll Muffin.
*
Bea rückte mit dem Stuhl an die äußerste Ecke ihres Schreibtischs und schlug Meeting Oliver Bennett auf. Sie wartete darauf, dass die Wirkung der Kopfschmerztablette, die sie gerade genommen hatte, einsetzte und dass ihre Eltern kamen. Die beiden hatten darauf bestanden, dass Bea sie an ihrem neuen Arbeitsplatz herumführte und sie anschließend gemeinsam mittagessen gingen. Bea ließ den Blick schon wieder langsam über die Anmerkungen im Buch gleiten, die sie einfach nicht ignorieren konnte, und sog sie regelrecht in sich auf:
wie kann etwas so kleines meine ganze welt erfüllen?
Jetzt, wo sie wusste, dass Zach hinter diesen Bemerkungen steckte, fühlten sie sich alle noch viel persönlicher an. So echt. Was ging ihm sonst noch so durch den Kopf? Sie stellte sich vor, wie er mit seinen starken Händen den Kugelschreiber umfasst hielt, wie es in seinem Kopf arbeitete, wie er seine Gedanken aufs Papier strömen ließ. Noch nie im Leben hatte sie so viele Anmerkungen gesehen, und jede einzelne davon mit einer derartigen Bedeutung aufgeladen! Sie breiteten sich auf den Seiten aus, als würden sie ihr Revier markieren. Bea ließ die Finger über die Seiten des Buches gleiten, sie glitten über die eng geschriebenen Kleinbuchstaben, erfassten jedes noch so kleine Detail.
»Bea, Liebling«, gurrte eine herzliche Stimme und holte Bea wieder in die Welt zurück. »Ich glaub es kaum, dass das hier wirklich dein Schreibtisch ist!«
Rasch schob sie Meeting Oliver Bennett unter ein paar herumliegende Blätter, schob ihren Stuhl zurück und umarmte ihre Mutter. Sie dankte der Sekretärin, die ihre Eltern heraufgeführt hatte, und küsste ihren Dad zur Begrüßung auf die Wange.
Maggie beugte sich zu ihr hin und legte ihr den Arm auf den Rücken. »Und jetzt, Liebling, zeig mir mal, wo ihr eure großen Besprechungen abhaltet.«
Bea führte ihre Eltern zum Sitzungsraum, lächelte milde die Kollegen an, an denen sie vorbeikamen, und hoffte, sie verstellte sich gut genug, um auf ihre Eltern wie eine wertgeschätzte Kollegin zu wirken, die in das professionelle und soziale Umfeld des Teams gut integriert war. Maggie und Martin waren begeistert und blieben alle paar Schritte stehen, um ein Whiteboard mit einigen unausgegorenen Ideen vom Brainstorming zu bewundern. Sie baten Bea auch, sie der einen oder anderen Kollegin vorzustellen, aber das ignorierte Bea taktvoll. Als sie wieder in die Nähe ihrer Bürozelle kamen, merkte Bea, wie ihr Telefon in ihrer Gesäßtasche vibrierte. Eilig holte sie ihr Telefon heraus.
Zach: Es war wunderbar, dich gestern Abend kennenzulernen, Bea.
»Oh Gott«, flüsterte Bea vor sich hin.
»Was ist denn, Liebling?«, fragte Martin.
»Ach, nur eine Mail von meinen Vorgesetzten, mit der sie mir zu meinen letzten Vorschlägen gratulieren. Sie sind echt beeindruckt.«
Maggie klatschte freudig in die Hände. »Oh, die Mail wollen wir auch lesen!«, flötete sie und schnappte sich kurzerhand Beas Telefon. Als sie die Nachricht auf dem Display sah, runzelte sie die Stirn. »Wer ist denn Zach?«
Bea schauderte sichtlich. Sie fürchtete die Unterhaltung, die jetzt unweigerlich folgen würde. »Nur ein Freund, Mum.«
»Aber nicht zufällig ein Freund mit gewissen Vorzügen?«
»Ach, Mum!« Beas Mutter übertrieb es ganz entschieden mit ihrer Ausdrucksweise als Möchtegern-Junggebliebene.
»Liebling, das ist ja wunderbar. Du musst sofort antworten.«
Bea nahm ihrer strahlenden Mutter das Telefon aus der Hand und steckte es wieder ein. »Danke, Mum, das werde ich tun.«
»Auf der Stelle.«
»Du hörst doch, was deine Mutter sagt.« Beide Eltern starrten sie jetzt erwartungsvoll an.
Langsam zog Bea ihr Telefon wieder hervor und schrieb eine Nachricht.
Bea: Find ich auch, Zach. Tut mir nur leid, dass du gleich die sturzbetrunkene Bea kennengelernt hast.
Ehe sie das Telefon wegstecken konnte, vibrierte es erneut. Ihre Eltern nickten ihr ermutigend zu.
Zach: Gar nicht schlimm, war mir ein Vergnügen. Aber die nüchterne Bea würde ich auch gern kennenlernen.
Bea: Das würde ihr gefallen.
Zach: Wie wär’s mit heute Abend? Ich hab zwei Eintrittskarten für Alice Underground, eine davon für dich.
Bea seufzte. Heute Abend?
»Und?«, fragten M&M wie aus einem Mund.
»Er möchte sich heute Abend mit mir treffen.«
Beas Eltern jubelten, nahmen sie in den Arm und begannen, mit ihr in der Mitte im Kreis zu hüpfen. Bea zuckte zusammen und erinnerte ihre Eltern daran, dass sie sich hier an ihrem Arbeitsplatz befanden.
»Ich wollte heute Abend eigentlich zu Dinos Poetry-Slam.«
»Ist das dein Barista-Freund, der nicht mit Latte Art arbeitet?«, fragte Maggie. »Ich bin sicher, er hat Verständnis, wenn du nicht kommst. Wann hast du eigentlich zum letzten Mal ein Date gehabt, Liebes?«
»Das besprechen wir nicht jetzt, Mum.« Bea lächelte halbherzig, als zwei ihrer Kollegen auf dem Weg zu einem Meeting an ihnen vorbeikamen.
»Schatz.« Martin fasste Bea an beiden Händen. »Nutz diese Chance. Du musst endlich mal wieder mehr unter Leute. Denk einfach daran, was deine Schwester jetzt machen würde.«
Beas letztes Date lag tatsächlich gefühlt bereits Jahre zurück. Einige Zeit vor Cassandras Hochzeit war sie gelegentlich mit einem ganz besonders scheuen Herrn namens Paul ausgegangen – aka »Warum habe ich bei Tinder bloß nach rechts gewischt?« – , der sich vom Acker gemacht hatte, als sie ihn gefragt hatte, ob er sie nicht zu Cassandras Hochzeit begleiten wollte. Diese Zurückweisung, zusammen mit den traumatischen Ereignissen der Hochzeit selbst, hatte Bea dazu bewogen, den Männern abzuschwören. Bis sie Zach begegnet war.
»Jetzt komm schon, Liebes. YOLO«, murmelte Maggie sanft.
Bea: Diese Theater-Show zum Eintauchen? Da würd ich irre gern reingehen!
Zach: Fantastisch! Treffen wir uns doch heute Abend um acht im Melbourne Central Shopping Centre unter der Uhr?
Bea: Bis dann x
»Und, seid ihr nun zufrieden?« Bea streckte ihren Eltern das Telefon hin, damit sie mitlesen konnten, und senkte den Kopf, als ihr klar wurde, wie tief sie gesunken war, dass sie jetzt schon Datingtipps von ihren Eltern annahm.
»Ich bin begeistert!«, flötete Martin. »So, habt ihr jetzt auch Hunger?« Er legte Bea und Maggie die Arme um die Schultern und führte sie zum Aufzug, während Bea erneut ihr Telefon herausholte.
Bea: Ich kann heute Abend leider doch nicht. Tut mir leid, Dino! Beim nächsten Mal bin ich wieder dabei. Versprochen!