22
Bea, Zach und Dino wandten sich mit neuer Aufmerksamkeit um und sahen eine Frau mittleren Alters hereinkommen. Sie trug einen langen Bleistiftrock aus Jeansstoff und ein Seidenhemd in grellen Farben, das voller Rüschen und bis zum Hals hinauf zugeknöpft war. In der einen Hand hielt sie Harry – ein Leben zwischen Liebe und Verlust, in der anderen einen Teller mit Keksen. Sie bewegte sich langsam und besonnen auf Bea zu, die dasaß, als wäre sie gelähmt oder an ihrem Stuhl festgeklebt. Sie hatte kurzzeitig vollkommen vergessen, dass sie hier doch die Gastgeberin war. Die Dame blieb etwa einen Meter vor Bea stehen und lächelte ein wenig gekünstelt. Bea starrte fasziniert auf einen Fleck hellrosa Lippenstift an ihrem Schneidezahn.
»Ich bin Ruth! Ich bin Royalistin, lese gern historische Liebesromane und Familiensagas und höre seit Neuestem den Podcast By George: A Royal Family Appreciation. Es ist mir ein Vergnügen, hier zu sein«, sagte sie und rollte die Rs ein bisschen.
Nach einer Pause, die einen Tick zu lang dauerte, sprang Bea auf, schüttelte Ruth heftig die Hand und nahm ihr den Teller mit Keksen ab, den sie ihr auffordernd hingehalten hatte. »Herzlich willkommen, Ruth«, quiekte sie und dann umarmte sie die nichts ahnende Frau impulsiv-liebevoll. »Du hättest doch nichts zu essen mitbringen müssen. Das ist aber lieb von dir!«
Ruth löste sich ein bisschen verlegen aus der Umarmung und zog ihren Rock zurecht, der ein wenig verrutscht war. »Ach, ich backe doch so gerne. Das hier sind Müslikekse, Diana’s Muesli. Die Firma, die ich damals in den Achtzigern in meiner Küche gegründet habe. Natürlich nach der Prinzessin benannt.« Ruth legte die Hand aufs Herz und schaute ernst drein.
»Diana’s Muesli?«, fragte Bea leicht schockiert. »Meinst du etwa das riesige Unternehmen, bei dem halb Melbourne arbeitet? Die bekannteste Müslimarke von ganz Australien? Dieses Diana’s Muesli?« Bea starrte verblüfft die ein wenig nachlässig gekleidete Frau an, die da vor ihr stand.
»Ja, genau das meine ich. Zwei verschiedene Diana’s Mueslis wird es ja wohl nicht geben, oder?«, sagte Ruth ein wenig steif, dann lachte sie. »Ich hab die Firma vor zwei Jahren an den Lebensmittelkonzern Heinz verkauft. Also habe ich jetzt ziemlich viel Zeit, um Veranstaltungen wie diese hier zu besuchen.« Sie machte eine Geste, die das ganze Café umfasste.
»Wie hast du von Next Chapter erfahren?«, fragte Bea.
»Ich hab die Facebook-Seite von Next Chapter als Empfehlung bekommen«, antwortete Ruth. »Normalerweise ist Facebook nicht mein Fall. Ich finde, da gibt es zu viele Baby- und Essensfotos. Die Hundefotos gefallen mir aber, besonders wenn es Bilder von Corgis sind, wie die Queen sie hat. Ansonsten kann ich Facebook nicht ausstehen. Das ganze Bedürfnis, jeden geschmacklosen Gedanken und jede winzige Errungenschaft der ganzen Welt mitzuteilen. Da hat nun jemand portugiesische Törtchen gemacht – eine Wahnsinnssache!«
Bea hing Ruth an den Lippen und nickte krampfhaft. Ein Gast! Sie hatte einen Gast! Einen unglaublich erfolgreichen Gast mit wirtschaftlichem Durchblick (und irgendwo auch ein bisschen merkwürdig), den sie zuvor nicht gekannt hatte, mit dem sie nicht verwandt war und den sie auch nicht datete. Sie war entzückt, fast schon berauscht! Vielleicht schaffe ich’s ja doch noch, die Sache zum Laufen zu kriegen?
»Normalerweise würde ich mein Frettchen zu so einem Event mitbringen, aber Socialising wochentags nach acht würde seinen Schlafrhythmus durcheinanderbringen, falls du verstehst, was ich meine.« Sie stupste Bea mit überraschend viel Kraft an. »Aber die Gelegenheit, über Bücher zu sprechen, schien mir ein angemessener Vorwand zu sein, um zumindest für mich eine Ausnahme zu machen.«
»Ach, ich freu mich ja so, dass du da bist, ich freu mich riesig«, sprudelte Bea hervor und biss in einen Keks von Diana’s Muesli. Einfach köstlich!
Zach kam zu ihnen herübergeschlendert und legte Bea den Arm um die Taille. Ruth schien diese Geste mit leichtem Misstrauen zu betrachten. Er schaute sie mit dem für ihn typischen Lächeln an und stellte sich vor.
»Bist du Anhänger der Republik?«, fragte Ruth und schaute Zach misstrauisch von oben bis unten an.
»Ich kann nicht behaupten, dass ich da viele Gedanken dran verschwendet habe«, antwortete Zach. »Bea, es könnte jetzt an der Zeit sein, die Veranstaltung zu eröffnen.«
Bea nickte entschieden, hakte Ruth unter und führte sie zu einem Tisch. Sie setzte sich ihr gegenüber, holte tief Luft und schaute zu, wie Dino auf einen Stuhl stieg.
Er ließ die Knöchel krachen und sah plötzlich fast nervös aus. Seine Augen sprühten noch mehr als sonst. Lizzie fotografierte mit irrsinniger Geschwindigkeit für Instagram.
»Also … Vielen Dank, dass ihr gekommen seid«, murmelte Dino.
Der zusammengewürfelte Haufen vor ihm applaudierte. Lizzie bedeutete ihm, stärker zu lächeln.
Dino fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. »Das hier ist etwas ganz besonders Aufregendes für Bea«, sagte er und deutete auf sie. Bea wurde knallrot, als alle sie anschauten. »Sie will jetzt schon eine ganze Weile mal ein bisschen was anderes machen – und, na ja, das hier scheint einfach perfekt zu sein. Ich meine, Bücher und Kaffee – es gibt im Leben doch kaum ein größeres Vergnügen.«
Ein unterdrücktes Lachen von Zach, und ein leiser Zustimmungsruf von Ruth.
»Nun ja, ich bin kein großer Redner, ich bin eher ein Dichter. Also, ähm, dann stürze ich mich mal in das, was ich für heute Abend verfasst habe.«
Er zog ein zerknittertes Blatt aus der Tasche und schaute einen Augenblick zu lang darauf. Merkwürdig, wie nervös er wirkt, dachte Bea. Dino war doch sonst nie nervös.
Zwischen Seiten und Regalen
steht ein Abbild, das wir waren,
das wir sind.
Ruht nicht, harrt nicht, steht nicht still,
bewegt sich, findet, was es will,
ganz geschwind.
Doch wird sich endlich alles wandeln?
Nein, versprochen ist das nicht.
Doch sind wir nur bereit zu handeln,
ein Neuanfang sich wohl verspricht …
Er machte eine Pause, räusperte sich und fuhr dann fort. »Und nun möchte ich gern die Frau auf die Bühne bitten, die das Ganze möglich gemacht hat. Sie wird uns die Spielregeln für den heutigen Abend erklären. Die Frau, deren drei große Leidenschaften im Leben folgende sind: Donna Tartt, Preisausschreiben für Einsendungen mit fünfundzwanzig Worten und Strong Skinny Latte. Bühne frei für Bea Babbage!«
Bea biss sich auf die Lippe und winkte verlegen, während sie zu Dino hinüberging. »Du liebe Güte, danke, Dino, das war wunderbar.« Sie drückte ihm dankbar die Schulter. »Also – seid ihr je auf der Suche nach dem perfekten Buch gewesen? Seid ihr es leid, euch durch Bücher zu kämpfen, die sich in der Theorie wie für euch geschaffen anhören, die aber, wenn ihr sie in der Hand haltet, nicht das Richtige für euch sind?« Bea warf einen Blick auf Ruth. Sie hielt die Hände vor der Brust umklammert und nickte zu Beas Worten. »Also ich bin es jedenfalls leid. Und deshalb haben wir Next Chapter ins Leben gerufen! Ihr bringt einfach euer derzeitiges Lieblingsbuch mit und stellt es fünf Minuten lang derjenigen Person vor, die an eurem Tisch auftaucht. Wenn es ihr gefällt, leiht sie es sich von euch aus. Wenn nicht, geht es weiter zum nächsten Tisch. Seid ihr bereit?«
Ruth jubelte.
»Und vergesst nicht, wenn ihr geht, für die Brustkrebsforschung zu spenden!«, quiekte Lizzie aus einer Ecke des Cafés, ehe sie ihr Telefon herumriss und ein Selfie machte.
»Auf die Plätze, fertig, empfehlt!«, rief Bea und stellte die Weckfunktion auf ihrem Handy auf fünf Minuten ein. Dann kehrte sie an Ruths Tisch zurück. Sie sah gerade noch, wie Zach einen Stuhl zu Lizzie hinüberzog, die das einzige Buch mitgebracht hatte, das sie in ihrem ganzen Leben gelesen hatte: Dating für Einsteiger von Zoë Foster und Hamish Blake.
»Hochzeiten mit Bürgerlichen kann ich ja gar nicht ausstehen«, begann Ruth ihren Vortrag. »Die jungen Prinzen heutzutage haben einfach keinen Respekt mehr vor der Tradition. Es ist wirklich erstaunlich, findest du nicht auch?«
Bea runzelte die Stirn und schaute hinunter auf das Buch, das Ruth mitgebracht hatte. Prinz Harry und Meghan Markle, die Köpfe leicht zueinander geneigt, lächelten sie an. Sie hörte aufmerksam zu, während Ruth sich über die erbärmlichen dramaturgischen Fähigkeiten der Drehbuchautoren von The Crown ausließ und darüber, wie Harry, einst der missratene Prinz, es geschafft hatte, eine ganze Nation um den Finger zu wickeln, was Ruth ungläubig und mit großer Missbilligung zur Kenntnis genommen hatte. Und dann waren ihre fünf Minuten um. Ruth atmete tief aus. Sie lächelte kurz und nickte Bea zu als Zeichen, dass sie jetzt dran war.
Keine halbe Minute nachdem Bea begeistert über das Meisterwerk Ein einfaches Leben von Min Jin Lee losgelegt hatte, tippte ihr jemand auf die Schulter. Bea drehte sich um. Ruth gab ein lautstarkes Schnaufen von sich, das ahnen ließ, wie verärgert sie über die Störung war. Ein kleiner, unvorteilhaft gekleideter Mann stand vor Bea, eine rote Rose in der Hand. Ihr Herz machte einen Satz. Noch ein Gast! Das ist wirklich wahr!
»Ich suche Lizzie Babbage.«
»Wie bitte?«, fragte Bea und stand langsam auf.
»Lizzie aus dem Bachelor. Ich bin gekommen, weil ich sie sehen möchte.«
Bea starrte den Mann an, der vor ihr stand und leicht schwitzte. Das ist ja mal wieder typisch.
Er beugte sich näher zu ihr, sodass sie sein Aftershave riechen musste, das er viel zu großzügig aufgetragen hatte. »Sie wissen nicht zufällig, ob sie Single ist, oder?«, fragte er und drückte seine Rose erwartungsvoll an die Brust.
Bea verdrehte die Augen, informierte ihn darüber, dass Lizzie verheiratet war und Zwillinge hatte, und sah zu, wie er genauso schnell wieder zur Tür hinaushuschte, wie er hereingekommen war. Sie entschuldigte sich von ganzem Herzen bei Ruth und beendete ihre Liebeserklärung an Ein einfaches Leben, bis der Wecker verkündete, dass die Zeit abgelaufen war. Ruth stand auf, setzte sich an Lizzies Tisch und begann erneut mit ihrem Monolog, während Bea sitzen blieb.
»Na, wenn das nicht Bea Babbage höchstpersönlich ist.« Dino setzte sich ihr gegenüber, eine Ausgabe des Gedichtbands Die Dunkelheit zwischen den Sternen unter dem Arm. Sein Haar war zerzaust und hing ihm locker in die Augen.
»Ich weiß, dass du Ein einfaches Leben schon gelesen hast«, antwortete Bea.
»Die Geschichte hat uns verraten … und so weiter und so fort.« Bei seinem Versuch, aus dem Roman zu zitieren, wurde es Bea warm ums Herz.
»Alter Angeber.« Sie sah, dass Ruth am anderen Tisch wild gestikulierte, Lizzie das Buch vor die Nase hielt und es heftig schwenkte. Bea war sicher, gerade ein »Lang lebe die Königin!« gehört zu haben.
»Da hast du recht, das da hab ich schon gelesen.« Dino wies auf das Buch und lenkte Beas Aufmerksamkeit wieder an ihren Tisch zurück. »Verkauf mir deine Geschichte.«
»Was?«
»Verkauf mir die Geschichte von Bea Babbage«, sagte Dino, lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf.
»Da gibt es nichts zu erzählen.« Sie zuckte mit den Achseln und spielte mit den Seiten ihres Buches herum.
»Da gibt es ganz viel zu erzählen.«
»Ich bin langweilig, ungeschickt und lächerlich.«
»Du bist ziemlich großartig, leidenschaftlich und verdammt mutig.«
»Ja, schon klar«, tat Bea seine Worte ab.
Dino warf ihr einen Blick zu, der zu sagen schien: Mich kannst du nicht an der Nase rumführen, Babbage.
Bea schaute verlegen auf ihr Buch.
»Deine Augen leuchten dabei immer auf, weißt du das?«
»Wann?«, fragte Bea.
»Wenn du ein Buch anschaust, das du liebst. Sie werden dann noch größer, als sie schon sind, was man eigentlich gar nicht für möglich halten sollte. Und dann ist es, als würden sie anfangen zu tanzen. Ich hab noch nie jemanden getroffen, der so glücklich aussieht. Es ist ansteckend.«
»Ich hab gar nicht gemerkt, dass du mich so genau beobachtet hast. Das ist ja unheimlich.« Bea versuchte, Dinos plötzliche Offenheit lachend abzutun, aber er lachte nicht mit. Im Gegenteil, er sah ernster aus als je zuvor, öffnete den Mund und wollte etwas sagen, als Lizzie plötzlich auftauchte.
»Bea«, zischte sie.
»Ja, Lizzie?«
»Es geht um Zach«, murmelte sie.
Bea schaute sich um, aber er war nirgends in Sicht.
»Er hat gerade – na ja, er hat mich angegrabscht«, sagte Lizzie sehr ernst.
»Was?« Bea spürte, wie sie fröstelte. Sie verspürte plötzlich das dringende Bedürfnis, sich unter ihre Bettdecke zu verkriechen und Deine Juliet zu lesen.
Der Handywecker ertönte von Neuem. Hektisch tippte sie auf das Display, um ihn zum Schweigen zu bringen. Endlich hatte sie ihn ausgestellt, aber sowohl Dino als auch sie blieben sitzen. Bea fiel auf, dass Dinos Hände zu Fäusten geballt waren, so fest, dass sie ganz weiß waren. Bea schüttelte den Kopf. Das ist typisch Lizzie. Sie meint immer, alle würden sie anmachen.
»Wenn ich’s dir doch sage, Bea. Er hat schon den ganzen Abend mit mir geflirtet, und gerade eben hat er versucht, mir in den Hintern zu kneifen!« Lizzies Stimme rutschte eine Oktave höher.
Bea warf einen kurzen Blick auf Dino, der die Zähne zusammenbiss, und seufzte. Sie wollte hier keine Szene machen. Lizzie starrte sie an und wartete auf eine Antwort.
Bea seufzte. »Lizzie, ich bin sicher, du hast die Situation missverstanden. Er ist ein sehr offener Mensch und wollte wahrscheinlich einen guten Eindruck auf dich machen, weil du meine Schwester bist.«
»Bea, ich sag dir doch, das konnte ich gar nicht missverstehen. So was passiert mir die ganze Zeit, weil ich berühmt bin. Aber ich hätte nie gedacht, dass das bei einem …«
»Bei einem … was, Lizzie? Du hättest nie gedacht, dass das bei einem Typen passieren würde, mit dem ich ausgehe? Genauso wie du in meinem ersten Jahr an der Uni gedacht hast, mein Freund Luke würde dich anmachen, und genauso wie du dir todsicher warst, dass Jake dir die letzte Rose geben würde? Es ist nun mal nicht jeder in dich verliebt, Lizzie! Ich hab es wirklich gründlich satt, dass du so tust, als würde es immer nur um dich gehen. Das sollte eigentlich mein Abend werden!« Bea war jetzt ein bisschen zu laut geworden. Das hier war jetzt wirklich der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Bea konnte ihre Frustration nicht länger unterdrücken, dass Lizzie alles und jeden so hindrehte und manipulierte, damit es zu ihren Plänen passte. »Tut mir leid, Lizzie, ich habe heute Abend keine Rose für dich.«