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O Mann, was für ein Tag!, dachte Bea, als sie zu Bett ging. Sie steckte ihr Telefon zum Laden ein und drehte sich bequem auf die Seite. Dann nahm sie Meeting Oliver Bennett vom Nachttisch, schlug das Buch irgendwo auf und vertiefte sich in die kursiven Notizen. Den Haupttext ignorierte sie völlig. Die Kritzeleien nahmen sie in Beschlag wie ein eigenes gutes Buch, und sie fühlte sich beim Lesen rundherum wohl. Genüsslich sog sie den Geruch des Buchs ein und wünschte sich, dieses Gefühl würde nie vergehen.

Gerade wollte sie sich der nächsten Notiz zuwenden, als sie ganz schwach sichtbar ein mit Bleistift gezeichnetes Schnabeltier entdeckte, unten rechts in der Ecke auf Seite 72. Es war so blass, dass Bea es bisher jedes Mal übersehen hatte. Unter der Zeichnung stand, ebenfalls so leicht mit Bleistift, dass es wirkte, als wäre die Schrift wieder ausradiert worden: keiner ist so wie du.

Bea lächelte über das teilweise im Wasser lebende, eierlegende australische Säugetier mit dem entenartigen Schnabel, das so vollkommen einzigartig war. Sie nahm ihr Telefon wieder zur Hand, machte ein Foto von der Zeichnung und wollte gerade ihre Instagram-App öffnen, als eine E-Mail-Benachrichtigung erschien. Sie stammte von Mia Molesworthy.

Beas Herz setzte einen Schlag aus. Mia arbeitete als Marketingassistentin bei Thelma & Clarke, und sie hatten sich im vergangenen Monat kennengelernt. Bea hatte nämlich mehrmals im Verlag angerufen, weil sie einfach nicht glauben konnte, dass Zach wirklich nicht dort angestellt war. Eines Nachmittags war die Empfangsdame von Beas Anrufen derart genervt gewesen, dass sie sie zu Mia durchgestellt hatte. Bea war mit ihrer ganzen Geschichte herausgeplatzt, und Mia hatte ihr, zu Beas großer Überraschung, mit einer Mischung aus Entsetzen und Faszination gelauscht. Seitdem standen die beiden in E-Mail-Kontakt und tauschten sich aus über Bücher, Rezensionen und Klatsch. Bea wischte über das Display und las die Mail.

An: beababbage@gmail.com

Von: molesworthym@thelmaandclarke.com

Betreff: Du schuldest mir was

Bea!

Weißt du noch, wie du mir erzählt hast, dass du davon träumst, eine eigene Marketingagentur zu gründen? Tja, möglicherweise hab ich dir gerade einen ersten Kunden an Land gezogen. Thelma & Clarke plant in ein paar Monaten eine Kampagne für den neuen Krimi von Cecilia Beechworth, und ich hab deine neue Agentur als möglichen Kandidaten für eine Zusammenarbeit angepriesen. Jetzt würde meine Chefin dich gern kennenlernen. Hast du irgendwann in den nächsten Tagen Zeit, im Verlag vorbeizukommen? Lass mich jetzt bloß nicht hängen.

M x

An: molesworthym@thelmaandclarke.com

Von: beababbage@gmail.com

Betreff: Re: Du schuldest mir was

WAAAAAAS! ICH SITZE HIER UND SCHNAPPE NACH LUFT!

Weißt du überhaupt, dass das mein absoluter Traum ist? Ich LIEBE Cecilia Beechworth! Vertrau mir, ich lass dich AUF KEINEN FALL hängen. Ich werde Tag und Nacht arbeiten. Sag mir, wann es euch passt, und ich bin sofort da.

KÖNNTE SEIN, DASS ICH DICH AB JETZT LIEBE!

B x

PS: Ich habe auch schon einen Namen für meine Agentur: Schnabeltier. Keiner ist so wie wir.

An: beababbage@gmail.com

Von: molesworthym@thelmaandclarke.com

Betreff: Re: Re: Du schuldest mir was

Schnabeltier. Finde ich super! Australisch, liebenswert, unverwechselbar – genau wie du.

Komm am Donnerstag um elf ins Büro, bring ein paar Ideen mit und ein paar Infos zu einer neueren Kampagne von dir. Mach dich bereit, uns zu begeistern!

xx

Bea legte ihr Handy zur Seite, setzte sich im Bett auf und stieß einen begeisterten Schrei aus. »Wir haben’s geschafft, Geheimnisvoller Autor! Wir haben’s geschafft!«, jauchzte sie, nahm Meeting Oliver Bennett und gab der blassen Zeichnung einen dicken Schmatzer mitten auf den Schnabel.

*

»Liebe Güte, Lizzie – das war vielleicht heftig!«, rief Bea in ihr Telefon. Sie kam gerade von Thelma & Clarke in South Yarra und ging rasch die Straße entlang. Die kalte Luft schlug ihr entgegen, Fußgänger drängten sich unachtsam an ihr vorbei, hypnotisiert von den winzigen Displays, die sie in der Hand hielten. »Ich habe Mia Molesworthy endlich persönlich kennengelernt, weißt du, die Marketingassistentin, von der ich dir erzählt hab. Sie ist ganz reizend. Aber Janine, ihre Chefin, die ist noch einmal eine ganz andere Nummer, wirklich unglaublich. Sie hat so gut wie jede bahnbrechende Marketingkampagne verantwortet, die das Verlagswesen je gesehen hat, sie hat die komplette Marketinglandschaft komplett umgekrempelt! Ach, und Liz, sie ist so was von glamourös. Sie trug Versace!« Bea eilte an ein paar Teenagern vorbei, die vor dem Supermarkt standen.

»Du liebe Zeit, Bea! Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass du in dieser Situation gut zurechtgekommen bist. Du bist ja in Gegenwart von gut gekleideten Leuten in der Regel nicht gerade selbstbewusst«, lachte Lizzie, während die Zwillinge im Hintergrund quäkten. Bea ignorierte die unsensiblen Worte ihrer Schwester. Sie war immer noch ganz in Anspruch genommen von ihrem heutigen aufregenden Vormittag, also erzählte sie einfach weiter.

»Nun ja, ich weiß nicht, wie ich gewirkt habe, aber offenbar konnte ich sie überzeugen. Ich hab einiges an Fakten zum Markt sowie Zahlen und Ideen für eine Kampagne herausgesprudelt, und die beiden hingen mir an den Lippen. Janine hat gesagt, sie freut sich, mir eine Chance zu geben, und Mia und ich treffen uns bald, um über den Auftrag zu sprechen!« Bea stieß einen kleinen überglücklichen Jubelschrei aus.

»Was für eine schöne Überraschung, Bea! Natürlich muss ich dir da eine neue Garderobe zusammenstellen. Jetzt, wo du Geschäftsfrau bist, kannst du schließlich nicht in Flanell herumlaufen.« Lizzie kicherte. »Wo wir gerade von Garderobe sprechen, hab ich dir eigentlich schon erzählt, dass ich vielleicht eine Modelkampagne für The Iconic mache? Sie überlegen sich, ob sie ein paar ehemalige Bachelor-Kandidatinnen nehmen – da haben sie allerdings keine große Auswahl, wo doch so viele entweder schwanger oder notorische Partygirls sind. Und natürlich wollen sie jemanden mit einem guten Image, der ein mustergültiges Verhalten vorweisen kann und top in Form ist«, redete sie ohne Punkt und Komma weiter. »Ich überleg mir die Sache, aber ich bin mir noch nicht sicher. Vielleicht sollte ich mich besser ganz auf meine Onlinepräsenz konzentrieren, jetzt, wo ich die Marke von zweihunderttausend Followern geknackt habe.«

Bea sagte zwischendurch ab und zu »Mmm« und »Ahh« und stellte fest, dass sie sich endlich mal wieder so richtig gut fühlte. Nach all dem Scheiß der letzten Monate fügten sich zumindest ihre beruflichen Probleme einfach wie von selbst.

»Also, ich muss auflegen – ich habe noch einiges zu erledigen! Wir hören uns bald wieder, Schwesterherz!«

Bea hörte, wie Lizzie ein Küsschen in die Leitung schmatzte, und legte auf.

Dann lief sie zum Revolver Lane, einem Coworking Space in der belebten Chapel Street. Sie brauchte dringend einen Tapetenwechsel und das Gefühl, wieder in der echten Welt zu stehen und etwas Sinnvolles zu tun. Sie hatte heute Morgen ihren Dyson-Staubsauger, den sie erst letzten Monat gewonnen hatte, über eBay verkauft und bezahlte nun davon die Gebühr für einen Schreibtischplatz. Ihr neues Büro war nur einen kurzen Spaziergang von ihrer Wohnung entfernt und versprühte den Duft von Kreativität und Inspiration. Die Büros gingen nach hinten zu einem berüchtigten Nachtklub hinaus, und es gab ein großes Atrium mit Pflanzen in allen Formen und Größen. Gleich am Haupteingang lag ein Café, betrieben von einem Hipster namens Ricki, der seine schulterlangen sandfarbenen Locken zu einem Half-Ponytail gebunden und seinen Schnurrbart säuberlich gestutzt trug. (Für Dino wäre eine Begegnung mit ihm sicher ein gefundenes Fressen gewesen.)

Bea ging hinüber zu dem Schreibtisch, den man ihr zugewiesen hatte, nahm einen kleinen Kaktus, den sie noch schnell in der Chapel Street gekauft hatte, aus ihrer Tasche, stellte ihn in die Ecke des winzigen Stehtisches und verschränkte zufrieden die Hände. Sie versuchte, den korpulenten Mann am Schreibtisch neben ihr anzulächeln, der Beats-Kopfhörer trug und wie ein Wilder auf seinem Computer herumtippte, aber er wandte sofort den Blick ab. Bea zuckte mit den Achseln, ließ sich aber nicht entmutigen und öffnete den neuen E-Mail-Account, den sie gestern Abend eingerichtet hatte.

Mia würde jeden Augenblick eintreffen, um die letzten Einzelheiten im Vertrag zu klären und das weitere Vorgehen zu besprechen. Danach musste Mia gleich wieder los. Bea war angespannt und aufgeregt. Nachdem die Freundschaft mit Cassandra sich komplett erledigt hatte, war sie verzweifelt auf der Suche nach jemandem, der die riesige Lücke im Bereich Freundschaft füllen könnte. Mia war eine durchaus aussichtsreiche Kandidatin dafür.

Als die Tür aufschwang, spürte Bea einen kalten Windstoß im Gesicht. Sie blickte auf und sah Mia hereinkommen, groß, brünett und mit einem perfekt sitzenden grünen Trenchcoat und schwarzen Stiefeln. Sie sprang jedem sofort ins Auge mit ihrem honigbraunen Haar und den dunklen, fast schon schwarzen Augen, die der geschwungene Lidstrich nur noch mehr hervorhob. Sie schob ihre Fliegersonnenbrille hoch und winkte.

»Bea!«, rief sie aus und gab ihr rechts und links Luftküsschen.

»Ich stehe auf ewig in deiner Schuld, dass du mir diese Chance vermittelt hast.«

»Red keinen Unsinn. Ich freue mich, dass ich helfen kann. Ich hab doch jetzt schon gesehen, was du draufhast. Und überhaupt, wozu hat man denn Freunde!« Sie lachte und griff nach Beas Hand.

Bea wurde rot. »Wollen wir loslegen?«, fragte sie und schaute im Versuch, professionell zu wirken, auf die Uhr. »Tut mir leid, dass ich nur diesen kleinen Tisch habe, aber wenn du hier zu meinem Laptop rumkommst, können wir ein paar erste Fragen durchgehen.« Bea rutschte einen Platz weiter auf einen Bürostuhl, damit Mia auf ihrem Schreibtischstuhl Platz nehmen konnte.

»Ach was, das war doch bloß eine Ausrede, damit wir uns treffen und ein bisschen quatschen können.« Mia drückte Bea leicht den Arm. »Also, wie sieht’s aus mit einem Kaffee?«

»Da hätte ich einen besseren Vorschlag«, sagte Bea.

*

Sie gingen Seite an Seite die Chapel Street hinunter, vorbei an Kebabläden, aus denen es aromatisch duftete, und an Straßenmusikanten vorüber, die Xylofon spielten. Dabei plauderten sie darüber, dass sie nach der Lektüre von Sunni Overends Buch Die Gefahren der Trüffelsuche gern ins Yarra Valley ziehen würden, dass der Buttercup Bookstore eine ihrer liebsten Buchhandlungen war und wie es für Mia war, den ganzen Tag mit Autoren zusammenzuarbeiten. Bea war ganz beschwingt, ununterbrochen über Bücher reden zu dürfen. Als sie das Messina-Schild vor sich sah, stockte ihr der Atem. Sie bereitete sich innerlich darauf vor, dass sie im nächsten Augenblick wortwörtlich auf den Spuren des Geheimnisvollen Autors wandeln würde, rückte die Riemen ihrer Handtasche auf der Schulter zurecht und betrachtete den Eingangsbereich auf der Suche nach einem geeigneten Platz für ihr Gesuch.

»Gelato Messina«, flüsterte sie leise, und Erinnerungen an die Schrift in Meeting Oliver Bennett überfluteten sie.

»Ach Gott, ich liebe das Messina! Es ist Zeit, dass wir unsere Hemmungen fallen lassen, stimmt’s?« Mia zwinkerte Bea zu.

Ist das nicht genau das, was der Geheimnisvolle Autor gesagt hat?

Bea starrte die schöne Mia an. Obwohl sie den ganzen letzten Monat über E-Mails ausgetauscht hatten, hatte Bea das Thema Meeting Oliver Bennett nicht angeschnitten.

»Du bist also schon mal hier gewesen?«, fragte Bea und schlang sich die Arme um den Körper.

»Im Messina? Ja, ich und so gut wie jeder Mensch, der in Melbourne lebt, war doch schon mal hier. Komm, wir holen uns ein Eis!« Lachend zog sie Bea hinein.

Trotz des kühlen Wetters wartete eine Schlange von Menschen darauf, bedient zu werden. Der Laden war düster, fast schon dunkel, als wären sie in einem hippen Klub und nicht in einer Eisdiele. Auf einer Tafel standen Geschmacksrichtungen wie Pannacotta mit Feigenkonfitüre und Amarettokeks, Salziges Karamell und Weiße Schokolade.

»Ich schlage Minze mit Chocolate Chip vor, das ist absolut traumhaft«, sagte Mia sehnsüchtig. Bea konnte kaum überlegen, was sie wählen sollte, denn sie musste die ganze Zeit an die Marginalien in ihrem Buch denken. Ihr Herz flatterte vor Aufregung.

»Ähm, ich glaube, ich nehme einfach Haselnuss«, sagte sie und kämpfte regelrecht, um die Worte herauszubringen.

Mia lächelte und bestellte zweimal Eis in der Waffel.

Bea betrachtete sie schweigend. Mia biss sich oft auf die Lippe, nachdem sie etwas gesagt hatte, und schloss die Augen eine Sekunde zu lang, wenn sie etwas beschrieb, das sie liebte. Konnte sie es sein?

Während sie warteten, fing Mia an, beiläufig davon zu erzählen, dass die Fernsehserie Younger leider kein bisschen Ähnlichkeit damit habe, wie die Verlagswelt im wirklichen Leben sei. Sie lachte alle paar Sätze. Jetzt, wo Bea darüber nachdachte, besaßen Mias E-Mails eine gewisse Eloquenz. Sie konnte es doch nicht sein, oder?

Der Mann hinter der Theke reichte ihnen die Eishörnchen, Mia bezahlte und leckte eilig und genüsslich zugleich an ihrem Eis.

»Großartig, oder?« strahlte sie und führte Bea zu einem Fensterplatz.

Bea setzte sich und leckte hektisch an ihrem tropfenden Hörnchen.

»Kann ich mal bei dir probieren?« Mia lehnte sich zu Beas Eis hinüber und drückte ihre pinkfarbenen Lippen an das Haselnusseis. Hat der Geheimnisvolle Autor gerade an meinem Eis geleckt? »Sehr gut«, lachte sie dann mit einem Rest Eis auf den Lippen.

»Du, Mia?«, sagte Bea.

»Was denn?« Mias Augen glänzten. Aus ihnen leuchteten Geheimnisse, Kritzeleien und Anmerkungen.

»Hast du …«

»Habe ich was, Bea?«

»Hast du Meeting Oliver Bennett gelesen?«

Mia schaute sie fragend und mit gerunzelter Stirn an. Bea hielt die Luft an.

Dann holte Mia tief Luft, riss kurz die Augen auf und sagte: »Nee. Nie gehört.« Die beiden aßen ihr Eis auf, dann verkündete Mia, dass sie zurück zur Arbeit müsse.

Bea winkte ihr zum Abschied, als sie die Eisdiele verließ. Sie schüttelte den Kopf und schalt sich innerlich, dass sie sich einer so lächerlichen Hoffnung hingegeben hatte. Dann spähte sie zu den arbeitenden Leuten hinüber, die sorgfältig Eis in den unterschiedlichsten Geschmacksrichtungen und in allen Farben des Regenbogens in Hörnchen oder Becher füllten. Zufrieden, dass sie alle schwer beschäftigt waren, zückte Bea rasch einen ihrer »Gesucht«-Zettel mit Fotos der Notizen und der Überschrift in fetten Großbuchstaben »IST DAS DEIN BUCH?« und klebte ihn mit der Schriftseite zur Straße hin ins Schaufenster. Dann schoss sie blitzschnell aus dem Laden und murmelte im Stillen ein Gebet vor sich hin.