31
Bea warf einen letzten kurzen Blick auf das Airtasker-Profil, das sie in den Händen hielt, dann stürmte sie zu Zach und hielt ihm das Blatt Papier vor die Nase. Ihr Herz hämmerte, und sie fühlte sich völlig benommen. »Was ist das hier, Zach?«
Zögernd nahm Zach ihr das Blatt aus der Hand, die Augenbrauen verwirrt zusammengezogen, vielleicht auch besorgt. Er faltete es auf, überflog die Seite und schüttelte den Kopf. »Scheiße, Bea, das kann ich dir erklären.«
»Airtasker? Was zum Teufel ist Airtasker, und warum um alles in der Welt steht in deinem Profil ›Ich mache so gut wie alles‹ und daneben ein zwinkernder Smiley?«, fragte Bea, die Hände in die Seiten gestemmt.
»Soll ich es ihr sagen, oder möchtest du das lieber tun?«, sagte Cassandra, die neben ihr aufgetaucht war.
Bea schaute verblüfft von Zach zu Cassandra. »Ihr beiden kennt euch?«
»Könnte man so sagen.« Cassandra lachte kalt.
Bea spürte die Blicke der anderen Gäste im Rücken. Schon wurde verstohlen geflüstert, während alle die kleine Gruppe beobachteten. Bea fasste Zach am Ellenbogen und zog ihn in die Küche, weg von den neugierigen Augen und Ohren.
In den engen Raum zwischen die schmale Arbeitsfläche und die Industriespülmaschine gequetscht, stand Zach da und starrte zu Boden. Er sah aus, als hätte er ernsthaft Angst. Dann trat er einen kleinen Schritt auf Bea zu. »Bea, bevor ich irgendetwas sage, musst du unbedingt daran denken, wie viel du mir bedeutest. Wie sehr ich dich liebe und dass es etwas ganz Besonderes ist, dass ich dich kennengelernt habe. Bitte – bitte hör mich bis zum Ende an.« Zach fuhr sich verzweifelt mit den Händen durchs Haar, das plötzlich matt und glanzlos wirkte. Er machte einen weiteren kleinen Schritt und griff nach ihrer Hand, aber Bea wich zurück. Die Berührung, die sie noch vor wenigen Minuten mit Freude und Liebe erfüllt hatte, traf sie nun wie ein scharfes Messer.
»Zach, du machst mir echt Angst.« Bea zitterte leicht und warf einen Blick auf Cassandra, die hinter ihnen in die Küche getreten war. Ihre Gedanken liefen auf Hochtouren, und sie versuchte herauszubekommen, wie es möglich war, dass Zach Cassandra kannte. Hatte sie je von einem großen, gut aussehenden Mann namens Zach aus Melbourne gesprochen? Waren sie möglicherweise Verwandte, die sich seit Langem aus den Augen verloren hatten? War Cassandra überhaupt hier, um sich mit ihr zu versöhnen? Bea fühlte sich immer unwohler. Sie brauchte jetzt ganz rasch Antworten, bevor ihr der Kopf platzte.
Zach holte tief Luft. »Vor ein paar Monaten hat Cassandra über mein Airtasker-Profil mit mir Kontakt aufgenommen.«
Bea schüttelte den Kopf. »Was zum Teufel ist Airtasker?«, fragte sie schon zum zweiten Mal.
»Eine Onlinecommunity von Leuten, die verschiedene Handwerksdienste und Fähigkeiten für wenig Geld anbieten. Ich war ziemlich knapp bei Kasse und hab einen Weg gesucht, schnell Geld zu verdienen. Ich versuche, genug zusammenzusparen, um meinen eigenen Laden aufzumachen. Ich hab schon immer von einem eigenen Fitnessstudio geträumt.«
»Ein Fitnessstudio? Wovon redest du eigentlich? Du bist doch Lektor, warum um alles in der Welt solltest du ein Fitnessstudio eröffnen wollen? Das ergibt doch gar keinen Sinn.« Bea war kurz davor, hysterisch loszulachen, aber irgendetwas sagte ihr, dass das hier kein Scherz war.
»Komm zum Punkt, Zach«, drängte Cassandra. »Ich hab ihn angeheuert, damit er dich anmacht und dir dann, wenn du völlig verrückt nach ihm bist, das Herz bricht. Aber es sieht so aus, als wäre er nicht in der Lage gewesen, das durchzuziehen. Also musste ich die Sache selbst in die Hand nehmen. Den Bonus kannst du jetzt natürlich vergessen.« Sie starrte Zach böse an.
»Was hast du getan?«, schrie Bea auf. Was ihre sogenannte Freundin gerade gesagt hatte, ergab doch keinen Sinn. Ihr wurde übel. Alles, woran sie geglaubt hatte, all das Gute, was sie in Zach gesehen hatte, die überwältigenden Gefühle zwischen ihnen, lösten sich vor ihren Augen in nichts auf.
»Du hast doch wohl nicht gedacht, dass du so einfach davonkommst, oder?«, sagte Cassandra mit feindselig verschränkten Armen. »Du hast mich gedemütigt. Du hast meine Beziehung zerstört. Du hast mir mein ganzes Glück genommen. Bea, du hast mich zerstört. Zerstört! Meine Familie hat mich mehr oder weniger ausgestoßen, so peinlich ist ihnen das Ganze. Und Matt weigert sich, mir zu vergeben – er weigert sich sogar, nur mit mir zu sprechen. Was ich auch sage, er sieht meinen Fehltritt einfach nicht als das, was er war: ein blöder, aus der Trunkenheit heraus begangener Fehler, der mir überhaupt nichts bedeutet hat.« Mit erhitzten Wangen und die Augen feucht vor Kummer, bebten Cassandras Schultern bei jedem Wort. »Seine Anwälte bombardieren mich pausenlos mit Mails. Er hat sich in den Kopf gesetzt, die Ehe annullieren zu lassen. Und während mein Leben in Trümmer fällt, was machst du da? Schleichst dich davon, als wäre nichts passiert. Du sollst doch eigentlich meine Freundin sein, meine beste Freundin, aber erst baust du Riesenscheiße und versaust mir das Leben und dann lässt du mich einfach sitzen!« Sie schrie jetzt, und eine einzelne Träne lief ihr über die Wange.
Bea war wie vor den Kopf gestoßen. Sie hatte immer schon gewusst, dass Cassandra einen Hang zum Drama und eine Tendenz zu passiv-aggressivem Verhalten hatte. Wie damals, als sie wochenlang nicht mit Bea geredet hatte, weil sie das Gefühl hatte, sie würde sich nicht genug anstrengen und nicht genug »in ihre Beziehung einbringen«. Aber einen Verrat wie diesen hatte Bea nun wirklich nicht kommen sehen.
»Dann war das also alles gelogen?« Nach ein paar Sekunden Stille wandte Bea sich wieder an Zach. »Das mit uns war eine Lüge?« Zach machte den Mund auf, aber bevor er etwas sagen konnte, wandte Bea sich wieder an Cassandra und fuhr fort: »Cassandra, ich weiß: Was ich getan habe, war schrecklich. Vielleicht war es unverzeihlich. Aber es war ganz ehrlich ein Missgeschick. Und seitdem bettle ich dich die ganze Zeit an, mir zu vergeben, dir helfen zu lassen. Ich bin nach Melbourne gezogen, damit du den Raum hast, den du wolltest! Du weißt, dass ich niemals absichtlich so herzlos sein könnte. Dass ich nie etwas tun würde, um dich gezielt zu verletzen.« Bea hielt kurz inne. Sie konnte immer noch nicht begreifen, wie ihre älteste und angeblich liebste Freundin derart grausame Rache an ihr üben konnte. »Aber was du getan hast, dieser vorsätzliche Verrat … ich fass es einfach nicht, dass du mich so sehr hasst.« Zachs falsches Spiel war eine Sache, aber ein solcher Angriff auf sie, ausgeführt von einer Freundin, der Freundin, die sie fast ihr ganzes Leben abgöttisch verehrt hatte, das war einfach zu viel. Sie konnte es nicht begreifen. Sie konnte es nicht ertragen.
Cassandra starrte Bea an. Ihre Gesichtszüge waren härter und kühler, als Bea sie in Erinnerung hatte. Plötzlich erkannte sie sie kaum noch. Wo waren die feinen Lachfältchen um ihre Augen geblieben, die ihre ganze gemeinsame Geschichte in sich trugen, all ihre glücklichen Erinnerungen? Daran, wie sie bei unzähligen Übernachtungspartys im Schein der Taschenlampe unter der Bettdecke Wilbur und Charlotte und Der König von Narnia und Sara, die kleine Prinzessin gelesen hatten. Wie sie während der Vorlesungen an der Uni einander Mails geschrieben hatten und in den Liebesgeschichten der Highland-Saga und der Frau des Zeitreisenden geschwelgt hatten. Wie Cassandra in den Nachrichten, die Bea von Jungs bekam, zwischen den Zeilen gelesen und Beas missglückte Dates analysiert hatte. Wie Cassandra sie gebeten hatte, ihre Trauzeugin zu werden. Wie Bea zugeschaut hatte, als Cassandra zum Altar schritt, und ihr das Herz vor Stolz und Liebe beinahe barst. Und jetzt lösten sich diese ganzen Erinnerungen vor ihren Augen in nichts auf. Oder habe ich das alles vollkommen falsch in Erinnerung? Wie auch immer, nichts davon hatte jetzt noch eine Bedeutung.
»Weißt du was, Cassandra? Ich hab mich selbst die ganze Zeit fertiggemacht, dass mir das damals so blöd rausgerutscht ist. Aber schließlich habe ja nicht ich mit dem gottverdammten Oben-ohne-Kellner geschlafen! Das hast du selbst verbockt!« Bea brüllte plötzlich los. Sie war nach dem Schock und dem Nicht-wahrhaben-Wollen jetzt beim Zorn gelandet. »Was für eine tolle ausgleichende Gerechtigkeit, für mich eine Art … eine Art Escortservice zu engagieren! Du bist sicher stolz auf dich!«
Cassandra schnaufte überrascht. Sie war es nicht gewohnt, dass Bea so aufsässig und angriffslustig reagierte.
Zach ergriff seine Chance, als einen Augenblick Stille herrschte. »Ich bin kein Escortservice! Bea, du hast das alles total falsch verstanden.«
»Ach ja, habe ich das wirklich? Egal wie man es nennt, das Ergebnis bleibt das gleiche.« Bea konnte kaum fassen, wie sich ihr Leben plötzlich in eine Seifenoper verwandelte. Wenn sie nicht so schockiert und so tief verletzt gewesen wäre, hätte sie das Ganze vielleicht sogar zum Lachen gefunden. Verrat, ein Escortservice, schlüpfrige Affären – so was kann man nicht erfinden. Das ist schlimmer als eine Folge von Reich und Schön.
»Okay, ja, Cassandra hat mich dafür bezahlt, dass ich Zeit mit dir verbringe.«
»Bezahlt? Ich habe dich mehr als nur bezahlt. Ich habe das gesamte Geld in dich investiert, das wir für die Hochzeitsreise gespart hatten!«
Bea ignorierte Cassandra und wandte sich an Zach. »Damit du Zeit mit mir verbringst? Wir sind jetzt seit über einem Monat zusammen! Du hast mir gesagt, dass du mich liebst. Wir haben …« Sie trat näher zu ihm und senkte die Stimme. »Wir sind intim miteinander gewesen, um Himmels willen.«
»Bea, es tut mir so leid«, sagte Zach und spielte mit einem Teigschaber herum, der auf der Arbeitsplatte gelegen hatte. Er konnte Bea nicht in die Augen schauen. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich wollte nicht, dass du es auf diese Weise herausfindest.«
»Hast du denn je vorgehabt, es mir zu sagen? Oder wolltest du tatsächlich einfach verschwinden, wie Cassandra es von dir verlangt hat? Mir in einem tragischen Racheakt das Herz brechen?« Bea konnte einfach nicht fassen, was sie über diesen Mann hörte, mit dem sie noch ein paar Stunden zuvor das Bett geteilt hatte. Sie hatte sich ihm hingegeben, körperlich und mit ihren innersten Gedanken und Gefühlen. »Wie viele gibt es noch?«
»Wie viele was?«, fragte Zach verständnislos.
»Stell dich nicht so dumm! Wie viele Frauen hast du noch am Bändel?«
»Keine! Du bist die Einzige, mit der ich zusammen bin.«
»Ha, da hab ich aber Glück gehabt!«, kicherte Bea, die sich inzwischen leicht geistesgestört fühlte.
Schweigen. Es war hoffnungslos. Es gab absolut nichts, was Cassandra oder Zach sagen konnten, um diese Sache auch nur im Ansatz wieder in Ordnung zu bringen.
Zach sprach als Erster. »Ich habe erst mit dir geschlafen, als ich mir wirklich sicher war, was ich für dich empfinde. Deswegen hab ich so lange gewartet damit. Ich hatte nicht vor, dich zu verletzen. Und ich wollte dir alles erzählen, das schwöre ich. Ich hatte nur solche Angst, du würdest mich dann hassen und mich nie wieder sehen wollen. Die ganze Zeit hatte ich fürchterliche Angst, dich zu verlieren. Du hast keine Ahnung, in welcher Zwickmühle ich gesteckt habe. Ich weiß, in welchem Licht dir unsere Beziehung jetzt erscheinen muss. Ich kann dir gar nicht sagen, wie leid mir das tut.«
»Unsere Beziehung? Also ehrlich. Als Nächstes wirst du mir noch erzählen, ich wäre mehr für dich gewesen als nur ein Job«, spie Bea ihn regelrecht an.
Zach trat wieder auf sie zu und versuchte erfolglos, nach ihrer Hand zu greifen. »Ja! Na ja, am Anfang war es schon nur ein Job«, stotterte er. »Aber du musst mir glauben, dass das zwischen uns alles echt war. Ganz ehrlich!«
Bea schüttelte den Kopf. Hält er mich für komplett bekloppt? »Schwachsinn! Das ist totaler Schwachsinn! Darauf fall ich nicht rein, nicht eine Sekunde lang. Zach, du hast mich angelogen. Und du hast verdammt noch mal auf meine Kosten Geld verdient! Bildest du dir etwa ein, ich würde dir jetzt noch ein einziges Wort glauben?«
»Ja … denn ich bin in dich verliebt, Bea«, flüsterte Zach.
Bea sah, wie Cassandra die Kinnlade herunterklappte. Sie schob sich näher heran und wollte sich einmischen, aber Zach redete weiter. »Bea, du musst wissen, wie viel du mir inzwischen bedeutest. Wie viel ich von dir gelernt habe. Du bist so mutig, du steckst voller Überraschungen. Ich weiß, dass du dich die letzten Monate sehr einsam und verloren gefühlt hast. Und sieh doch bloß, was du trotz allem zu erschaffen versuchst – was du erschaffen hast. Und wie du Kontakt zu Leuten herstellst. Du bist einfach erstaunlich.«
Bea verdrehte die Augen. »Oh, Mann, du bist gut, Zach, du bist richtig gut. Vergiss das mit dem Escortservice, du solltest Schauspieler werden. Das war echt oscarreif!« Mittlerweile fühlte Bea sich nicht mehr als Teil ihrer Umwelt, es war, als würde sie sich außerhalb ihres Körpers befinden. Sie sah, wie Zachs Mund sich bewegte, aber sie schnappte nur noch Bruchstücke dessen auf, was er sagte. Irgendwas über Geldmittel und sein eigenes Fitnessstudio, dass er gar kein Lektor war, und dazwischen immer wieder ein »Tut mir leid«. Aber was sie eigentlich hörte, war: Ihr armen Geschöpfe. Was haben wir euch angetan? Mit all unseren Plänen und Manipulationen? Dieses Zitat aus Ishiguros Alles, was wir geben mussten, dem Buch, das sie diesmal zu Next Chapter mitgebracht hatte, lief in ihrem Kopf in Endlosschleife. Das Buch schien plötzlich auf einer vollkommen neuen Ebene zu ihr zu sprechen.
Und dann kam ihr ein letzter herzzerreißender Gedanke.
»Und was ist mit dem Buch? War das wenigstens echt, oder hat Cassandra dir davon berichtet? Damit du sagen sollst, dass es mal dir gehört hat?«
Zach erstarrte mit erhobenen Augenbrauen und wollte antworten. Aber das war nicht nötig. In diesem Moment wusste Bea Bescheid. Sie wusste, dass der Mann, der vor ihr stand, nicht mal ansatzweise der Mann war, für den sie ihn gehalten hatte. Sie begriff jetzt, wie tief seine Täuschung ging und wie gerissen Cassandras Plan gewesen war. Es war alles gelogen – eine einzige riesige, hässliche, klaffende Lüge.
Bea hatte genug gehört. Sie ertrug es nicht, mit diesen beiden Menschen noch länger im selben Raum zu sein, riss ihre Handtasche aus dem Schrank und ging zur Tür.
Im letzten Moment blieb sie stehen. Ihr lag noch eine Frage auf der Zunge. Aber statt sie zu stellen, kramte sie in ihrer Tasche nach dem Portemonnaie, öffnete es und griff nach all den Coupons und Scheinen, die sie hineingestopft hatte. Sie wirbelte herum und schmiss dem schockierten Zach den Haufen Banknoten und Zettel entgegen.
»Für die Überstunden«, sagte sie mit zitternder Stimme, drehte sich auf dem Absatz um und rannte aus The Nook hinaus.
Und dann war sie endlich allein und konnte in der kühlen Nachtluft ihren Tränen freien Lauf lassen.