27

In dieser Nacht fand Bea keinen Schlaf. Erst weil ihr Herz ganz von Zach erfüllt gewesen war. Dann war das schöne und reine Gefühl, auf Wolken zu schweben, in den frühen Morgenstunden verflogen und Schuldgefühlen und Bedauern darüber gewichen, was alles in der letzten Zeit schiefgelaufen war, die sie ebenfalls nicht schlafen ließen. Einsam starrte Bea in die Dunkelheit ihres Schlafzimmers und verbiss sich in jeden schrecklichen Fehler und jede Mikrotragödie (so nannten sie und Cassandra gern ihre Erste-Welt-Probleme), die sie in den letzten paar Monaten ausgelöst hatte. Sie lag wach, in kalten Schweiß gebadet, und ging ihre Fehler immer wieder durch.

Die beste Freundin vor den Menschen gedemütigt, die ihr am liebsten sind und am nächsten stehen, und ihr zukünftiges Glück mit dem Mann ihrer Träume zerstört. Nutzlosen Job mit geringem Entwicklungspotenzial bei nutzloser Agentur in einer neuen (zum Glück weniger nutzlosen) Stadt an Land gezogen. Voll ins Fettnäpfchen getreten und von der auf einmal gar nicht mehr so nutzlos scheinenden Agentur gefeuert worden. Vor drei Tagen frisch zubereiteten Latte auf einen Unschuldigen verschüttet. Tat mir mehr um den Kaffee leid als um den Mann. Nie Geld, um die Obdachlosenzeitung The Big Issue zu kaufen. Null Geduld Schwester gegenüber, zum Abschied nur lustlos umarmt. Rufe Mutter nicht oft genug an. Ziehe mir am laufenden Band Sendungen über Verbrechen rein, als wäre es Unterhaltung, wo es doch um echte Menschen geht, die ermordet worden sind! Nur vier Gäste beim blöden Buchklub-Event. Ganz klar keine große Vordenkerin. Alles in allem sehr wahrscheinlich ein nicht gerade liebenswerter Mensch.

Um zehn nach vier in der Früh hatte sie es satt zu grübeln, kämpfte sich aus dem Bett, zog Turnschuhe und Kapuzenpulli an und setzte sich raus auf den kleinen Balkon, der vom Wohnzimmer abging. Im Schneidersitz auf ihrer wackeligen blauen Bank versuchte sie, sich im Hier und Jetzt zu erden. Die kühle Luft des frühen Morgens umgab sie und schien sie von ihren Schuldgefühlen und den Sorgen über ihre Ziellosigkeit zu reinigen. Sie versuchte, an die positiven Dinge zu denken: die Frau, die neulich die Aufzugtüren für sie offen gehalten hatte, und die neuesten Luftaufnahmen vom Haus ihrer Eltern, die ihr Vater aufgenommen und ihr geschickt hatte. Und sie dachte an Zach. Immer wieder Zach. Aber dann drückte das Gewicht ihrer Sorgen und Ängste sie erneut zu Boden. Irgendwie schien das Leben leichter zu sein, wenn sie auf Nummer sicher ging und einfach immer in die Fußstapfen der charismatischen, aber leicht kontrollwütigen Frauen in ihrem Leben trat.

Sie lehnte den Kopf an die Ziegelmauer, starrte in den Himmel hinauf und hielt Ausschau nach außerirdischem Leben und nach Sternschnuppen, wie sie und Cassandra es als Kinder getan hatten, wenn sie die Köpfe aus ihrem Zelt im Garten gesteckt hatten. Wenn sie eine Sternschnuppe entdeckten, musste Bea Cassandra schwören, sich Folgendes zu wünschen: Sie würden beide jemanden kennenlernen, der so charmant war wie Laurie Laurence aus Betty und ihre Schwestern, sie würden heiraten und Häuser nebeneinander kaufen, jedes mit einem violetten Lattenzaun drum herum. Bea blickte zum Himmel hinauf und seufzte, als gäbe es ein Geheimnis, das nur sie und die Sterne kannten.

*

»Ein bisschen nach links. Yep, okay, noch einen Tick runter. Und jetzt ein klitzekleines bisschen hoch«, kommandierte Bea. Sie saß in The Nook auf der Theke, spähte durch ein Rechteck, das sie aus Daumen und Zeigefingern bildete, und versuchte, die gegenüberliegende Wand abzuschätzen.

»Ich halte ›ein klitzekleines bisschen‹ nicht für eine offizielle Maßeinheit.« Dino schnaufte frustriert und hielt noch immer das erst halb befestigte Brett fest.

Nachdem sie halb erfroren auf dem Balkon aufgewacht war, hatte Bea sich mit einer heißen Dusche aufgewärmt, sich angezogen und in The Nook geschleppt. Um Viertel nach neun hatte sie an einem Tisch gesessen, vor sich ihren aufgeklappten Laptop und einen Doubleshot Latte sowie einen von Sundays typischen Frühstücksmuffins, in dem sich ein ganzes gekochtes Ei verbarg. Es war beinahe so gewesen, als wäre sie nicht gerade erst gefeuert worden! Na, was sagen Sie zu dieser Professionalität und dieser Arbeitsethik, Catherine Bradley?

Doch nachdem sie sich anderthalb Stunden lang hektisch auf jede Stellenanzeige beworben hatte, die auch nur ansatzweise in ihren Arbeitsbereich fiel, und auch auf ein paar, die nichts damit zu tun hatten, aber so klangen, als könnte man ordentlich Spaß bei der Arbeit haben (Hallo, Bingo-Manager oder Emoji-Erfinder!), war sie es leid gewesen. Sie hatte sich über Facebook sogar an Ruth gewandt, die sie bei Next Chapter kennengelernt hatte, und sie gefragt, ob sie noch Kontakte zu Diana’s Muesli habe und zufällig wisse, ob man dort Mitarbeiter suche. (Zuerst hatten sie und Dino allerdings Ruth gegoogelt und herausgefunden, dass alles stimmte, was sie erzählt hatte, und dass sie die Firma tatsächlich gegründet hatte.) Allerdings hatte Ruth offenbar versucht, Einfluss auf die Änderung an den Zutaten zu nehmen – »Die Antioxidanzien sind mir egal, eine Açaifrucht ist nun mal keine königliche Frucht!« – , und sich deshalb offenbar mit dem Management zerstritten.

Danach war Bea zu Ikea gegangen und hatte drei Regalbretter aus Holz gekauft, eine Bücherstütze in Form einer Ananas und einen kleinen gerahmten Druck »Lass dich nicht von den Muggels fertigmachen«. Auf dem Weg zurück zum Café hatte sie einen Umweg zu ihrem neuen Lieblings-Secondhand-Buchladen gemacht, Another’s Treasure. Dort hatte sie dreizehn der Bücher gekauft, die sie am liebsten weiterempfahl, darunter Die Liebenden von Leningrad, Küsschen, Küsschen!, Ab heute wird alles anders, Ich bin ein Schicksal, Liebesbriefe aus dem Ersten Weltkrieg, Sag Hallo, Die Jadelilie, Das Hass-Rennen und ein paar weitere, auf die sie scharf gewesen war und die sie schon seit Langem hatte lesen wollen, seit sie in einigen der vielen Bookstagrammer-Accounts, denen sie folgte, darauf gestoßen war. Darunter Ich bin Sasha und Der letzte Mensch.

Eine perfekte Auswahl, hatte sie sich gratuliert und darüber gefreut, dass sie den Preis um 5,65 Dollar runtergehandelt hatte. Die Unmengen an Büchern unter beide Arme geklemmt, war sie triumphierend in The Nook zurückgekehrt. Sie war eine Frau mit einer Mission und würde ein Nein als Antwort nicht akzeptieren.

Und nun waren sie mit zwei kleinen Bücherbrettern fertig, und eins musste noch zu Ende angebracht werden an der Wand in der Nähe des Eingangs von The Nook. Dino war überraschend entgegenkommend gewesen. Vielleicht hatte er Mitleid mit Bea, vielleicht spürte er auch, dass er, falls er Nein sagte, einen Kopf kürzer gemacht werden würde. Er schwärmte sogar von der Buchauswahl. »Küsschen Küsschen! Das war immer schon mein Lieblingsbuch von Roald Dahl!« Bea hatte ihn ausgelacht. Klar, dass er so ein obskures Lieblingsbuch hatte. Ihrer Meinung nach reichte nichts an Matilda heran.

»Was hältst du von Stellenanzeigen, bei denen man ein Bewerbungsfoto mitschicken soll?«, fragte Bea, als sie an ihren Laptop und zu den gefürchteten Stellenanzeigen zurückkehrte, während Dino die letzte Schraube in die Wand bohrte.

»Das sind Schweine!«, rief Sunday von hinten aus der kleinen Küche. Die Frau hatte ein übermenschliches Gehör. »Denen würde ich auf keinen Fall über den Weg trauen.«

»Mmm, Patriarchat und so«, stimmte Bea zu. »Da solltest du mal ein Gedicht drüber schreiben, Dino.«

»Da hab ich genau das richtige.« Dino räusperte sich und wandte sich zu Bea um. »Spieglein, Spieglein an der Wand, wer sind die Schönsten im ganzen Land? Niemand mit Narben, unreiner Haut, Missbildungen oder Pausbacken – ganz zu schweigen vom falschen pinken Hautton«, rezitierte er mit der Hand auf dem Herzen.

Bea warf den Kopf zurück und lachte laut, klatschte und verlangte eine Zugabe. Und dann lachte sie weiter, und zwar hysterisch, sie konnte gar nicht mehr aufhören. Die Tränen liefen ihr übers Gesicht, sie schnappte nach Luft und spürte, wie ihre Brust einsank und ihr die Hitze prickelnd den Hals hinaufstieg. Und dann stieß sie ein Schluchzen aus, das aus ihrem tiefsten Inneren kam.

»Bea, alles klar da drüben?«, fragte Dino nervös und stieg von seinem Stuhl herunter.

Bea nickte zuerst, dann schüttelte sie den Kopf, und dann zuckte sie mit den Achseln.

»Sunday, wir brauchen dich hier vorne!«, brüllte Dino.

Sunday kam aus der Küche und trocknete sich die Hände an einem Küchentuch ab, das sie durch eine Gürtelschlaufe ihrer Jeans gezogen hatte. Sie warf nur einen kurzen Blick auf Bea, dann nahm sie sie in die Arme und streichelte ihr über den Rücken. »Es wird alles wieder gut. Das ist Teil deiner Lebensreise. Es macht dich zu einer stärkeren und klügeren Frau.«

Bea machte sich los, schnappte sich eine Serviette vom Stapel hinter sich und putzte sich die Nase. »Ist das auch wirklich wahr? Ich stecke seit Monaten in einer Abwärtsspirale. Seit Monaten schon!«, rief sie verzweifelt. »Ich hatte eine vollkommen andere Vorstellung davon, wie mein Leben mal aussehen würde. Ich stehe überhaupt nicht da, wo ich eigentlich mit dreißig sein wollte. Ich hab nichts vorzuweisen, trotz der vielen Jahre, die ich an meinem Schreibtisch Sklavenarbeit geleistet hab. Bis spätnachts bin ich im Büro geblieben, um die Chefs zu beeindrucken, vor den Kunden bin ich gekrochen, um einen neuen Auftrag zu kriegen. Und wozu das alles?« Sie holte tief Luft. »Seht euch all die Leute an, die es besser hinkriegen als ich. Zum Beispiel meine Schwester! Sie schmeißt ihren tollen Job im Marketing hin, um beim Bachelor mitzumachen – ausgerechnet beim Bachelor! – , und schafft es tatsächlich, eine landesweite Demütigung in eine blühende Karriere im Bereich Social Media zu verwandeln. Und dafür muss sie einfach nur ein paar Fotos schießen!«

»Süße, entspann dich erst einmal! Dreißig ist das neue Fünfundzwanzig«, sagte Sunday, setzte sich auf einen Barhocker und zog Bea auf den Hocker neben sich. »Sei ein bisschen nachsichtig mit dir! Du musst dich nicht hassen, nur weil du von Großem träumst. Du solltest nach den Sternen greifen! Und wenn du auf deinem Weg von einem vorbeirauschenden Kometen, den du nicht auf dem Radarschirm deiner schicken Rakete hattest, in eine Million Teile zerschmettert wirst – was soll’s! Zumindest hast du’s versucht!«

Bea schaute Sunday fassungslos an.

Sunday runzelte die Stirn und tätschelte Bea das Knie. »Okay, vergiss mal die Metapher. Aber es stimmt, Bea. Du hast einfach noch nicht das Richtige für dich gefunden.«

»Dafür bin ich unübertroffen darin, immer genau das zu finden, was mich fertigmacht!«, rief Bea aus und griff nach ihrem halb gegessenen Muffin. Sie pflückte die an der Sonne getrocknete Tomate ab, steckte sie sich in den Mund und seufzte dann so tief auf, als käme der Seufzer ganz tief aus den Zehen herauf. »Danke, Sunday, ehrlich«, sagte sie und versuchte, sich ein bisschen aufrechter hinzusetzen. »Ich sollte mich wieder an meine Bewerbungen machen, die schreiben sich schließlich nicht von allein.«

»Das ist eine super Einstellung«, rief Dino.

Bea machte ein finsteres Gesicht und wanderte mit ihrem Muffin zurück zum Laptop. Sie klickte sich ziellos durch eine Stellenausschreibung nach der anderen und seufzte bei jeder einzelnen dramatisch. Dann griff sie nach dem Telefon und rief ihre Textnachrichten auf. Vielleicht musste sie andere Wege ausprobieren?


Bea: Es ist eine verrückte Idee, aber hör sie dir erst mal an. Deine Chefs bei Thelma & Clarke sind nicht zufällig auf der Suche nach einer total bücherversessenen Marketinglady? Ich würde mich wirklich überschlagen (die ganze Weihnachtszeit durcharbeiten) und in Erwägung ziehen, Kinder zu kriegen, damit ich eines Thelma und das andere (unabhängig vom Geschlecht) Clarke nennen könnte, und das alles nur, damit ich mit Büchern arbeiten darf. Mit freundlichen Grüßen, eine echt durchgeknallte, am Rande des Nervenzusammenbruchs taumelnde Bea


Zach: Ich werde sehen, was ich tun kann. Und können wir uns in einer Stunde treffen? Ich hab möglicherweise genau das richtige Heilmittel gegen einen Nervenzusammenbruch xx


Bea: »Das Leben ist spannender, wenn du einfach nur Ja sagst.«

Zach: Du bist ja ein echtes Fangirl! Schön zu wissen, dass ich zitierfähig bin. Treffpunkt Weinbar Toorak Cellars. Bring deine Happy Pants mit xx


Happy Pants? Was soll das denn bedeuten? Bea klappte ihren Laptop zu, zog diskret Meeting Oliver Bennett heraus und ließ die Finger über den Buchrücken gleiten. Sie lehnte sich gegen die Wand aus nackten Ziegelsteinen und blickte hinüber zu Dino, der, das Kehrblech in der Hand, auf dem Boden hockte und dort den Dreck zusammenfegte, wo er eben die Schrauben in die Wand gebohrt hatte. Sie versuchte, sich an das Zitat zu erinnern, das Zach im Buch unterstrichen hatte, irgendetwas darüber, wie die Zeit die Ängstlichen verfolgt.