18
Bea ließ sich auf einen Stuhl im Besprechungsraum plumpsen und war in Gedanken ganz bei der letzten Nacht. Der Spaß, die Leidenschaft – und wie Zach sie dann plötzlich hatte sitzen lassen. Erst heißgemacht und dann kaltgestellt. Sie schob sich eine Haarsträhne hinters Ohr und versuchte, so unverdächtig wie möglich hinter ihrem geöffneten Laptop zu sitzen. Sie öffnete ein neues Word-Dokument, schrieb das Datum und blickte sich unter ihren Kollegen um, die alle in Habachtstellung hinter ihren Laptops und Vision Boards im A3-Format saßen, bereit, sich kopfüber in die heutige Brainstorming-Session zu stürzen. Genauso war ich auch mal, dachte sie seufzend und erinnerte sich an die guten alten Zeiten, als Brainstorming-Runden sie noch in Schwung gebracht hatten. Inzwischen war das für sie so was von gelaufen.
Gerade als das Meeting anfangen sollte, ploppte eine Nachricht auf Beas Bildschirm auf. Sie stammte von Martha mit den hochhackigen Riemchensandalen. Vor Kurzem hatte ihre Beziehung ein Upgrade erhalten und war von reinen Klo-Unterhaltungen zu Instant Messaging übergegangen.
Martha: Wie steht’s mit einer Toilettenpause? Muss dringend über die neueste Folge von Betty und ihre Schwestern sprechen. Jo ist dermaßen dreist, ich muss unbedingt genauso werden!
Bea: Sitze in einem Meeting fest. Scheißleben. Hätte ich bloß Jos Einstellung ›Ich bin zu unabhängig und zu sehr beschäftigt mit meiner Kunst‹, dann könnte ich aus diesem gottverdammten Meeting raus. Der Kunde will, dass wir eine neue Zahncreme namens ›Cookiedent‹ promoten. Finde nur ich, dass das bei Zahncreme ein Widerspruch in sich ist?!
Bea schloss das Dialogfenster, seufzte deutlich hörbar und zwang sich, sich wieder auf das Meeting zu konzentrieren. Joel sprach darüber, wie man die »Ladys« auf dem Markt erreichen könnte. Es war nicht ganz klar, warum er Anführungszeichen in die Luft zeichnete, sobald er sich auf den weiblichen Käuferkreis bezog, aber offenbar hatte hier keiner was dagegen einzuwenden. Frauenhasser, dachte Bea verächtlich, aber dann schalt sie sich sofort dafür, dass sie so abwertend dachte. Cassandra hatte ihr das oft vorgeworfen: »Kannst du dir wirklich den Luxus leisten, so wählerisch zu sein?« oder »Natürlich glotzt er dir auf den Busen, aber das machen die Kerle nun mal!«, hatte sie immer gesagt.
»Wieso hast du mich nie einfach nur mal unterstützt?«, murmelte Bea leise vor sich hin.
»Wie bitte?« Joel wandte sich zu ihr um. »Hast du was dazu beizutragen, Bea?« Er grinste und schaute Scott an, der hinter seinem Kaffeebecher ein Lachen unterdrückte.
Bea erstarrte, ihre Hände hingen bewegungslos über der Tastatur. Denk dir was aus, Bea, aber schnell! »Na ja, ich finde …«, begann sie zögernd. »Ich finde, Zahnpasta auf die gleiche Art zu vermarkten wie Süßigkeiten könnte die Käufer verwirren.«
»Und?«
»Haben wir nicht die Verantwortung, die Käufer zu gesunder Zahnpflege zu erziehen?« Bea sog auf einmal Mut aus ihren eigenen Moralvorstellungen. »Ich finde, diese Kampagne steht für die falschen Ideale.«
»Das mag sein, aber es ist das, was der Kunde will, also wird er es auch bekommen.«
»Das reicht mir aber nicht.« Bevor sie es noch selbst begriffen hatte, war sie aufgestanden und hatte ihren Stuhl zurückgestoßen.
»Vorsicht, du begibst dich auf dünnes Eis, Bea«, warnte Scott und verschränkte die Arme vor der Brust.
Bea blickte sich unter ihren verblüfften Kollegen um und holte tief Luft. Denk an die Miete, die du ohne deinen Job nicht bezahlen kannst, und komm wieder runter, verdammt. Sie setzte sich wieder hin. »Okay, tut mir leid, du hast recht. Bitte mach weiter.«
»Verbindlichen Dank auch«, sagte Joel sarkastisch und ging wieder dazu über, seine Idee zu erläutern, die eine Zahnfee in knapper Backschürze als Werbeträger vorsah.
Bea schluckte ihren Groll hinunter und starrte den Rest des Meetings einfach nur auf den Bildschirm, bis sie wieder in The Nook flüchten und sich einen neuen Kaffee holen konnte.
*
»So schnell schon wieder da?«, lachte Dino hinter seiner Kaffeemaschine.
»Du hast ja keine Ahnung, was ich da oben durchmachen muss«, murrte Bea und setzte sich auf ihren Platz an der Theke, in gefährlicher Nähe zu einem Teller mit frischem Gebäck. Im Versuch, ihre Hände davon abzuhalten, danach zu greifen, zog sie Agatha Christie auf den Schoß und drückte den dicken warmen Hundekörper an sich.
»Bea?«, sagte Dino, offenbar nicht zum ersten Mal.
»Was? Sorry, ich war gerade im Hundekoma. Was hast du gesagt?«
»Wie steht’s mit dir und Zach? Das sah ja gestern Abend so aus, als wärt ihr ganz schön vertraut miteinander.«
»Mmm, er scheint fast zu gut, um wahr zu sein. Ganz anders als die Männer, mit denen ich zusammenarbeite«, sagte Bea. »Ich meine, wir leben schließlich im 21. Jahrhundert. Frauen als Sexualobjekt, um die Verkaufszahlen in die Höhe zu treiben – das geht doch nun wirklich nicht mehr!«
»Warum kündigst du nicht einfach?«
»Kündigen? Du bist vielleicht witzig. Und wer bezahlt meinen Kaffee, wenn ich keinen Pfennig mehr in der Tasche habe?«
»Ich mein’s ernst, Bea. Du bist doch total unglücklich mit deiner Arbeit für die Idioten da oben. Du kannst deinen Job nicht ausstehen, das erzählst du mir ungefähr jeden zweiten Tag.« Dino unterbrach seinen Vortrag und bediente einen älteren Herrn mit Gehstock und herzhaftem Lachen. Bea dachte einen Augenblick darüber nach, wie anders ihr Leben hätte verlaufen können. Vielleicht hätte sie einfach in Perth bleiben sollen, ohne beste Freundin und ganz im Schatten ihrer berühmten Instagram-Schwester? Zumindest hatte ihr dort die Arbeit Spaß gemacht. Der einzige Unterschied zu ihrem jetzigen Leben in Melbourne bestand darin, dass ihre Mutter ihr nicht mehr jeden Donnerstagabend nach dem Familienabendessen eine Tasche mit frischem Obst und Gemüse aufdrängte. Und obwohl Bea vorsichtig-optimistisch war, was die neue romantische Beziehung in ihrem Leben betraf, wollte sie ihr Glück nicht davon abhängig machen, dass sie in einer Beziehung lebte. Sie neigte ohnehin dazu, den falschen Kerlen nachzulaufen. Oder vielmehr war es so, dass die falschen Kerle Bea nachliefen.
»Was würdest du machen, wenn du jeden Job der Welt haben könntest?« Dino hob rasch die Hand, um ihre Proteste abzublocken. »Es geht nicht darum, ob es machbar ist. Denk auch nicht an deine Lebenshaltungskosten. Stell dir einfach eine andere Realität vor.«
Bea trommelte mit den Fingern auf der Theke. Alles wäre möglich? »Ich hab keine Ahnung«, sagte sie, während ihr das Bild einer einsamen tropischen Insel durch den Kopf ging, mit einer kleinen Buchhandlung aus Kokosnussschalen und Palmblättern.
»Jetzt komm schon, Babbage, da wirst du doch sicher irgendwann mal drüber nachgedacht haben, während du auf dem Klo dein Mittagessen gefuttert und dir auf der Suche nach der nächsten großartigen Idee im Bereich Mundhygiene das Hirn zermartert hast?«
Bea seufzte und kämmte mit den Fingern durch Agatha Christies dichtes, gelocktes Fell. Wovon träumte sie? Was erhoffte sie für sich? Sie hatte immer alles ganz regelkonform gemacht: hatte in der Schule fleißig gelernt, war dem Vorbild ihrer Schwester gefolgt und gleich nach der Schule auf die Uni gegangen, sie hatte Marketing studiert, war mit Cassandra herumgezogen und hatte eine paar fantastische, aber zeitraubende Liebeleien mit Europa gehabt, sie hatte ehrenamtlich gearbeitet, wann immer sie konnte, ihren Abschluss gemacht, LinkedIn entdeckt und schon bald eine Stelle in dem Bereich bekommen, in dem sie studiert hatte. Das Radikalste, was sie in den acht Jahren zwischen ihrem Schulabschluss und ihrem ersten Vollzeitjob getan hatte, bestand allen Ernstes darin, dass sie versehentlich in einem Pariser Café Schnecken bestellt hatte, weil sie der Meinung gewesen war, hinter dem Wort verberge sich eine Art Rosinengebäck.
»Ach, ich weiß auch nicht. Es ist eigentlich albern«, sagte Bea und trank einen Schluck Kaffee. »Aber vielleicht brauche ich gar keine neue tolle Karrierechance auf der Überholspur. Vielleicht bin ich es einfach nur leid, das zu machen, von dem andere denken, dass ich es tun sollte. Oder das, von dem ich denke, dass andere denken, dass ich es tun sollte. Ich wäre einfach gern in der Lage, das Heft ein bisschen mehr selbst in die Hand zu nehmen. Und ich glaube, ich würde auch gern nach einem besseren Moralkodex arbeiten. Ich wünsche mir mehr Bedeutung für mein Leben, mehr Ziel und Zweck. Eine Aufgabe. Dass ich nach Melbourne gezogen bin und mein Leben komplett auf den Kopf gestellt habe, sollte eigentlich der Anfang von alldem sein. Der Anfang einer neuen Bea, die mutiger ist als die alte.«
Dino nickte zu ihren Worten. »Okay, super. Das ist doch schon mal ein guter Anfang!«
»Mach dich nicht lustig über mich, Dino.«
»Wer – ich? Ich bin so ernst, wie es nur möglich ist«, sagte er und legte die rechte Hand aufs Herz. »Red bitte weiter.«
»Ein winziger Teil von mir hat sich immer gefragt, wie es wohl wäre, wenn ich allein arbeiten würde. Wie es wäre, wenn ich mehr Kontrolle über die Unternehmen hätte, für die ich arbeite. Wenn ich mir die Aufträge aussuchen und wählen könnte zwischen den langweiligen, den unethischen und den richtig spannenden Aufträgen!«
»Dann mach das doch einfach! Was hast du denn zu verlieren?«
»Stabilität – ein Dach überm Kopf – Geld für Bücher.«
»Babbage, du denkst so praktisch. Na gut, dann fang eine Nummer kleiner an. Experimentier ein bisschen herum und schau mal, wie es dir gefällt.«
Bea lachte. »Bei dir klingt das alles so einfach.«
Dino stützte die Ellenbogen auf die Theke und beugte sich vor. Er kam ihr so nahe, dass sie den Geruch von Kaffeebohnen wahrnehmen konnte. »Vielleicht könnte ja wirklich alles so einfach sein – auf jeden Fall zu Anfang.«
»Ja und dann? Ich soll also einfach kündigen und meine eigene Marketingagentur gründen? Einfach so?« Bea schnippte mit den Fingern.
»Tja – ja.« Dino zuckte mit den Achseln. »Das solltest du tun. Sogar ich kann erkennen, dass du bei deinem jetzigen Job vor die Hunde gehst.« Er beugte sich noch weiter zu ihr hinüber. »Aber wenn dich dieser Gedanke zu sehr abschreckt, könntest du vielleicht mit einer kleinen Geschichte anfangen. Mit einem Event, mit irgendwas, bei dem du mit Leidenschaft bei der Sache bist. So habe ich das gemacht, als ich damals erwogen habe, die Finanzwelt hinter mir zu lassen und The Nook zu eröffnen.«
»Du hast mal im Finanzwesen gearbeitet? Irgendwie kann ich mir das gar nicht vorstellen«, lachte Bea.
»Vor ein paar Jahren saß ich noch in der Firma meines Onkels. Er hat ein Wirtschaftsprüfungsunternehmen – du kannst dir also ungefähr vorstellen, wie spannend der Job war. Ich musste unbedingt da raus. Aber bevor ich mein Leben grundlegend umgekrempelt habe, hab ich auch klein angefangen. An den Wochenenden hab ich ehrenamtlich in einer Suppenküche gearbeitet, Kaffee gekocht und bei der Buchführung geholfen. Und das hat mir unglaublich viel Spaß gemacht. Da ist mir klar geworden, dass ich kündigen und The Nook eröffnen muss, etwas tun, wo ich kreativer sein und mitten im Leben stehen kann. Ein paar Monate später bin ich an Sunday herangetreten und hab sie gefragt, ob wir nicht zusammen diesen Laden aufmachen wollen. Und der Rest ist Geschichte.«
»Dino, das ist ja der Hammer! Aber ich wüsste noch nicht mal, wo ich da anfangen soll. Und außerdem hattest du Sunday, und ihr konntet den Sprung gemeinsam wagen. Ich hab hier eigentlich überhaupt niemanden außer Zach, und ich glaube, es ist ein bisschen zu früh, als dass wir darüber reden könnten, gemeinsam ein Unternehmen auf die Beine zu stellen.«
»Machen wir doch einfach mal ein bisschen Brainstorming.«
Als Bea zwei Mandelcroissants verschlungen hatte, hatten sie einen Plan entwickelt. Mit einem neuen Gefühl von Ziel und Zweck und Bedeutung winkte Bea Agatha Christie und Dino zum Abschied zu und hüpfte fast schon ausgelassen durch die Tür hinaus. Als sie zu ihrem Schreibtisch oben im Büro zurückkehrte, warf sie einen Blick auf den Kaffeebecher in ihrer Hand, auf dem geschrieben stand: Versuch es jetzt, versuch es jetzt, es ist noch nicht zu spät.