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Den ganzen restlichen Tag konnte Bea sich nicht mehr konzentrieren. Dino ist Single!, dachte sie immer wieder. Aber sie hatte doch gesehen, wie er mit Sunday umging. Oder hatte ihr paranoides Gehirn ihr alles nur vorgemacht? Und Sunday und Ramona? Wie konnte mir das nur entgehen?
Während Martha und Ruth über Computersysteme stritten und Philip ohne Unterbrechung fraß und fraß, dann schiss und danach weiterfraß, befand Bea sich in einer Art Schockzustand. Du bist mit Zach zusammen, sagte sie sich, während sie versuchte, Ablaufpläne zu entwerfen und die Anweisungen zu begreifen, die Mia geschickt hatte. Und als Martha und Ruth sagten, dass sie jetzt gehen müssten, winkte Bea ihnen nur halbherzig zu, ohne sich groß zu bewegen.
Sie warf einen Blick auf die Uhr. Sie hatte Angst, zu Zach nach Hause zu gehen, aber sie hatte genauso viel Angst vor dem, was sie tun würde, wenn sie nicht nach Hause ging. Als Sunday also noch einmal an ihren Schreibtisch kam und fragte, ob sie mit auf einen After-Work-Drink in den Lucky Coq kommen wolle, nahm Bea an, dankbar, dass sie nun eine Entschuldigung hatte.
Zwei Stunden, drei Tequilashots und zwei Gläser Rotwein später stolperte Bea aus dem Pub. Sunday hielt sie lachend fest.
»Bist du sicher, dass es dir gut geht, Schätzchen?« Sundays dunkelroter Lippenstift war verschmiert, und ihr Lippenpiercing funkelte im Licht der Straßenlaternen. Während sie hinaus auf die Straße stolperten, kippte Bea um, und Sunday fing sie auf.
»Aber natürlich, Schätzchen! Mir geht’s einfach fantastisch!«
Sunday brach wieder in lautes Gelächter aus. »Also, erzähl mir mal mehr von Zach. Ich kann einfach nicht glauben, dass ihr beiden wieder zusammen seid!«, sagte sie etwas undeutlich.
»Irgendwie bin ich da einfach wieder reingestolpert, weißt du? Er war da, als ich niemand anders hatte. Und er hat sich gut um mich gekümmert. Außerdem ist der Sex einfach verdammt großartig.« Bea hickste und hielt sich rasch die Hand vor den Mund.
»Oh Mann. Ich hab schon verstanden. Guter Sex ist echt alles! Zu dumm, dass ich den besten Sex meines Lebens für immer verloren habe.«
»Oh? Ist etwas mit Ramona?« Bea war immer noch nicht über die Enthüllung hinweg, dass Sunday mit ihrer Putzfrau schlief.
»Nein! Das macht einfach nur total Spaß. Der beste Sex, den ich je hatte, war mit der Liebe meines Lebens – Ella. Sie war wunderschön und gleichzeitig unglaublich witzig. Und der Sex war einfach fantastisch. Aber ich erinnere mich noch genau, wie mir klar wurde, dass es für mich mehr als nur das Körperliche war. Es war ihr Lachen, das es mir so unglaublich angetan hatte.«
»Und was ist dann passiert?«
»Sie hat ganz plötzlich den Kontakt abgebrochen. Eines schönen Tages hab ich sie angerufen, und der Anruf ging direkt auf die Mailbox. Ich hab nie wieder von ihr gehört. Sie hat mein Herz zu Spaghetti verarbeitet«, sagte Sunday.
»Zu Spaghetti?«, kicherte Bea.
»Jawohl, Spaghetti!«, rief Sunday aus und kicherte ebenfalls. »Weißt du, was wir jetzt machen sollten?«
»Was denn?« Bea strahlte Sunday an. So sorglos und frei hatte sie sich schon lange nicht mehr gefühlt. Sie griff nach Sundays glitzer-manikürter Hand und schwang sie vor und zurück, ganz begeistert von dieser unbekümmerten Geste.
»Wir sollten zu The Nook fahren!« Sunday fiel Bea in die Arme, und Bea kicherte hysterisch.
»No way, José! Dino ist stinksauer auf mich. Ich kann ihm jetzt echt nicht gegenübertreten.« Bea holte ihr Handy heraus und wollte einen Uber bestellen. Genug war genug, sie sollte jetzt wirklich nach Hause zu Zach. Außerdem gefiel es ihr nicht, wie ihr Magen ins Flattern geriet, wenn Sunday den Namen Dino erwähnte.
»Das ist er nicht, er liebt dich!«
Bea verdrehte die Augen.
»Nun komm schon«, sagte Sunday, schnappte Beas Handy und dirigierte sie in Richtung The Nook, genau in die Gegenrichtung zu ihrem Heimweg. »Er macht noch ein paar Sachen zu Ende, und ich hab gesagt, ich komme vorbei und helfe ihm beim Aufräumen.« Sunday lächelte, als der Uber neben ihr hielt und Bea widerwillig hinter ihr ins Auto plumpste.
*
Beas Magen verkrampfte sich, als sie sich der schmalen blauen Tür von The Nook näherten. Das ist keine gute Idee, sagte der Teil von ihr, der nicht betrunken war, und sie zitterte in der kalten Winterluft. Aber der betrunkene Teil drängte sie in den Laden. Sunday folgte ihr auf dem Fuß.
»Hallo, Dino! Bist du noch da?«, rief diese ein paar Dezibel zu laut für Beas inzwischen pochenden Kopf.
Sie blieb stehen und spielte verlegen an ihrem Haar herum. Agatha Christie kam sofort auf sie zugewatschelt und leckte ihr die Schuhe ab.
»Sunday?«, rief Dino von der Küche her. »Die anderen sind alle schon weg.« Er kam in seiner üblichen grünen Schürze aus der Küche, um Sunday zu begrüßen. Als er Bea sah, erstarrte er und sein Verhalten änderte sich. Er kniff die Augen zusammen und wurde ganz steif vor Wut. »Bea. Was willst du denn hier?«
Bea nahm Agatha Christie auf den Arm und drückte sie an sich. Sie blinzelte rasch ein paarmal. Nein, ich heule jetzt nicht.
»Ach, komm schon, du alter Griesgram. Wir sind doch alle Freunde.« Sunday gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Weißt du, was Bea gedacht hat? Du wirst dich totlachen.«
Bea schüttelte leicht den Kopf. Erzähl’s ihm nicht, Sunday.
»Dass es eine gute Idee war, wieder mit dem Typen zusammenzukommen, der sie belogen hat?«, fuhr Dino sie an.
Bea verdrehte die Augen. Sie hatte Dinos andauernde Befürchtungen satt. »Warum interessiert dich das überhaupt, Dino? Außerdem hat Zach sich geändert. Er ist wunderbar.«
»Er ist wunderbar im Bett trifft’s wohl eher.« Sunday zwinkerte ihr zu.
»Deswegen bist du also mit ihm zusammen? Es ist der Sex? Ich habe mich schon die ganze Zeit gefragt, was der Grund sein könnte.«
»Das ist überhaupt nicht der Grund«, ätzte Bea. Stimmt das?
»Ist ja auch egal …« Sunday räusperte sich. »Was viel lustiger ist: Bea hat gedacht, wir beide wären zusammen. Sie hat uns die ganze Zeit für ein Paar gehalten!« Sie brach in Gelächter aus.
Dino riss die Augen auf. Er blickte Bea an, als wollte er fragen, ob das wirklich stimmte. Bea hob entschuldigend die Achseln.
»Du liebe Güte. Du hast gedacht, Sunday und ich wären zusammen? Die ganze Zeit über hast du das gedacht?«, murmelte er.
»Natürlich hab ich das gedacht, Dino. Du hast ja nie etwas Gegenteiliges gesagt.«
»Mir war nicht klar, dass ich etwas hätte sagen sollen – vor allem, wenn man bedenkt, dass es da gar nichts zu sagen gab«, sagte Dino mit leicht zitternder Stimme.
Sunday warf einen Blick auf die beiden, die einander anschauten und offenbar an alles dachten, was ungesagt geblieben war. »Dino«, durchbrach sie schließlich die Stille, »wobei können wir dir noch helfen?«
Dino blickte sich in dem blitzsauber funkelnden Café um. »Dein Timing ist wie immer erstklassig, Sunday. Ich bin gerade fertig geworden.«
Sunday schnippte mit den Fingern. »Verflixt!«, sagte sie grinsend und warf einen Blick auf die Uhr. »Sieht ganz so aus, als würde ich es doch noch zu der Einweihungsparty in Collingwood schaffen. Bea, willst du mitkommen?«
Bea schaute Dino an, der sich bereits wieder in die Küche zurückzog. Ihr Herz setzte einen Augenblick aus, als hätte sie einen Teil von sich verloren. Sie musste unbedingt wieder in Ordnung bringen, was auch immer da zwischen ihnen zerbrochen war. Und – vielleicht – auch die dringend anstehenden Maßnahmen für Next Chapter besprechen. Also lehnte sie Sundays Angebot ab und gab ihr zum Abschied einen Kuss. Sunday stolzierte mit drei Fingern winkend aus dem Café, und die Glocke an der Eingangstür klingelte Unheil kündend hinter ihr. Bea wandte sich wieder zu Dino und wollte etwas sagen, aber er hatte sie einfach stehen lassen. Seufzend setzte sie Agatha Christie in ihr Körbchen zurück und ging in die Küche.
»Dino?«, sagte sie und lehnte sich an den Türrahmen. In ihrem Kopf drehte sich alles.
»Du bist ja immer noch da«, sagte er, ohne sich umzuschauen.
Bea trat einen Schritt vor, blieb stehen und ging wieder rückwärts. Ich schaffe das. Ich schaff’s, dass wir uns wieder versöhnen. »Dino, könnten wir bitte mal miteinander reden?«
»Schieß los. Was gibt’s denn?«, sagte Dino abweisend, drückte den Deckel auf einen Behälter mit Mini-Quiches und stelle ihn in den Kühlschrank. Dann wandte er sich zu Bea um, verschränkte die Arme und blickte sie mit erhobenen Augenbrauen an.
»Dino, ich möchte doch nur, dass zwischen uns wieder alles so wird, wie es war. Mir fehlen die nervigen Zitate auf meinen Kaffeebechern. Mir fehlt unser Geplänkel und unsere Plauderei, und mir fehlen die Muffins, die du mir immer für abends aufgehoben hast.« Bea zwang sich zu einem Lächeln und spürte, wie sich ein großes Gewicht von ihren Schultern hob.
Dino schüttelte den Kopf und blickte geistesabwesend durch die kleine Servierklappe. »Ich weiß nicht, ob es zwischen uns jemals wieder so werden kann, Bea.«
»Bitte, Dino.« Bea trat wieder einen Schritt nach vorn. Sie wollte so gern den Graben schließen, der sich zwischen ihnen aufgetan hatte.
»Was ist der wirkliche Grund, dass du wieder mit ihm zusammen bist, Bea?«, fragte Dino und ließ die Arme sinken. »Ich versteh das einfach nicht. Ich versteh dich nicht.«
Bea blickte Dino in die Augen und sah dort Trauer und Zorn und vielleicht auch einen Hauch Sehnsucht. Warum bin ich mit Zach zusammen?, fragte sie sich. Das war eine Frage, die sie nicht so richtig beantworten konnte. Es war alles so rasend schnell passiert, und jetzt war es … nun ja, es war nun mal einfach so, wie es war. Ihr kamen verschiedene Möglichkeiten in den Sinn. Bei ihm fühle ich mich sicher. Ich bin gern in seiner Nähe. Er kann wunderbar kochen. Aber sie kam immer wieder auf den einen Grund zurück: Weil ich sonst niemanden hätte.
Dino trat einen Schritt näher. »Bea, ich wollte nicht, dass sich zwischen uns alles ändert. Du kannst es mir glauben oder nicht, du fehlst mir auch«, sagte er jetzt etwas sanfter.
Bea zögerte einen Augenblick, dann zog sie sich ein paar Zentimeter zurück. Dinos Gesicht verhärtete sich bei dieser Bewegung unmerklich.
»Warum kannst du mir nicht einfach sagen, warum du mit ihm zusammen bist, Bea?« Agatha Christie kam zu den beiden in die Küche, drückte ihren kleinen Körper mit dem gelockten Fell an Dinos Bein und schaute wissend zu ihm hoch.
»Weil …«
»Was? Sind es einfach die Umstände? Hättest du ein zu schlechtes Gewissen gehabt, ihn einfach abzuweisen? Denn einen anderen logischen Grund kann ich mir einfach nicht vorstellen.«
»Das ist nicht fair, Dino. Wie kannst du so was Schreckliches sagen?.«
»Ihr beide habt nichts gemeinsam.«
»Und du und ich haben etwas gemeinsam?« Bea schrie fast.
»Bea.« Er trat wieder auf sie zu und nahm ihr Gesicht zwischen seine Hände, sodass sie seine warmen, rauen Handflächen an ihren Wangen spürte. »Woraus auch unsere Seelen geschaffen sein mögen: seine und meine Seele gleichen sich völlig«, zitierte er Emily Brontë.
»Was soll das denn bedeuten? Ich versteh dich einfach nie, Dino. Du sagst nie, wie du dich wirklich fühlst. Die ganze Zeit über sprichst du in Gemeinplätzen und Zitaten. Es ist mir egal, wie Brontë sich fühlt oder Wilde oder Austen.« Ihre Stimme zitterte. Dino schien die Kunst zu beherrschen, zu kommunizieren und sich dennoch gleichzeitig alle Leute vom Leib zu halten. All diese Zitate und Metaphern, hinter denen er sich immer versteckte! Die permanenten Schranken – er konnte offenbar gar nicht anders, als immer wieder neue zu errichten. War ihm denn alles egal? Oder konnte er nicht anders? »Ich will wissen, was du fühlst!«
Dino zögerte, die Hände immer noch an Beas Gesicht.
»Dino! Sag’s mir einfach. Sag mir, was du wirklich meinst.«
»Es geht hier nicht um mich. Ich muss mich nicht für meine Gefühle rechtfertigen«, sagte er und ließ sie los.
»Warum nicht?«, bedrängte ihn Bea.
»Da gibt es nichts zu sagen.«
Bea schüttelte den Kopf. »Da gibt es alles zu sagen, das weißt du genau.«
»So bin ich eben nicht. Ich bin nicht so aufgewachsen, dass ich einfach so über meine Gefühle plaudern würde. Ich bin bisher sehr gut damit gefahren, niemand an mich heranzulassen«, sagte Dino in einem einzigen Atemzug.
»Dino, probier’s mal aus. Für mich. Bitte sag mir, was du wirklich meinst.« Sie stand so nahe bei ihm, dass sie spüren konnte, wie er zitterte. Die Stille zwischen ihnen zog sich immer länger hin.
»Ich habe gemeint … Ich habe gemeint, dass wir eine Verbindung zueinander haben, ob es uns nun gefällt oder nicht. Wir sind gleich. Wenn ich gute Neuigkeiten habe, bist du die Erste, die ich anrufen will. Wenn es regnet, frage ich mich, ob du auch trocken bleibst. Und wenn ich abends schlafen gehe, muss ich an dich denken und an niemand sonst. Sag mir, dass es für dich nicht auch so ist, Bea. Sag mir, dass du nicht genauso empfindest.« Dino lehnte seine Stirn an ihre. Er schien sich angesichts seiner neuen Offenheit wie befreit zu fühlen.
So standen sie, die Stirn aneinandergelegt, da. Bea war ein bisschen zittriger in den Knien als zuvor. Einen Augenblick stellte sie sich vor, er würde sie an sich ziehen und sie würde seine Bartstoppeln wieder auf den Lippen spüren. Aber dann fing sie sich wieder und dachte an Zach. Er mochte sie einmal verraten haben, aber das gab ihr noch lange nicht das Recht, ihm nun auch Unrecht zu tun. Aber Dino hatte sich ihr gegenüber gerade geöffnet. Sie konnte ihn nicht einfach hängen lassen.
»Dino …«, brachte sie heraus und trat einen Schritt zurück.
Dino seufzte wie besiegt und wurde wieder zu seinem alten, kühlen Selbst.
»Ich will noch mit dir befreundet sein, Dino. Du fehlst mir.«
Er gab zur Antwort nur ein Schnauben von sich.
Bea wollte noch mehr sagen, aber nach einem Blick auf die steife Körperhaltung, die er nun wieder eingenommen hatte, zwang sie sich, die Küche zu verlassen und dann das Café, weg von ihrer überwältigenden Sehnsucht.