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Bea zog den Reißverschluss ihrer schwarzen Steppjacke bis ganz oben zu. Nachdem sie bei ihren Überlegungen für die Krimikampagne einen Durchbruch erzielt hatte (eine Krimi-Dinnerparty zur Veröffentlichung des Buches – besser konnte es wirklich nicht mehr werden), hatte sie beschlossen, sich mit einem Mittagessen im Park zu belohnen. Im Fawkner Park.
Bewaffnet mit Meeting Oliver Bennett, ihrem Mobiltelefon und einer Handvoll »Gesucht«-Zettel, lief sie nun die Straße entlang, um sich auf die Spuren des Geheimnisvollen Autors zu begeben. Nach ihrem irgendwie verheerenden Abend mit Ruth (der Silberstreif am Horizont hatte allein darin bestanden, dass es ein Film gewesen war, bei dem man schallend lachen musste, so sehr, dass man fast ein bisschen in die Hose machte) war Bea restlos bereit, sich wieder voll und ganz ihrer Jagd zu widmen. Sie musste optimistisch und willensstark sein. Es war die einzige Art, wie sie den Geheimnisvollen Autor finden konnte.
Bea hatte viel Zeit übrig und beschloss, die siebzehn Minuten zum Park zu laufen. Sie schlängelte sich durch die engen Seitenstraßen hinter der Chapel Street und kam an Boutiquen vorbei, die alles verkauften, von Brillen bis hin zu hochwertiger, teurer Lingerie. Dann ging sie durch den geschäftigen, duftenden Prahan Market und vorbei an The Nook (sie entschied, nicht hineinzuschauen und Hallo zu sagen), und die ganze Zeit ging sie im Geiste ihre Taktik durch. Es war keine große Sache: Sie würde, solange sie Zeit hatte, ihre Zettel an Bäume und Bänke hängen. Und im schlimmsten Fall, wenn bei der ganzen Sache nichts herauskäme, hätte sie wenigstens ihre Mittagspause an der frischen Luft verbracht.
Bald fand sich Bea an einem der Eingänge zum Fawkner Park wieder. Der Weg führte zu einem großen, zentral gelegenen Oval und wurde von Reihen turmhoher Eichen flankiert. Verdammt, dieser Park ist ja riesengroß!, dachte sie. Sie hatte keine Ahnung, wo sie hier anfangen sollte, aber sie ließ sich davon nicht einschüchtern, sondern tat einen zögerlichen Schritt vorwärts, dann noch einen und noch einen, bis sie mit frischem Elan den von den Bäumen überdachten Weg entlangschritt. Aufmerksam scannte sie ihre Umgebung nach irgendetwas, das ihr etwas über den geheimnisvollen Autor enthüllen könnte. Immer wieder blieb sie stehen, hängte einen Zettel an einen Baum oder eine Bank und ignorierte die neugierigen Blicke der anderen Parkbesucher.
Sie hatte Hunger und fühlte sich ein klein bisschen lächerlich, also holte sie die Sushi Rolls heraus, die sie auf dem Markt gekauft hatte, tunkte das erste Stück in Sojasoße und ließ es sich auf der Zunge zergehen. Und dann sah sie den Baum. Er sah aus wie ein überdimensionaler Brokkoli: eine gewaltige großblättrige Feige hinten im Park, die ihre Äste in alle Richtungen ausstreckte. Schnell verputzte sie den Rest ihres Sushis und begann, auf den Baum zuzulaufen, als hätte sich eine kosmische Kraft ihres Körpers bemächtigt. An diesen Baum musste sie unbedingt ihren Zettel hängen.
Am Fuß des Baumes blieb Bea stehen und spähte zwischen den belaubten Zweigen hindurch nach oben. Sie schritt einmal um den Stamm herum und suchte nach dem Platz, wo ihr Zettel am besten ins Auge fallen würde. Sie machte eine Stelle ausfindig, brachte den Flyer etwa auf Augenhöhe an und trat einen Schritt zurück, um ihr Werk zu bewundern.
Dann betrachtete sie wieder den riesigen Baum und stellte sich vor, wie der Geheimnisvolle Autor sich gegen seinen breiten Stamm lehnte. Und während sie so dastand, musste sie an den Sommer denken, in dem sie und Cassandra in ihrem Garten ein Baumhaus gebaut hatten – ein paar Bretter in einen Baum gequetscht traf es eher – und wie sehr sie es genossen hatte, dort oben zu sitzen und bis in den Sonnenuntergang zu lesen.
Sie stopfte Buch, Telefon und die leere Sushibox vorne in ihre Jacke und suchte nach einer passenden Aufstiegsmöglichkeit. Sie fand eine Lücke, zwängte ihren Fuß hinein und zog sich hinauf, fiel aber wieder zurück. Sie versuchte es erneut, diesmal mit einem kleinen Sprung, und schaffte es, hoch genug zu kommen, um sich über einen der unteren Äste zu werfen. Jetzt konnte sie sich hochziehen und einen Ast nach dem anderen hinaufklettern, bis sie das Zentrum des Baumes erreicht hatte, wo alle Äste zusammenliefen. Sie kauerte sich hin und ließ den Blick über die Äste gleiten. Zu ihrer Enttäuschung sah sie nur einen Klumpen grünes Kaugummi und eine verbeulte Dose Diätcola.
»Alles klar da oben?«, rief eine Stimme. Bea zuckte zusammen.
Sie steckte den Kopf aus ihrem Versteck und sah einen schlaksigen Mann in Fahrrad-Shorts, der auf der Stelle joggte. »Ja, alles klar. Es ist fantastisch! Ich genieße die Ruhe dieses Ortes!«, rief sie hinunter, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und stieß etwas aus, das halb ein Seufzen und halb ein Gähnen war.
Der Mann schaute skeptisch zu ihr hinauf, als wollte er sagen: Bist du nicht ein bisschen zu alt, um auf Bäume zu klettern, Pippi Langstrumpf?, aber schließlich lief er weiter.
Bea stand auf und versuchte abzuschätzen, welches der tragfähigste Ast war, auf dem sie weiter in das dichte Blattwerk hinaufklettern könnte. Sie stellte ihren Fuß versuchsweise hierhin und dorthin, packte einen höher gelegenen Ast und zog sich hinauf. Dann wagte sie sich Schrittchen für Schrittchen weiter nach außen vor. Von hier oben hatte sie einen unglaublichen Blick auf den Park, der wirklich wunderschön war.
»Wenn ich doch bloß …« Bea tat einen weiteren Schritt und streckte die Arme aus, sodass sie mit den Fingerspitzen das Grün über sich berühren konnte. Aus dem Nichts schoss eine Elster an ihr vorbei, und Bea erschrak derart, dass sie den Halt verlor. Sie schrie auf und geriet ins Schwanken, ihr linker Fuß rutschte ab und verklemmte sich in einem vollkommen unnatürlichen Winkel zwischen ein paar Ästen. Ein stechender Schmerz durchzuckte ihr Bein, und Bea wand sich vor Schmerzen. »Fuck, oh verdammt!«
Im Eifer des Gefechts vergaß sie, wo sie war, und wand sich ein bisschen zu sehr. Mit der letzten Bewegung geriet sie zu weit nach außen auf den Ast. Sie spürte einen leichten Knall im Knöchel und stürzte zu Boden – glücklicherweise aus nicht sonderlich großer Höhe. Mit einem dumpfen Aufschlag landete sie auf dem Rücken und kam verletzt und atemlos auf dem Kiesweg zu liegen.
Sie konnte sich nicht rühren, lag mit weit geöffneten Augen da und hatte Mühe, wieder zu Atem zu kommen. Alles um sie herum drehte sich.
Als sie endlich wieder Luft bekam, versuchte sie sich aufzusetzen, aber schon bei der kleinsten Bewegung schoss ihr erneut der Schmerz das ganze Bein hinauf. Sie wandte den Kopf und sah ihr iPhone, das ihr beim Sturz aus der Jacke gefallen sein musste, knapp außerhalb ihrer Reichweite liegen. Sie schob sich ganz leicht nach links, schaffte es, das Gerät zu fassen, und zog es zu sich heran. Wen soll ich anrufen? Sie wünschte, ihre Eltern wären hier. Und zum ersten Mal wünschte sie sich, Lizzie würde nicht so weit draußen in Mount Eliza wohnen. Dino? Sie wählte seine Nummer und betete, dass er rangehen würde. Nach einigen Klingeltönen wurde der Anruf auf die Mailbox umgeleitet. Sie versuchte es in The Nook, obwohl sie wusste, dass Dino da nie ranging. Wieder nahm niemand ab. Fuck, verdammt noch mal, fuck!
Erneut versuchte sie, sich aufzusetzen, und schaffte es diesmal, sich auf einen Ellenbogen zu stützen. Sie wusste, dass sie Zach anrufen musste. Es war die einzige andere vernünftige und verlässliche Möglichkeit. Er war stark genug, um sie zu tragen. Sie scrollte durch ihre Kontakte und drückte widerstrebend auf seine Nummer.
Beim dritten Klingeln ging er dran. »Bea? Ich freu mich ja so, dass du anrufst! Gerade wollte ich …«
»Zach, ich brauche deine Hilfe«, sagte sie und fing an zu weinen.
*
»Was erkennen Sie da auf dem Röntgenbild?«, fragte Bea, die jetzt dank des Morphiums weniger Schmerzen hatte und wesentlich besserer Stimmung war. Sie lag in der Notaufnahme des Alfred Hospital, an ihrer Hand war ein Tropf befestigt, über den sie gute, altmodische Schmerzmittel bekam. Bis Zach es zu ihr in den Park geschafft hatte, hatte ein Spaziergänger sie entdeckt. Er war früher bei den Pfadfindern gewesen und hatte ihr rasch eine provisorische Schiene angelegt, angefertigt aus den Zweigen der Großblättrigen Feige. »Das ist wirklich ironisch, was?«, hatte sie laut vor sich hin sinniert, erinnerte sich aber, zugedröhnt wie sie jetzt war, nur noch verschwommen daran.
Seit ihrer Ankunft im Krankenhaus hatte Bea eine Kernspintomografie und einmal Röntgen über sich ergehen lassen, und nach drei entsetzlich langen Stunden Wartezeit erfuhr sie endlich, dass sie keine Rückenverletzung hatte, wohl aber der linke Knöchel gebrochen war.
»Sehen Sie das hier?«, sagte der Arzt und zeigte auf den Bildschirm. Er sah eigentlich viel zu jung aus, um Arzt zu sein: er hatte zerraufte Haare, trug eine Brille mit schwarzem Rand und wirkte, als würde er Verkleiden spielen. Zach hielt Beas Hand und drückte sie fest. Seit sie im Krankenhaus angekommen waren, hatte er sie nicht mehr losgelassen.
»Was ist das?«, fragte Bea dringlich.
»Ein gebrochener Fußknöchel. Ich hab’s ja gewusst!« Der Arzt jauchzte weniger wie ein Arzt, der eine Diagnose stellt, sondern eher wie ein kleiner Junge, der gerade in der Speisekammer eine Packung Kekse entdeckt.
»Und was bedeutet das?«, fragte Zach verärgert.
»Da müssen wir was machen«, sagte der Arzt mit nervigem Lächeln. Er schaltete den Leuchttisch aus. »Ihr Knöchel ist an zwei Stellen gebrochen, das sieht ganz schön hässlich aus, wenn Sie mich fragen. Ich würde vorschlagen, so schnell wie möglich zu operieren. Dr. Richards scheint morgen früh noch Luft zu haben«, sagte er lässig und fuhr mit dem Finger den Plan auf seinem Klemmbrett entlang.
»Operieren?«, riefen Zach und Bea gleichzeitig.
»Ja, aber das ist wirklich reine Routine. Dr. Richards führt solche Operationen dauernd durch, meistens bei Spitzenfußballern.« Er schwieg und schaute Bea von oben bis unten an. »Sie werden wieder ganz gesund, da müssen Sie sich keine Sorgen machen. Aber vielleicht sollten Sie sich ein paar Tage freinehmen. Nach der OP werden Sie wahrscheinlich ein paar Wochen eine Schiene tragen, aber mit ein bisschen Physiotherapie kommt das alles wieder in Ordnung. Nichts, worüber Sie sich Sorgen machen müssten.«
»Oh«, murmelte Bea, während Zach ihr tröstend über die Hand strich. Bea war nicht mehr operiert worden, seitdem ihr mit 19 die Weisheitszähne gezogen worden waren. Nach der Narkose war sie damals überzeugt gewesen, dass sie in Narnia war, und hatte die Schwester die ganze Zeit mit Aslan angesprochen. Sie schauderte, als sie daran dachte.
»Haben Sie Angehörige, die ich benachrichtigen soll?«, fragte der Arzt.
Bea versagte die Stimme, sie konnte nicht antworten. Sie schüttelte den Kopf, als ihr das Bild ihrer verzweifelten Mutter vor Augen trat. Maggie würde nur Stress machen, und Martin – nun ja, der würde wahrscheinlich verlangen, dass er die Operation selbst durchführen dürfte. Es wäre besser, wenn sie diese Unterhaltung fürs Erste verschob.
»Aber ich bin hier, ich weiche ihr nicht von der Seite«, sagte Zach und legte Vertrauen und Wärme in seine Stimme.
»Und Sie sind?«, fragte der Arzt.
»Ich bin ihr Freund«, antwortete Zach und warf Bea einen Blick zu, als warte er auf ihre Zustimmung.
Sie schloss die Augen und stieß einen vernehmlichen Seufzer aus. Tja, ich schätze, damit sind wir wohl wieder zusammen.