1. KAPITEL
Die Kiste war sperrig und ließ sich unglaublich schwer transportieren. Aber es gab keine andere Möglichkeit, und so schleppte und schob Jolie Tanner den wuchtigen Karton, bis sie ihn endlich auf dem Skibob verladen hatte und festzurren konnte. Waren Pappkartons überhaupt stabil genug für einen solchen Transport? Egal, sie hatte keine Wahl.
Es war Zeit zu gehen. Ein letztes Mal kehrte Jolie zu dem kleinen Häuschen zurück, suchte mit den dicken Profilsohlen ihrer dicken Schneeschuhe Halt auf den vereisten Stufen und blickte sich noch einmal prüfend um. Alles war aufgeräumt, sauber und seltsam unpersönlich. Sie hatte ihre Mission erfüllt. Jolie zog die Tür zu und schloss ab.
Während sie auf den Fahrersitz des Skibobs kletterte, sah sie weiter unten die wartende Gondel und überlegte, wie sie die Kiste wieder von dem Motorschlitten hinunterwuchten und in der kleinen Kabine verstauen sollte. Seufzend fuhr sie über die breite Piste und parkte den Bob schließlich an der Seite der Bergstation.
Die motorisierten Schneemobile gehörten Hare, dem Chef der Bergwacht, ebenso der gefütterte Overall, den er Jolie für die Fahrt geliehen hatte. Auch das Funkgerät in der Jackentasche war von Hare. Noch vor ein paar Minuten war es rauschend angesprungen und Hare hatte sich bei ihr gemeldet, um sie zu warnen. Es sei eine Wetterverschlechterung angekündigt, sie solle sich unbedingt beeilen, ins Tal zu kommen, hatte er gesagt.
„Die letzte Gondel geht in fünf Minuten. Und du solltest zusehen, dass du sie noch erreichst“, hatte er seinen Funkspruch beendet.
Alles an seinen Platz, dieser Satz ging ihr durch den Kopf, als sie vom Bob stieg und ihn sicherte. „Alles an seinen Platz“ – das war eine der wichtigsten Regeln, die Hare jedem Mitarbeiter, der für die Bergwacht arbeitete, immer wieder einschärfte. Jedes Werkzeug, jeder Rettungsgurt, wurde nach Gebrauch sofort wieder einsortiert. Wer gegen dieses eherne Gesetz verstieß, konnte sich sofort wieder von der Bergwacht in Silverlake Mountain verabschieden und sich einen neuen Job suchen in den Bars, Restaurants und Hotels von Queenstown.
„Alles erledigt?“, erkundigte sich Hare, als sie in den Kontrollraum trat und die Tür hinter sich schloss.
„Ja, alles klar.“ Jolie hängte die Schlüssel des Skibobs an den Haken und stellte das Funkgerät in die Ladestation. Dann nahm sie den Schlüssel der Berghütte aus der Jackentasche und hielt ihn dem großen, bärenstarken Mann hin. „Mama hat mich gebeten, dir auch diesen Schlüssel zu geben.“
Hare kratzte an einem nicht vorhandenen Mückenstich, statt den Schlüssel zu nehmen. Also legte Jolie ihn einfach auf den Tresen, um ihn loszuwerden. Sie konnte es Hare nicht verübeln, dass auch er ihn nicht haben wollte.
„So haben wir noch nie zusammengesessen“, stellte er fest.
„Das stimmt, aber da bist du keine Ausnahme“, gab sie zu. Das war die Wahrheit, und nur Hare gegenüber konnte sie so offen sprechen. Jeder andere erlebte sie schweigend, beinahe feindlich, und abweisend – ein Schutzmechanismus, den sie seit ihrer Jugendzeit pflegte. „Vielleicht wird jetzt alles anders.“
Der Tod gab allen Dingen eine plötzliche Endgültigkeit.
„Wie hält sich deine Mutter?“, erkundigte sich Hare. „Ist sie zur Beerdigung gegangen?“
„Nein“, erwiderte Jolie zögernd. „Natürlich nicht. Sie hatte geplant, stattdessen um den Wanaka-See zu laufen. Vermutlich will sie sich auf diese Weise von ihm verabschieden.“
„Arbeitet sie heute Abend in der Bar?“, wollte Hare wissen.
Jolie nickte. „Sie hat mich gebeten, dir auszurichten, dass sie dich zu einem stillen Umtrunk einlädt. Eine Art Trauerfeier.“
„Sie hat ihn sehr geliebt“, meinte Hare gerührt. „Das wird ihr immer bleiben, auch wenn sie sonst nichts von ihm behalten kann.“
„Ich weiß. Es ist nur …“ Die ganze Zeit hatte Jolie versucht, gegen die Bitterkeit anzukämpfen. Aber schließlich hatte sie den gesamten Nachmittag damit verbracht, alle Spuren ihrer Mutter aus dem luxuriösen Leben von James Rees zu löschen und dabei festgestellt, wie viel ihre Mutter für diesen Mann aufgegeben hatte – und was sie andererseits dafür bekommen hatte. „Ich weiß.“
Hare konnte nichts dafür. Damals, als junger Auszubildender der Bergwacht, hatte James Rees ihn beauftragt, auf Jolie aufzupassen, während ihre Mutter mit ihrem verheirateten Liebhaber mit der Gondel auf den Berggipfel fuhr. Seither hatte Jolie wie eine Klette an ihm gehangen bis zu dem Zeitpunkt, als sie beschloss, alt genug zu sein, um auf sich selbst aufzupassen.
Hare hatte ihr das Skilaufen beigebracht, ihr die Berge gezeigt und sie immer behütet. Doch vor der harten Realität konnte selbst Hare sie nicht schützen.
Jolies Leben hatte sich von Grund auf geändert, nachdem James Rees’ Affäre mit Rachel Tanner ans Licht gekommen war. Ihre Freunde hatten sie fallen lassen, und es war ihr nie wirklich gelungen, neue Freundschaften zu knüpfen. Als dann die Jungen begonnen hatten, sich für sie zu interessieren – und das hatten sie wahrlich – musste Jolie erkennen, dass aus früheren Freundinnen plötzlich eifersüchtige Feindinnen werden konnten, die genau wussten, wie sie mit wenigen Worten jemanden tief verletzen konnten.
„Bleibst du länger in Queenstown?“, wollte Hare wissen. „Deine Mutter kann dich jetzt sicherlich gut gebrauchen.“
Jolie zuckte die Schultern. „Ein paar Wochen werde ich bleiben. Aber dann muss ich zurück nach Christchurch.“
„Ich habe gehört, du arbeitest dort als Zeichnerin.“
„Stimmt.“ Sie hatte all ihren Mut zusammengenommen und sich bei einer Produktionsfirma beworben, die an Spezialeffekten für Filme arbeitete. Ihr Talent war überzeugend gewesen, und so konnte sie bleiben. Die Bezahlung war gut – wenigstens etwas, worüber sie sich keine Sorgen machen musste.
„Könntest du nicht von hier aus arbeiten?“
„Warum sollte ich?“
„Ich weiß nicht.“ Hare zögerte. Verlegen kratzte er sich am Kopf und runzelte die Stirn. „Vielleicht ist es jetzt einfacher für dich, hier zu sein. Nach dem Tod von James, meine ich.“
„Oh nein. Hannah ist noch hier, Cole ebenfalls. Und James’ Witwe.“ Die eigenbrötlerische Christina Rees. „Schließlich gehört ihnen die halbe Stadt. Und sie werden niemals ein Interesse daran haben, etwas für eine Tanner einfacher zu machen.“
„Es war für keinen von euch leicht“, gab Hare zu bedenken. „Wäre jetzt nicht ein guter Anlass, die alte Feindschaft zu beenden?“
„Vernünftig betrachtet, hast du natürlich recht“, erwiderte Jolie. „Aber die Fehde zwischen den Tanners und den Rees’ hat nichts mit Vernunft zu tun.“
„Das muss doch nicht so bleiben.“
„Oh doch, das wird es.“ Offen und freundlich sah sie Hare an. Der große, oft rau wirkende Mann war immer nett zu ihr gewesen und kannte die wahre Jolie besser als die meisten anderen. „Hare, ich werde nicht nach Queenstown zurückkehren. Mein ganzes Leben bestand nur daraus, mich vor anderen Menschen zu verstecken. Nie konnte ich so sein, wie ich wollte. Für alle war ich nur die Tochter der Geliebten von James Rees. In Christchurch dagegen“, Jolie suchte nach den richtigen Worten, „habe ich endlich den Mut gefunden, ich selbst zu sein. Und ich muss zugeben, dass es mir gefällt.“
„Hast du schon Freunde gefunden?“
„Noch nicht wirklich.“ Wieder zuckte sie die Schultern. „Aber zumindest habe ich dort keine Feinde. Das ist doch auch schon etwas, oder?“
„Klar“, murmelte Hare.
Nun hatte sie ihn in Verlegenheit gebracht und sich selbst bloßgestellt. Ein guter Zeitpunkt, um zu verschwinden. „Ich würde jetzt gern die letzte Gondel nehmen.“
„Noch einen Moment, ich warte noch auf jemanden, der mitfahren will.“
„Auf wen?“ Die Piste war wegen des angesagten Unwetters bereits geschlossen. Jolie hatte geglaubt, alle Mitarbeiter und Skiläufer seien schon seit Stunden im Tal. Alle bis auf Hare, der in einer kleinen Hütte am Rande des Skigebiets lebte.
„Cole.“
„Cole Wer?“, fragte sie alarmiert.
Doch Hare antwortete nicht, er wagte nicht einmal, sie anzusehen.
Jolies Magen krampfte sich zusammen. „Cole Rees ist hier auf dem Berg?“
„Er ist vor ein paar Stunden gekommen und wollte auf den Gipfel.“
„Was will er da?“
Hare zuckte die Schultern.
„Aber … wie kann das sein?“ Um die Sachen ihrer Mutter zu packen, hatte sie extra einen Zeitpunkt gewählt, zu dem kein Rees in der Nähe war. So hatte sie zumindest geglaubt. „Warum ist er nicht auf der Beerdigung?“
„Ich habe ihn nicht gefragt. Der Mann sah nicht aus, als habe er Lust, lange mit mir zu reden.“
Und gleich würde er mit ihr gemeinsam in der kleinen Gondel sitzen, um ins Tal zu fahren. Nur Cole Rees und Jolie Tanner, und zwischen sich eine Kiste mit all den Erinnerungen an die vergangenen zwölf Jahre, die ihre Mutter mit James Rees verbracht hatte. „Großartig“, versetzte sie. „Ganz toll. Gibt es eine Möglichkeit, eine zweite Gondel zu aktivieren, damit Cole Rees ungestört bergab fahren kann?“
Hare schüttelte den Kopf. „Ich bin froh, dass ich diese eine trotz der Blizzardwarnung zurückhalten konnte.“ Er blickte aus dem Fenster und nickte. „Zeit zu gehen, Mädchen. Cole ist da.“
Jolie folgte seinem Blick und sah ihn. Cole. Mit langen, kräftigen Schritten bahnte er sich den Weg durch den Schnee zur Seilbahn, das pechschwarze Haar vom Wind zerzaust, das markante Gesicht dem Sturm ausgesetzt. Er wirkte so rücksichtslos, unberechenbar und gleichzeitig so männlich, dass Jolie beinahe erstarrte. Sie durfte gar nicht daran denken, wie sehr er alle Tanners hasste. „Wunderbar“, sagte sie mit grimmiger Entschlossenheit. „Dann kann es ja losgehen.“
Sie griff nach einer alten, zerfransten Schaffellmütze mit Ohrenklappen, die irgendjemand in der Bergstation vergessen hatte, und stülpte sie über den Kopf. Dann band sie ein dickes, schwarzes Halstuch um und setzte eine Skibrille auf – ebenfalls eine Fundsache, die nie abgeholt worden war.
Ausdruckslos sah Hare ihr zu. „Wenn du willst, kannst du den Overall anbehalten“, bot er an.
„Danke. Ich bringe ihn dir morgen zurück.“ Unter dem dicken, unförmigen Anzug konnte niemand erkennen, ob eine Frau oder ein Mann darin steckte.
„Dein Haar“, bemerkte Hare.
„Oh.“ Noch einmal nahm sie Mütze und Skibrille ab, steckte ihre lange, dunkelrote Mähne auf und verbarg sie unter der Fellkappe. Zu guter Letzt schlug sie die Ohrenklappen hinunter. „Besser?“, erkundigte sie sich.
„Du siehst aus wie ein Cousin von E.T.“, grummelte Hare. „Ich schätze, genau das war dein Plan?“
„Erfasst“, gab sie zurück und setzte die dicke Brille wieder auf. Dann beugte sie sich vor, um sich von ihrem alten Freund und Mentor zu verabschieden.
Doch der trat schnell einen Schritt zurück. „Komm bloß nicht auf die Idee, mich zu umarmen.“
„Bis später.“ Ganz kurz nur tätschelte Jolie seinen Arm. „Sehe ich dich heute Abend in der Bar?“
„Wenn das Wetter wieder besser wird, ja“, gab Hare zurück und schaute auf den Monitor, der noch immer eine Unwetterfront anzeigte, die direkt in das Gebiet zog. „Sieht aber nicht so aus. Sag deiner Mutter, ich komme, sobald ich kann.“
„Das mache ich.“
„Und richte ihr aus, wie sehr es mir leidtut, dass sie diesen Verlust erleiden musste.“
„Auch das“, versicherte Jolie mit belegter Stimme. Sie war gerührt über Hares Einfühlungsvermögen, das sich in diesen wenigen Worten ausdrückte. Denn Rachel Tanner, eine Barbesitzerin mit zweifelhaftem Ruf – Gerüchten nach war die Bar ein Geschenk von James Rees an seine Geliebte – konnte ganz sicher nicht mit viel Mitgefühl rechnen, weil sie um ihren verheirateten Liebhaber trauerte.
Hare warf einen letzten Blick aus dem Fenster und schaute sorgenvoll in den verhangenen Himmel. „Kia waimarie, meine Kleine. Viel Glück. Lass den Kopf nicht hängen.“
Seufzend sah Hare Jolie nach, wie sie zur Seilbahn hinüberstapfte. Natürlich hatte sie recht, es war vermutlich der schlechteste Zeitpunkt, Cole Rees ausgerechnet heute zu begegnen. Aber sie konnte es nicht ändern. Irgendwann auf der Fahrt ins Tal würde Cole sein Gegenüber näher betrachten, und ganz sicher erkannte er dann, um wen es sich handelte. Spätestens ein Blick in ihre großen grauen Augen würde ihm verraten, wer bei ihm saß.
Niemand, sinnierte Hare, hatte Augen wie die Frauen der Tanners. Diese Herausforderung, die in der Tiefe ihres Blicks lauerte. Ein verlockender Mix aus Selbstbewusstsein und unendlicher Verletzlichkeit.
In diesen Augen konnte ein Mann sich verlieren.
Cole Rees senkte den Kopf und beschleunigte seinen Schritt, als er die Gondel vor sich auftauchen sah. Das Wetter passte zu seiner Stimmung: trübe und unberechenbar. In seinem Innern erlebte er ein Wechselbad der Gefühle – mal überwogen Trauer und Bedauern, dann wieder Wut und Trotz. Er hatte es auf der Beerdigung seines Vaters nicht ausgehalten. Bei all den Lobesreden, die auf den Verstorbenen gehalten worden waren, hatte sich ihm der Magen umgedreht. Die echte, tiefe Trauer seiner Mutter hatte ihn rasend gemacht. Und als dann auch noch seine Schwester ihn inständig gebeten hatte, die Dinge nicht noch schlimmer zu machen, war ihm klar geworden, dass er keinen Moment länger bleiben konnte, ohne seinen toten Vater zur Hölle zu wünschen.
Als er die Trauerfeier vorzeitig verlassen hatte, war seine Mutter, der gesellschaftliches Ansehen über alles ging, förmlich in sich zusammengesackt. Hannah, seine Schwester, war stärker. Er wusste, sie würde ihn früher oder später dafür bluten lassen, dass er die Familie mit seinem unpassenden Aufbruch bloßgestellt hatte.
Zumindest die Klatschmäuler waren befriedigt, wenn auch nur für kurze Zeit.
Am liebsten hätte er jetzt in den Armen einer Frau versucht, das alles hinter sich zu lassen. Doch selbst der Wunsch nach schnellem Sex erinnerte ihn an seinen Vater. Cole war seinen wechselnden Geliebten gegenüber längst nicht mehr so rücksichtslos und unsensibel wie früher, aber noch immer stand für ihn fest, dass keine Frau es wert war, echte Gefühle an sie zu verschwenden. Er liebte es, eine Frau zu erobern und zu verführen, aber mehr als das hatte keine von ihnen verdient. Schließlich hatte er erlebt, wohin es führen konnte, eine Affäre zu ernst zu nehmen. Sein Vater hatte diesen Fehler gemacht und damit seine Familie zerstört.
Seine Mutter hatte eine Totenwache für ihren Mann organisiert, aber auch daran wollte Cole nicht teilnehmen. Stattdessen hatte es ihn hinauf in die Berge gezogen. Er wollte auf seine eigene Weise Abschied von seinem Vater nehmen.
Sein Blick fiel auf die neue Seilbahn, für die er sich stark gemacht hatte. Sie ersetzte die veralteten Sessellifte und brachte doppelt so viele Skifahrer auf die Pisten wie früher. Der ganze Ort profitierte davon.
Cole sah hinauf zu den Fenstern der Bergstation und winkte, als er Hare entdeckte. Ihm war aufgefallen, dass der Chef der Bergbahnen nicht bei der Beerdigung gewesen war, aber er wusste, dass der starke, stolze Maori sein ganz eigenes Leben führte und sich nicht darum scherte, was von ihm erwartet wurde. Doch James Rees gegenüber war er immer loyal gewesen. Ein treuer Freund, ein zuverlässiger Mitarbeiter.
In diesem Moment trat ein dick vermummter Junge aus der Tür und wandte sich in die Richtung der wartenden Seilbahn. Er ging in Coles Spur, blieb aber weit hinter ihm und schloss gewissenhaft die Tore hinter ihnen. Als Cole unter dem schützenden Vordach der Seilbahnstation angekommen war, schüttelte er den Schnee von seinem Mantel und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. Dann stieg er in die Gondel, in der ein riesiger Pappkarton schon die Hälfte des Platzes einnahm. Fröstelnd steckte Cole die Hände in die Taschen seines Wollmantels. Ganz eindeutig war er viel zu dünn angezogen für eine Bergtour. Unter dem Mantel trug er noch den schwarzen Anzug von der Beerdigung. Nur die Lederschuhe hatte er gegen Bergstiefel getauscht.
Jetzt hatte auch der Junge die Gondel erreicht, schwang sich hinein und zog die Tür hinter sich zu. Er war klein und schmal für einen von Hares Gehilfen. Normalerweise stellte Hare nur Männer ein, die nicht nur Verstand besaßen, sondern auch kräftig und durchtrainiert waren. Die Arbeit in den Bergen forderte ihren Tribut.
Dieser hier aber schien fast noch ein Kind zu sein, so zierlich war er. Jetzt kauerte er sich neben den Karton, zog die Beine an und lehnte den Kopf gegen das Fenster. Er war Snowboarder, kein Skiläufer, vermutete Cole. Alles an seiner lässigen Haltung sprach dafür. Und wahrscheinlich ein sehr guter, denn er schien keinen Wert auf angesagte Sportkleidung zu legen. Einer von denen, die niemandem mehr etwas beweisen mussten, außer sich selbst.
Cole beneidete ihn.
Seine nächsten Tage, Wochen und Monate würden darin bestehen, die Banker und Aktionäre des Familienimperiums zu überzeugen, dass er als neuer Chef ebenso gut war wie sein Vater. Als hätte er nicht schon seit Jahren bewiesen, dass er hoch qualifiziert war. Von der Pike auf hatte er sich hochgearbeitet. Nicht der kleinste Teil seines Erfolges war ihm geschenkt worden, nur weil er der Sohn des Inhabers war.
Vor zwei Jahren hatte James Rees erfahren, dass er unheilbar krank war. Von einem Tag auf den anderen hatte er seinem Sohn die Geschäfte übertragen und ihm gezeigt, was wichtig war und welche Fehler es zu vermeiden galt. In dieser Zeit hatte Cole begonnen, seinen Vater zu bewundern. Ihm ging es nicht um das schnelle Geld, sondern um die Verantwortung für sein Unternehmen und für die Mitarbeiter.
In allem, was er tat, war er besonnen, jeder Schritt war wohlüberlegt. Nur ein einziges Mal, als es darum ging, seine standesgemäße Ehefrau gegen eine hergelaufene Geliebte einzutauschen, hatte sein Verstand ausgesetzt. Er hatte tatsächlich geglaubt, die beiden Frauen könnten friedlich nebeneinander in der kleinen Stadt leben.
In diesem Punkt war James Rees ein Narr gewesen.
Cole wusste, was sein Vater in Rachel Tanner gesehen hatte – schon als Junge war er nicht blind gewesen für weibliche Reize, und jetzt, als Mann, schon gar nicht. Sie strahlte eine verheißungsvolle Sinnlichkeit aus, gegen die kein Mann gefeit war. Rachel Tanner wirkte, als kenne sie die geheimsten Wünsche eines Mannes und könne jeden davon erfüllen. Ganz im Gegensatz zu seiner spröden, wohlerzogenen Mutter, die bei jeder Andeutung von Leidenschaft tadelnd die Stirn runzelte.
Doch auch James Rees hatte Bedürfnisse. Und wahrscheinlich hätte niemand erfahren, wie er sie stillte, wenn er es bei diskreten Affären belassen hätte. Doch er hatte sich nicht damit zufriedengegeben. Er wollte mehr. Und damit hatte er allen Menschen in seiner Umgebung unendlichen Schmerz zugefügt.
Langsam setzte sich die Skigondel in Bewegung. Zunächst noch geschützt von den Wänden der Station, wurde sie wenig später von den ersten Windböen erfasst. Feine Schneeflocken wurden knisternd an die Scheiben gepeitscht. Unwillkürlich sahen beide Passagiere hinauf zu dem dicken Stahlseil, als wollten sie sich überzeugen, dass es den Naturgewalten standhielt.
„Wenn man dem Wetterbericht glauben kann, ist das Unwetter noch ein Stück von uns entfernt“, sagte der Junge schließlich mit leiser Stimme, die durch das Tuch vor seinem Gesicht kaum mehr war als ein Murmeln.
Cole nickte. Vom Gipfel aus hatte er den Sturm näher rücken sehen. Vermutlich hatte der Junge die Front auf dem Bildschirm in Hares Büro beobachtet. So, wie er sich ausdrückte, schien er doch älter zu sein, als Cole geschätzt hatte. Doch es war unmöglich, das genauer zu sagen, denn durch die Mütze und das Halstuch war fast sein ganzes Gesicht bedeckt. Nur den Mund konnte Cole kurz sehen.
Und was für ein Mund.
Schnell blickte Cole zur Seite.
Was war los mit ihm?
Wieder schüttelte der Wind die Gondel hin und her, und erneut blickten beide hinauf zu der Haltevorrichtung.
Dann wandte der Junge den Blick zu dem Funkgerät, das für Notfälle in jeder Gondel hing.
Noch einmal musterte Cole sein Gegenüber und versuchte, sich ein Bild zu machen. Doch alles, was er sah, war eine Fellmütze, ein dickes schwarzes Tuch und eine Skibrille. Beunruhigt senkte er den Blick.
Kurz legte sich der Wind, die Bahn fuhr gleichmäßig weiter durch undurchdringliches Schneegestöber.
Coles Blick wanderte zu dem großen Karton. Graubraune Pappe, der Aufdruck eines Umzugsunternehmens an der Seite, feucht an der Unterseite, sodass eine Kante bereits ein wenig eingerissen war.
Unruhig wechselte der Junge die Sitzposition. Cole widerstand der Versuchung, ihn erneut anzusehen, und hielt den Blick fest auf die Kiste gerichtet. Nur ein nasser, zerbeulter Karton. Nichts weiter.
Die Seilbahn durchfuhr den ersten von sieben Stützpfeilern. Noch zehn Minuten, wusste Cole. Plötzlich fühlte er sich beobachtet. Anscheinend hatte der Junge nun begonnen, ihn zu mustern. Warum ließ dieser Gedanke sein Herz schneller schlagen?
Cole kam nicht mehr dazu, sich eine Antwort zu geben.
Die Gondel schwang kurz auf und nieder, ruckte.
Dann blieb sie stehen.
Für einen Moment glaubte Cole, sein Herz setze aus, dann schlug es in einem schnellen, unruhigen Rhythmus weiter. Vielleicht hatte Hare nur die Geschwindigkeit wegen des Windes reduziert, damit sie erst nach der nächsten Bö den kommenden Stützpfeiler erreichten.
Doch die Gondel bewegte sich nicht vorwärts, sondern schwankte nur hin und her.
Mit einer Hand hielt Cole sich fest, mit der anderen nahm er das Funkgerät aus der Halterung. Als Jugendlicher hatte er oft in der Skisaison für die Bergbahnen gearbeitet, er kannte sich aus. „Hare, hörst du mich?“
Doch Hare antwortete nicht. Und auch die Besatzung der Talstation, die den Funkspruch ebenfalls hätte empfangen müssen, meldete sich nicht. Kein gutes Zeichen. Der Junge ihm gegenüber sagte kein Wort, sondern sah ihn nur aus großen Augen an, die hinter der Skibrille lediglich verschwommen zu erkennen waren, und biss auf seine Unterlippe.
„Hare“, versuchte Cole es noch einmal. „Kannst du mich hören?“
Als wieder keine Reaktion kam, hängte er das Funkgerät zurück und zog sein Mobiltelefon aus der Jackentasche. Doch als er auf das Display schaute, erkannte er, dass er hier, mitten in den Bergen, keinen Empfang hatte.
Verdammt.
Daraufhin griff der Junge nach seinem eigenen Handy und drückte mit seinen behandschuhten Fingern ein paar Knöpfe. Erfolglos. „Ich habe auch kein Signal“, sagte er gepresst.
„Ich werde es gleich noch mal bei Hare versuchen“, schlug Cole vor.
Sie warteten zehn Minuten. Zehn lange, stille, unbehagliche Minuten, in denen Cole den Jungen immer wieder musterte. Was nur faszinierte ihn so an dem zierlichen Jugendlichen?
„Mittlerweile hätte längst jemand versuchen müssen, uns zu erreichen“, meinte der Fremde schließlich.
Er sprach nicht aus, was sie beide befürchteten: Wenn Hare sich nicht meldete, konnte das nur bedeuten, dass er selbst Probleme hatte. Das Unwetter hatte die Bergstation längst erreicht, und wie es im Tal aussah, wussten sie nicht.
„Das Funkgerät funktioniert auf jeden Fall“, überlegte Cole laut. „Ich probiere es einfach noch einmal auf einem anderen Kanal.“
Doch auch auf den anderen Frequenzen kam nur ein Rauschen.
Weitere fünf Minuten vergingen. Wieder wurde die Seilbahn von einer Windbö geschüttelt, stärker noch als beim letzten Mal. Ängstlich schaute der Junge erneut hinauf zur Halterung. Dabei rutschte sein Halstuch hinunter und gab den Blick frei auf einen ebenmäßigen Teint und glatte Haut, die ganz sicher noch nie einen Rasierer gesehen hatte.
Ein solch glattes Gesicht bei einem Mitarbeiter der Bergwacht?
„Wie alt bist du eigentlich?“ Cole hatte die Worte ausgesprochen, ehe er darüber nachdenken konnte. „Vierzehn?“ Der Junge konnte kaum in der Pubertät sein. „Fünfzehn?“
„Älter“, erwiderte sein Gegenüber.
„Wie viel älter?“
„Erheblich älter.“
Was, zum Teufel, war das für eine Antwort?
„Neunzehn“, sagte er dann schnell, als hätte er erkannt, dass er Cole verärgert hatte.
„Tatsächlich?“, gab Cole ungläubig zurück und erntete ein lässiges Schulterzucken. Ihm wurde allmählich klar, dass die Jacke und die überdimensionale Fellmütze dem Jungen weitaus mehr Masse verliehen, als er tatsächlich besaß. Neunzehn? Niemals! Erneut ließ er seinen Blick über den anderen Passagier wandern, auf der Suche nach … was? Einem Hinweis? Einem Grund für seine Faszination?
Weitere Minuten vergingen in unerträglicher Spannung. Die Stille in der Kabine wurde unterbrochen vom Tosen des Sturms und dem stetigen Knirschen der Stahlseile. Wortlos horchten sie beide auf die Geräusche.
Irgendwann sah Cole auf seine Uhr, dann ließ er wieder den Blick über den Jungen gleiten. Er war noch immer dick vermummt, kein Wunder bei den eisigen Temperaturen, die in der Gondel mittlerweile herrschten. Aber dass er auch seine Skibrille noch immer trug, war irritierend. Immerhin sah es nicht so aus, als würden sie die Bahn so schnell verlassen.
„Wohnst du hier in der Stadt?“, begann Cole.
Der Junge nickte.
„Allein?“ Das ging ihn nichts an, wurde ihm klar. „Gibt es jemanden, der dich vermisst und die Bergwacht benachrichtigen kann, wenn du gleich nicht heimkommst?“, fügte er deshalb hinzu.
„Darauf können wir uns nicht verlassen. Meine …“ Der Junge zögerte. „Meine Vermieterin ist heute Nachmittag nicht zu Hause, und sie macht sich auch keine Sorgen, wenn ich nicht auftauche.“
Seufzend ballte Cole seine Hände in den Jackentaschen zu Fäusten.
„Und bei Ihnen?“, entgegnete der Junge. „Gibt es jemanden, dem es auffallen wird, dass Sie nicht zurückkehren?“
„Ja.“
„Also werden Sie vermisst?“
„Das bezweifle ich“, gab Cole bitter zurück. Vermutlich waren seine Mutter und seine Schwester eher erleichtert, wenn er nicht auftauchte.
Wieder verfielen sie in brütendes Schweigen. Mit einem stetigen Prasseln wurden eisige Schneeflocken an die Scheiben gedrückt.
„Zumindest sind wir hier geschützt“, sagte Cole endlich. Ein toller Schutz, fügte er in Gedanken spöttisch hinzu, fünfzig Meter über dem Boden, nur gehalten von einem Seil, mitten in einem Blizzard. „Was ist eigentlich in der Kiste?“, wechselte er das Thema.
„Wie bitte?“, fragte der Junge irritiert.
„Die Kiste“, wiederholte Cole. „Was ist darin? Irgendetwas, das wir gebrauchen könnten?“
„Was denn, zum Beispiel?“, gab der Junge mürrisch zurück.
Cole hatte das Gefühl, als verschanze er sich noch mehr hinter den dicken Brillengläsern.
„Lebensmittel und Decken“, erklärte Cole. „Gern auch eine Flasche Scotch.“
„Leider nicht. Nur ein paar persönliche Dinge.“
„Bist du raus aus dem Job?“
Der Junge nickte.
„Gefeuert?“
Ein wortloses Kopfschütteln.
„Hast du ein besseres Angebot?“
„Genau.“
„Hier in der Gegend?“ Auf einmal wurde Cole bewusst, dass ihn das durchaus etwas anging. Die Bergbahnen, die bisher seinem Vater gehört hatten, unterstanden jetzt seiner Kontrolle. Also musste er auch wissen, wenn gute Mitarbeiter das Unternehmen verließen.
„In Christchurch“, antwortete der Junge wortkarg.
Dort gab es kein Skigebiet. „Was wirst du dort machen?“, hakte Cole nach.
„Was anderes.“
Wieder stockte das Gespräch. Der Junge legte die Beine auf den Umzugskarton und zog das Handy aus der Tasche. Daran, wie er die Lippen aufeinanderpresste, erkannte Cole, dass er nach wie vor keinen Empfang hatte.
„Könnte nicht vielleicht doch etwas in der Kiste sein, was uns nützt?“, gab er nicht auf.
„Glauben Sie mir einfach“, erwiderte der Junge.
„Hör zu, selbst wenn irgendetwas in diesem Karton ist, das dir vielleicht nicht gehört – nehmen wir an, es ist zufällig dort hineingeraten –, interessiert mich das im Moment gar nicht. Du kannst ihn also ohne Risiko öffnen und mich hineinschauen lassen.“
„Ach, Sie vermuten also, ich habe etwas gestohlen? Nein, da kann ich Sie beruhigen. Es ist nur wertloser Plunder.“ Der Junge steckte das Mobiltelefon wieder in die Tasche.
„Wenn das denn stimmt“, wandte Cole mit seidenweicher Stimme ein, „warum meinst du dann, ihn vor mir verbergen zu müssen?“ Als der Junge überhaupt keine Anstalten machte zu antworten, wagte er sich weiter vor. „Du weißt, wer ich bin, nicht wahr?“
Der Junge – Teenager, junger Mann, mutmaßlicher Dieb, was auch immer – nickte kurz.
„Sollte ich dich auch kennen?“
„Nein.“
„Aber du kommst mir ziemlich bekannt vor.“
„Das kann nicht sein.“
„Du bist in Queenstown aufgewachsen, oder?“ Aus einem unerfindlichen Grund ärgerte es Cole, dass der Junge es nicht einmal für nötig hielt, ihn anzusehen. Das war nun wirklich nicht zu viel verlangt, fand er.
„Sie kennen mich nicht“, beharrte sein Gegenüber mürrisch. „Und Sie müssen mich auch nicht kennen.“
„So, wie es aussieht, werden wir die nächsten Stunden hier gemeinsam verbringen. Ich finde es nur höflich, in dieser Situation den Namen des anderen zu kennen.“ Dieses Argument war nur vorgeschoben. Tatsächlich wollte er endlich ergründen, was dieser Junge vor ihm verbarg. „Also, ich bin Cole Rees. Und du?“
„Josh“, antwortete sein Gegenüber widerstrebend.
„Es ist durchaus üblich, auch seinen Nachnamen zu sagen.“
„Nicht dort, wo ich herkomme.“
„Na gut.“ Zumindest hatte er seinen Vornamen erfahren. Jetzt war es an der Zeit, Josh in Sicherheit zu wiegen. Es ließ ihm keine Ruhe, dass er noch immer nicht die Augen des Jungen gesehen hatte. „Hast du eigentlich vor, jemals diese Skibrille abzusetzen, Josh?“
„Eigentlich nicht.“ Sein Mund verzog sich zu einem provozierenden Lächeln.
Cole atmete hörbar aus. Er beobachtete, wie Josh sich bequemer hinsetzte und fragte sich, warum die Bewegungen des Jungen ihn so sehr aus der Fassung brachten.
„Rees, wenn Sie wollen, dass ich mich ausziehe, müssen Sie das sagen“, versetzte Josh in einem lässigen Tonfall. „Aber wäre es nicht höflicher, wenn Sie mir zuerst einen Drink spendieren?“