F rancine stieg ab, bockte den gelben Roller auf, hob die Hand und machte sich an der Transportbox zu schaffen. Geschwind holte sie zwei große Umschläge und eine Postkarte hervor und tauschte die Lieferung mit einem »Uff, ich werde zu alt für so ein Wetter« gegen das Glas eiskühle Limonade ein, das Perdu ihr reichte.
»Ihre Freunde Samy und Cuneo kommen zum Geburtstag«, sagte sie und wedelte sich mit der Postkarte Luft zu. »Salvo schreibt, Sie sollen Pastis aufmachen. Spricht für eine Bouillabaisse, meinen Sie nicht? Wissen Sie schon, welchen Wein Sie dazu trinken? Mein Schwager drüben auf der anderen Seite des Ventoux hat dazu eine Empfehlung, hier.«
Sie zog zwei Weißweinflaschen aus der Box.
Doch, ja: Madame Gulliver und Francine Bonnet wären gute Freundinnen geworden; die Wörter »Brief« und »Geheimnis« erschienen beiden aus zwei vollkommen unabhängigen Universen zu stammen.
Perdu stellte sich vor, wie sie einander trafen. Madame Gulliver, sehr pariserisch, Madame Bonnet, sehr provenzalisch, und die Luft würde funkeln vor Wonne. Freundschaft war selten von Jahren abhängig, die man einander kannte. Manchmal sahen sich zwei an und nahmen ein jahrhundertealtes Gespräch auf.
Nachdem Perdu mit Francine noch Speisenfolgen von Perdus Geburtstag debattiert hatte, ein Geburtstag, zu dem nicht nur der tangotanzende Koch Salvatore Cuneo sowie Samy alias Samantha Le Trequesser, ehemalige Vorsitzende des Bücher-Ordens von Cuisery, kommen würden, sondern auch der Schriftsteller Max Jordan und seine Frau, die Winzerin Victoria, geborene Basset (oder geborene Perdu, aber das war etwas, nach dem Jean ebenso nicht fragte); außerdem die Weine ihres Schwagers auf der anderen Seite des höchsten Berges der Provence besprachen sowie das allgemeine und spezielle Wetter, das Dorf und ihre jüngste Lektüre – Francine las Irène Némirovsky, auf Perdus Anraten hin, um ihre Minderwertigkeitskomplexe gegenüber bürgerlichen Familien mit zu viel Geld und zu wenig Herz zu lindern –, ging Perdu mit den Postbündeln zurück auf die Terrasse.
Von so viel Kommunikation in außerordentlich verschlungenen Sprüngen war ihm schwindelig.
Es machte ihm bewusst, wie viel Zeit Catherine und er schon hier oben in ihrer sich selbst genügenden Zweisamkeit verbrachten. Ohne Uhr. Ohne andere. Und oft ohne viele Worte; sie verstanden einander mit Blick und Nähe.
Er überflog das Schreiben der Saramago-Stiftung. »Stadt der Träumer« sollte an den einen gehen, so hatte es Saramago gewohnt kryptisch formuliert, der »es vermag, einen Traum in Worte zu fassen, ohne ihn dabei zu zerstören«.
Saramago also.
2006 hatte der portugiesische Schriftsteller auf einmal an Bord der Literarischen Apotheke, Jean Perdus Bücherschiff, gestanden. Ein Mann in seinen Achtzigern, der schwer an sich selbst trug, mit buschigen Augenbrauen, Glasklötzchenbrille. Draußen ein lichter Sommertag zur Mittagszeit. Saramago hatte um Atem gerungen. »Ist das keine Apotheke?«, hatte er hilflos gekeucht. Das Wort »pharmacie littéraire« hatte ihn auf Abwege geführt.
Perdu hatte den Schriftsteller zu dem Ohrensessel im kühlen Schatten am großen Rundfenster zur Seine geführt, eine Wasserkaraffe und ein Glas gebracht und ihm Zeit gegeben, sich zu fassen, dass er in einem Bücherschiff gestrandet war. »Möchten Sie für einen Moment, dass die Welt draußen bleibt?«, hatte Perdu gefragt.
Nickende Augenlider hinter der Brille.
Und Perdu hatte das rote, dicke Seil an den Eingangsschott gelegt, fermé – »geschlossen« –, und sich geräuschlos seiner Arbeit gewidmet. Bestellungen und Bestände waren rasch erledigt. Seine Stammkunden waren in den Ferien in der Normandie, Cassis oder in den Naturisten Camps in der Auvergne – oder hatten ein personalisiertes Bücher-Abonnement abgeschlossen, vertrauend darauf, dass der literarische Apotheker von Paris ihnen alle zwei Wochen ein speziell für ihre Gemütszustände ausgewähltes Buch in die Post steckte und ihren lesemedizinischen Bücherschrank auffüllte.
Touristen und Touristinnen hingegen waren auf Stadtführer, Postkarten oder die Fächer aus Buchseiten aus, die Jean Perdu bei einer pensionierten Buchbinderin in Auftrag gab – er konnte es nicht leiden, wenn Bücher verramscht wurden. Lieber verschaffte er Mängelexemplaren oder Kommissionsware eine Reinkarnation als Handventilator.
Als er zu Saramago schaute, fächelte der sich gerade mit einem als Wedel wiedergeborenen »La Tragédie du Président« Luft zu, er hatte die Augen geschlossen. Perdu schlug extra leise den Katalog auf, den ihm der Antiquar Auguste Pennet gesendet hatte; Auguste handelte mit Erotika. Und manche Kundinnen überließen es Perdu, ihnen entsprechende Literatur herauszusuchen – um genau zu sein: der Witwenklub der Rue Montagnard. Seine Nachbarin und Vorsitzerin des radikalen Buchklubs, die vierundsiebzigjährige Madame Bomme und ihre Likörfreundinnen zwischen sechzig und neunzig, studierten mit großer Aufmerksamkeit »literature pétillante«, wie sie es getauft hatten. Prickel-Lektüre. Die Perdu ihnen in andere Buchumschläge stecken musste, damit ihre Kinder nicht so pikiert guckten, wenn die sorgsam ondulierten grandmères mit viel Begeisterung Catherine Robbe-Grillet lasen oder fachkundig über die gelenkfordernden Positionen in Henry Millers und E.L. James’ Œuvre plauderten. Die Lust an Lust hörte ja nicht einfach auf, nur weil man verrentet wurde. Also kam »Fifty Shades of Grey« in den Umschlag »Flora und Fauna der Alpen« und die englischen Nackenbeißer in Umschläge über die besten Marmeladenrezepte der Bretagne. Und von dem Geplauder über kamasutrische Verrenkungen kam der betagte Buchklub – sie nannten sich: die souveränen Leserinnen – zum regen Austausch der neuesten Adressen von Chiropraktikerinnen und Physiotherapeuten.
Saramago fächelte immer noch. Perdu seufzte: Sollte er jetzt die Horizontalgeschichten durchsehen oder doch die neuesten Kinderbücher? Er musste noch die Elternabende für den Schulbeginn im September vorplanen, an denen er Erwachsenen, die selbst kaum gelesen hatten, Kinder- und Jugendbücher empfahl. Er beschloss, es sich einfach zu machen und dem nahen Kindergarten, in den die auf Gehorsam gedrillten Sprösslinge der Beamten und Politikerinnen der Nationalversammlung geparkt wurden, einen Satz »Vom kleinen Maulwurf, der wissen wollte, wer ihm auf den Kopf gemacht hatte« zu bestellen. Als Beginn einer Gedankenrevolution.
Als er wieder aufsah, war der Lehnstuhl leer.
Saramago war aufgestanden und mit dem unsicheren Gang alter Männer durch den Schiffsbauch mit achttausend Büchern getappt, mit dem schief gelegten Kopf des Autors, der seine Werke in den Regalen sucht und dabei versucht, möglichst unauffällig zu sein.
»Wieso stehe ich hier?«, hatte er gerufen. »Wieso steht ›L’Aveuglement‹ neben László Kras… herrje … Krasznahorkai: ›Satanstango‹? Und wie spricht man den überhaupt aus? Sie ordnen die Bücher nicht nach Nachnamen. Nicht nach Genre, Zeit oder Herkunft. Nur nach Titel, aber in jedem Regal fangen Sie wieder bei A an.«
»Die ›Stadt der Blinden‹ ist eine Arznei gegen Lebensblindheit und politische Übernächtigung«, hatte Perdu geantwortet. »Sie sind in der Abteilung für Medizin für Menschen in mittleren Jahren.«
»Ich erinnere mich dunkel«, sagte Saramago trocken. »Was hat man da doch gleich für Sorgen?«
»Man macht einen Strich unter sein Leben und sieht lauter Nullen mit dem eigenen Gesicht. Melancolia Bilanzia.«
»Ah, das. Ja. Man ist sehr streng mit sich und sehr wehleidig, ich erinnere mich. Wenn einem der Sinn des eigenen Daseins abhandengekommen ist. Weil man zu beschäftigt damit war, auf die eigenen Fußspitzen zu schauen, die man voreinander gesetzt hat, ohne zu schauen, wohin man so fleißig und brav trabt. Und auf einmal steht man mit leeren Händen da, kein einziger Traum noch übrig, kaum einer verwirklicht.«
»Genau das. Dann eben Saramago oder in schweren Fällen Krasznahorkai. Der wirkt am besten zwischen Weihnachten und Neujahr.«
»Natürlich«, hatte Saramagos körperlose Stimme von jenseits der Regale noch mal eine Minute später gemacht. »Und ich?«
»Man sollte Sie am Küchentisch lesen, allein, nach zehn Uhr abends, und Ihnen zuhören, als sprächen Sie gerade nur zum Lesenden. So, als lehnten Sie an der Spüle, ein Glas Wein in der Hand, und dann muss man sich Ihren Gedankenströmen ohne Punkt und Komma überlassen. Wie einem Freund, der einem erzählt: ›Stell dir vor, was wäre, wenn?‹«
»Mal abgesehen davon, dass ich um einen Hocker bitten würde und nicht stehen, kann ich mir das vorstellen … Sie meinen das also wörtlich. Nicht metaphorisch, mit Ihrer Literarischen Apotheke, ja? Diagnose, Medizin, Einnahme, Wirkung.«
»Ist es nicht das, was Bücher tun? Eine Arznei sein für die Diagnose Leben?«
»Wie alt sind Sie, sagten Sie?«
»Im Bilanzverdrussalter.«
»Ach ja. Kommen Sie erst mal in meine Liga.« Listiges Lächeln. »Dann stellen Sie sich immer öfter vor, alles wird wieder, wie es einmal war. Vor allem, während Sie morgens eine Stunde hustend auf der Bettkante sitzen. Dann wünschten Sie sich, dass das Altern abgeschafft würde, und gleichzeitig wollen Sie, dass es nie aufhört.«
Sie hatten lange beieinandergesessen, über das Werden und das Vergehen gesprochen. Und Perdu hatte versucht, dem kurzatmigen, leukämischen Nobelpreisträger zu erklären, wie er das machte: Menschen und Bücher zusammenzubringen. Auf eine Weise, die manche Kunden und Kundinnen nur schwer verkrafteten – Perdu verkaufte ihnen nicht die Bücher, die sie wollten. Sondern die, die sie brauchten.
Was bisweilen zu einigen Auseinandersetzungen führte.
»Und wer klug ist, hält sich an dieses Wunder«, sagte Saramago. »Aber wie genau funktioniert Ihre Diagnose?«
Er hatte sich aufmerksam das »Wie« angehört; Monsieur Perdu war verlegen gewesen, zutiefst verlegen, und hatte dennoch versucht, es zu erklären. »Bücher sind für mich wie Menschen. Begegnungen, die das Leben formen, manchmal nur eine kurze, heftige. Oder eine Langzeitliebe. Wie eine Schwester oder ein Vater, den man nie hatte. Und Menschen …«
»… sind folglich wie Bücher«, hatte Saramago gemurmelt. »Natürlich. Beide aus Kohlenstoff und Wasser und Sternenstaub und unendlich vielen Träumen.«
»Voilà . Aber ist er oder sie die Hauptfigur ihres eigenen Lebens? Was ist ihr Motiv, an was glaubt sie, was ist ihre Wunde, und auf welches Wunder hofft sie? Oder ist sie eine Nebenfigur in ihrem eigenen Buch? Ist sie dabei, sich selbst aus der Geschichte wegzuzensieren, weil ihr der Mann, der Beruf, die Kinder, der Job, der Schmerz allen Raum nehmen und sie keinen Platz mehr für sich hat wie ein Gast bei sich selbst?«
»Sprechen Sie gerade über sich?«
»Wollten Sie noch ein Glas Wasser?«
»Verzeihung.«
Perdu hatte geschwiegen, und gegrummelt: »Schon gut. Vielleicht. Ja, vielleicht spreche ich über mich selbst.«
Nach einer Weile der Befangenheit fragte Saramago: »Aber … wie finden Sie heraus, was jemand braucht?«
»Über die Wörter, die Menschen benutzen. Und die sie nicht benutzen. Um welche Verbotszonen sie herumsprechen und …«
»Schweigen Sie, Monsieur. Es geht ja viel weniger um das Wie, als dass es möglich ist … ist nicht so vieles möglich, wenn wir es erst aufschreiben? Schreiben Sie das auf, wie Sie Menschen und Bücher einander vermitteln?«
»Nein …?«
»Warum nicht? Was fürchten Sie? Die Kritik? Vergessen Sie die Kritik. Sie arbeitet nicht für Lesende, sondern um Bedeutung zu erlangen. Was sie den Schreibenden ähnlich macht, nur eben ist die Kritik selbst nicht schöpferisch, sondern sich aus zweiter Hand bedienend. Es kommt immer nur auf den Schreibenden und den Lesenden an, die beiden treffen sich auf der Brücke der Worte und haben für einen Moment etwas gemeinsam. Jeder Lesende schafft ein für sich eigenes Buch, damit haben Sie als Autor längst nichts mehr zu tun, und das ist alles, was zählt. Sie beide werfen sich Wörter zu, Gedanken, sie spielen miteinander, und glauben Sie mir, Perdu, eines Tages werden Lesende, nicht Kritiker und Kritikerinnen, über Bücher schreiben und alles verändern, und ich vermute, ich werde es nicht mehr erleben. Was würden Sie mir also empfehlen, dem Sterbenden, der in dem Augenblick vergeht, wenn der Träumer, der mich erschuf, erwacht?«
»Daran glauben Sie? Dass wir Erfundene sind?«
»Natürlich! Und darin liegt eine Chance, nicht wahr? Dass es doch alles einen Sinn ergibt. Dass es auf den letzten Metern einen Twist gibt. Ein gutes Ende. Alles ist möglich … Erst recht, wenn man das Jahrzehnt der wehleidigen Selbstbilanzierung überwunden hat. Sie müssen einfach nur Mitte fünfzig werden, und dann wissen Sie es: Man kann immer neu anfangen. Immer wieder. Das ganze Leben ist ständiger Wandel. Deswegen tut es vermutlich so weh. Und der Erfinder: Der ist man selbst. Das ist alles. Wann werden Sie Mitte fünfzig?«
»2016 . Anfang Juni.«
»Sie sind ein junger Dachs. Ein sehr einsamer junger Dachs, wenn Sie erlauben. Wären Sie jetzt bereit für meine Medizin?«
Perdu hatte Saramago ein Buch über Elefanten herausgesucht.
»Elefanten? Sie ziehen sich zurück, zum Sterben, nein?«
»Nein. Sie gehen dem Tod entgegen. Sie wissen, im Gegensatz zu uns, sich vom Leben angemessen zu verabschieden, indem sie sich noch einmal auf eine Reise begeben.«
»Das Sterben als Reise … Ich danke, Monsieur. Und denken Sie daran: Schreiben Sie das auf. Wie das geht: wirklich zu lesen. Beschreiben Sie den Traum, dass Bücher uns heilen können, aber so, dass Sie ihn nicht entzaubern. Es darf nicht bis zum Letzten erklärt werden, man muss sich bei jedem neuen Buch immer noch so fühlen, als gleite man in die Nacht auf einer stillen Barke.«
»Aber … für wen soll ich das denn schreiben?!«
»Für wen? Haben Sie das gerade gefragt? Herrje. Um Ihrem Tod ein Schnippchen zu schlagen natürlich! Um etwas zu schaffen, das das Gesicht der Welt verändert!« Er hatte gelacht und gehustet, und so schieden sie voneinander: lachend. Die beiden Männer hatten sich nie wieder gesehen. Saramago starb vier Jahre später, 2010 , da war seine »Reise des Elefanten« gerade in Frankreich erschienen, die Kritik wunderte sich über den Humor darin.
Wegen José Saramago hatte Perdu damals begonnen, die ersten Stichworte seiner Großen Enzyklopädie der Kleinen Gefühle in Schulhefte zu notieren. Es wieder gelassen, beschämt über sich selbst, Bedeutung erlangen zu wollen, gar Unsterblichkeit; es alle paar Jahre fortgesetzt. Wenn da nur nicht eine Frage geblieben wäre: Für wen schrieb er?
Der Lesende Mensch hat den Mächtigen stets am meisten Sorge bereitet. Er ist ihnen zu frei. Seine gefährliche Verbündete ist die Literatur, denn vor einem Buch sind alle Menschen gleich.
Der Lesende Mensch beherrscht ein Reich, das nur ihm gehört, und erschafft unantastbare Welten – romantische, politische, ungehorsame. Er ist ein Zeitenspringer, er geht in den Schuhen der Heldinnen, der Hilflosen, der Liebenden, der Verlassenen, er stellt sich Angst und Triumph, er lebt in Dörfern, Schlössern, Höhlen, Wäldern, Kellern, auf treibenden Booten, er ist den Wundern gegenüber so aufgeschlossen wie der Wissenschaft.
Er geht in den Krieg und lernt ihn zu hassen, er geht in den Kummer der verlorenen Liebe und lernt, den Preis dafür zu ahnen. Und er stellt sich sich selbst – an Orten mit Seelenspiegeln, zu denen nur ein Buch den Stein der Selbstfremdheit vor dem Eingang fortrollen kann.
Der Lesende Mensch kennt sich nach all den Jahren, nach Tausenden Seiten Gespräch mit sich selbst gut genug, auf eine intime, ruhige Weise. Er braucht niemanden, der ihm sagt, wer er ist und wer die anderen – denn all die anderen leben längst in ihm.
Bücher: Das ist die Menschheit, und sie versammelt sich im Lesenden.
Aus: Große Enzyklopädie der Kleinen Gefühle