Kapitel 8

C uneo und Perdu wurden nach dem Frühstück mit Max nach Nyons zum Einkaufen in den Intermarché geschickt – mit dem Auftrag, Max aus seiner Hilfe-ich-werde-Papa-Paralyse zu holen. Oder wie es Victoria wenig undeutlich ausgedrückt hatte: »Ich bitte dich, schaff ihn mir aus den Augen, oder ich schüttel ihn, bis ihm der Kopf wegrollt.«

Irgendwas musste schiefgelaufen sein zwischen Zeugung und dem Teststäbchengespräch.

Gewohnt sensibel begann Cuneo, kaum dass sich der ratternde rote Peugeot den Hang abwärtsbewegte.

»So, Massimo, wo liegt Problem?«

»…?«

»Was Salvo fragen möchte, ist, ob wir dir bei deinen Besorgnissen behilflich sein können bezüglich der anstehenden Vaterschaft«, hörte sich Perdu umständlich sagen.

Statt einer Antwort zog Max es vor, ausführlich auf der ruckeligen Fahrt die gewundene Straße den Hügel hinunter aus dem Fenster zu starren und sich dabei an dem Haltegriff unter dem Dach festzuklammern.

Als sie auf die Hauptstraße Richtung Nyons einbogen, sagte er:

»Ich weiß gar nicht, wie das passieren konnte.«

»Ah, Dio Mio! Wie das passieren kann? Bitte! Hat niemand mit dir rechtzeitig über die Sache mit den Blumen und Bienen gesprochen? Perdito, bitte, sag du ihm, wie das passieren kann, ich bin zu schüchtern für Details.«

»Lieber Himmel, erspart mir bitte Aufklärung! Ich weiß schon, wie das passiert! Meine Güte, ich bin fünfundzwanzig, nicht fünf. Ich dachte nur … es war nicht geplant oder so, wir hatten nicht vor … also … nicht richtig … ich glaub nicht, dass wir darüber wirklich konkret gesprochen haben.«

»Ja und?«, fragte Perdu.

»Ja und? Wie, ja und?«

»Ist das Problem, dass du Victoria zutraust, sie hätte sich das allein überlegt und …«

»Nein, so was macht sie nicht, sie ist die ehrlichste, direkteste Person, die ich kenne, sie verschweigt mir nichts, was in ihr vorgeht. Leider, manchmal.«

Salvo und Perdu lächelten sich verstohlen an.

»Und wie hat sie es dir gesagt?«

»Na ja, das war vorgestern, als sie aus Apt zurückkam, vom Arzt, ich dachte, sie wäre shoppen gewesen. War sie auch, aber danach, und hat so kleine, niedliche Minischuhe mitgebracht und gesagt: ›Wir brauchen ein anderes Auto, der Zweisitzer wird bald nicht mehr reichen.‹«

»Awwwww …«, machte Salvo gerührt.

»Und du hast …?«

»Na ja, ich habe gedacht, es geht darum, dass sie viele neue Schuhe kauft, und gesagt: »Geht nicht auch ’ne Anhängerkupplung?«

Salvo stieg in die Eisen und scherte rechts an den Fahrbahnrand. Dann drehte er sich um und fauchte: »DU HAST WAS GESAGT

»Na ja, ich hab’s halt nicht gleich verstanden …«

»ANHÄNGERKUPPLUNG

»Und dann sagte sie, wir kriegen ein Kind, und ich sagte: Ach so, schöne Scheiße. Na ja, und seitdem redet sie nicht mit mir.«

Stille im Wagen. Der alte Peugeot schaukelte, als ein Lkw dicht an ihnen vorbeibrauste und hupte.

»Hab ich es versaut?«

»Kaum«, sagte Perdu. »Auf einer Skala von eins bis zehn maximal zwölf, vielleicht dreizehn.«

»Wird sie mich verlassen?«

»Nur wenn du weiter so ein stupidino bist.«

Grummelnd fädelte sich Salvo in den Verkehr ein.

Als sie die mittelalterliche Brücke passierten, die sich über die Eygues bis zur Ölmühle Dozol-Autrand spannte, sagte Max sehr leise und sehr beschämt: »Ich wollte doch noch so viel machen. Bücher schreiben. Reisen. In die Oper gehen. Tauchen lernen. Durchtanzen. Ausschlafen. Mit Victoria zusammen sein, und ich weiß nicht … all die Abenteuer, auf die man als Kind hin hofft, dass man sie erleben kann … und jetzt … ist alles vorbei.«

Salvo und Perdu schwiegen beharrlich, während sie sich durch die Straßen von Nyons schlängelten. Das war eine Kunst, die sie beide beherrschten: Raum lassen für das, was drängt, gesagt zu werden. Was sich aber nur selbst hervordrängen will und niemals herausgefragt und geprokelt. Also: Klappe halten, auch wenn es einen drängte, dem jungen Mann ganz altmodisch eins hinter die Löffel zu geben.

Sie schwiegen, fünf Minuten, zehn, Salvo fuhr immer langsamer und machte ein paar Umwege.

Nach der dritten Umkreisung des Marktes vor der alten Stadtmauer war es endlich an Max, den Raum zu füllen: »Ja, ich weiß«, sagte Max, »das hört sich dermaßen bescheuert an. Aber … ich weiß doch gar nicht, wie man das macht! Und was ist, wenn ich wie mein Vater werde?«

Ah! Da war er ja, der düstere, stabile Kern der Angst. Ummantelt von Ungeschicklichkeit und Lebensängsten – die Max, davon ging Perdu aus, in den Griff kriegen würde –, aber dieser starrende Kern? Sich weit weniger vor dem Kinderkriegen zu fürchten als vielmehr vor dem Vatersein?

Max’ Vater war, das wusste Perdu, ein Mann, der seinen sensiblen, begabten Jungen mit Schlägen und Verachtung erzogen hatte. Und das lange gedeckt von Max’ Mutter, die versucht hatte, die Gemeinheiten seines Vaters als einen Ausdruck von Liebe umzudeuten. Und so lernte Max, dass Liebe wehtun musste. Und floh vor ihr.

Max hatte jahrelang um die väterliche Anerkennung gebuhlt. Erst nach und nach, während Perdus, Salvos und Max’ gemeinsamer Reise und seit er in Victoria sein Herzenszuhause gefunden hatte, konnte er die tiefe Verletzung seiner Kindheit hinter sich lassen. Aber offenbar nicht weit genug weg, als dass Max sich dennoch fürchtete, dass in ihm ein herrischer, liebloser Tyrann lauerte, der es ihm unmöglich machte, sein eigenes Kind gut zu behandeln.

»Massimo, du denkst zu viel«, sagte Salvo.

»Aber …«

»Neinneinnein, ich habe dir genau zugehört. Es hieß immer: Ich dachte, dass … ich dachte, sie will … Also wenn ich eins gelernt habe, dann, dass du fragen musst und zuhören und machen. Weniger denken, mehr machen, ja, capisci? «

»Also Blumen, Schultern massieren und mit einer leeren Klorolle hören, ob der Herzschlag kommt?«

»Wieso denn eine Klorolle?«

»Hab ich gelesen, in so einem Hilfe-ich-werde-Vater-Forum. Man hält die an ihren Bauch und drückt sein Ohr daran und kann den Herzschlag hören.«

»Lass uns vielleicht erst mal mit den Blumen anfangen. Und mit einem Schmuckstück. Und einer ehrlichen, sehr liebevollen Bitte um Verzeihung. Den Rest kriegen wir auch noch hin und finden raus, wie man Vater wird und wie man Vater ist, okay?«

Mit dem Letzteren begannen die drei Männer nach dem Besorgen der nötigsten Einkäufe in der Haushaltsabteilung.

Ratlos hielt Max eines der unzähligen Windelpakete hoch. »Zwei bis drei Kilo, vier bis sechs, acht bis zwölf – meine Güte!, machen die Babys wirklich so viel … eh, unter sich?«

Cuneo schnappte sich das Windelpaket, besah es sich von allen Seiten und warf es Perdu zu – sich schüttelnd vor Lachen.

»Du kleine cannelloni, was glaubst du denn, dass Babys wirklich drei Kilo scheißen? Wovon denn? Das ist nicht das Gewicht von kaka, sondern vom Kind, stupido! «

Als Perdu anfing zu lachen, wandte sich Max beleidigt ab.

»Woher soll man das denn wissen …«, murmelte er.

»Ja, ecco, woher schon! Wo warst du die letzten Jahrhunderte, hat man dich eingefroren und aufgetaut? Hast du nie ein Baby sauber eingepackt? Kleine Cousinen, Kinder von Freunden, nein? Ich denke, du schreibst Kinderbücher!«

»Ja, aber für Acht- bis Zwölfjährige, die gehen schon allein aufs Klo, hein?! «

»Hier«, sagte Salvo und warf Max eine Packung Toilettenpapier zu. »Darauf schreibst du ihr den längsten Liebesbrief aller Zeiten und erzählst ihr das mit der Klorolle. Mit ein bisschen Glück lacht sie dich aus, und Lachen ist der Anfang vom Wiederlieben.«

Lieben und wieder lieben lernen

Lieben können, das ist: den anderen in seinen Fehlern umarmen. Dem anderen folgen können in seinen komplizierten Gedanken-Verwicklungen, in die er sich verheddert. Dem anderen zugestehen, ganz anders auf genau dieselbe Welt zu schauen.

 

Liebe, das ist: hinüberwechseln, Seitenwechslerin sein, mit dem Herzen des anderen auf Schmerz und Hoffnung schauen, das eigene Ego schweigt, um den anderen zu hören und als weniger »anders« wahrzunehmen. Weniger Angst, weniger Missverständnisse, weniger Verurteilung des anderen, des »Andersseins«.

 

Aber dieses Lieben-Können: Das kommt nicht von allein!

 

Lesen lernen ist lieben lernen. Sich von sich selbst befreien und in den Emotionslabyrinthen der Figuren umherzustreifen; bisweilen ein Echo seiner selbst zu hören und gleichzeitig in dem Körper, mit dem Puls, mit der Haut, mit der Kraft, mit der Ohnmacht, mit den idiotischen Macken eines anderen Menschen zu leben, in dem anderen zu sein; lesen, fühlend nachzuvollziehen, wie das ist – Sklave zu sein – oder Hofnarr – oder die jüngste Tochter einer viktorianischen Familie – eine verfolgte jüdische Elfjährige – ein Süchtiger – ein Mensch mit einer Hautfarbe oder Akzent oder Geruch, die bestimmte Menschen als bedrohlich wahrnehmen.

Erst wer außerhalb seines eigenen Radius aus selbst gemachten Erfahrungen und Gefühlen heraus das Menschliche in jedem Menschen sehen kann und das »andere« nicht mehr als anders bezeichnet, sondern als weiteren Teil eines Wir, der wird (wieder) lieben können.

 

Wie kann die Literarische Pharmazeutin dabei assistieren? Halten Sie eine Reihe von »Ach, so ist das?«-Büchern vor. Ja, das sind Titel, die nicht ganz so gut abfließen wie die »Genauso-isses!«-Bücher. Genauso-isses-Bücher bewegen sich in dem sicheren Heimathafen liebenswerter Klischees und solider Stereotype – Sie kennen das: Frauen, die sich für zu dick halten, treffen Traumtypen mit Beziehungsanlaufschwierigkeiten und werden zu oft von der besorgten Mutter angerufen und wohnen in einem Dorf mit dem typischen, wiederkehrenden Personal und Familiengeheimnissen. Auch diese Bücher sind von medizinischem Wert, nur nicht für den Wiederliebenlernenden; der benötigt das Ungewohnte, die »Ach, so ist das?«-Bücher, die einem etwas erzählen, das man bisher nicht selbst erfahren hat.

Beginnen Sie sanft, mit Stimmen aus einem anderen Kulturkreis, anderer Sozialisation, aus Israel, Indien, Japan, Brasilien, dem Senegal, und bringen Sie den männlichen Kunden bei, dass Bücher von Frauen keine Frauenbücher sind oder Gedöns, in denen es ständig um Mond und Menstruation geht (wobei das dem einen oder anderen deutlich helfen würde).

Erweitern Sie zu »Ich«-perspektivisch erzählenden Romanen, gern mit jeweils dem Geschlecht, das Ihr Gegenüber gerade nicht repräsentiert. Sollten Sie sich nicht sicher sein, ob Ihr Gegenüber grundsätzlich Geschlechterzuteilungen ablehnt, ist Ursula K. Le Guin stets eine sichere Bank, vor allem mit »Die linke Hand der Dunkelheit«, oder die Wiedererzählung griechischer Mythologien durch Madeline Miller.

Und runden Sie ab mit Lyrik, solche, die Raum lässt für Widerhall und Echo, maximal eine Miniatur pro Seite, damit sich der Wiederliebende darin ausstrecken kann, vorsichtig, vorsichtig, und gleichsam auch seine Hände wieder ausprobieren, die er so dicht und eng an sich gehalten hat. Damit niemand auf sie schlägt, diese zarten Hände, aber jetzt können sie wieder zupacken, jetzt wieder trauen sie sich, die Hand eines ganz und gar Unterschiedlichen zu halten.

 

Aus: Große Enzyklopädie der Kleinen Gefühle . Nachschlagewerk für Buchhändlerinnen, Buchhändler und andere Literarische Pharmazeuten, Kapitel L.