E r wurde älter und gleichzeitig jünger. Es war, als taute etwas in ihm auf, von dem er nicht gespürt hatte, dass es sich verfroren und seine Elastizität verloren hatte. Jean Perdu sah Victoria an – ich werde ein Papy, gut, einer aus zweiter Hand, aber bitte, Herrschaften, vielleicht wird das ja ein Trend, die Ersatzopas aus der zweiten Reihe? –, er sah Salvo Cuneo und Samy an – ich werde wieder Buchhändler! – und fühlte sich angetrunken. Obgleich es zum Mittag nur Badoit gegeben hatte, zusammen mit einem köstlichen Salat aus Wasser- und Galia-Melonenwürfeln, würzigem Ziegenkäse, Pfefferminzblättchen und Rucola aus dem Garten, neben einem Faux Filet samt zarter Gorgonzolasoße, wie sie nur Salvo Cuneo zubereiten konnte. Perdu fühlte sich … ja, wie die junge Garance in Anna Gavaldas »Ein geschenkter Tag«. Weil etwas wiedergefunden wurde. Weil etwas anderes zu Ende ging. Weil man auf einmal das Gewicht der Zeit spürte: Denn wie viele solcher leichten, duftenden Tage mit genau jenen Menschen, in dieser Zusammenkunft, würde man noch verbringen?
Das hatte ein wenig, aber nicht am meisten, mit dem Alter zu tun. Sie alle, seine Freunde und er, würden auseinanderstreben, nach Süden, nach Norden, in andere Tage und Nächte hinein, die mit anderen Sorgen und Menschen angefüllt wären. Es war gut, sich vollzusaugen wie ein Schwamm, drei Tage Glück. Ein Glücksschwamm, den man auswringen konnte, wenn man es brauchte. Und später wäre er ein Korallenriff, trocken, und würde vorsichtig in ein Regal gelegt werden, auf dem all die guten Tage archiviert wurden.
Doch die Tage, wenn man Mut daraus zehrte, dass man eine kleine Legion Freundinnen und comrades besaß: Auch die mussten geplant, vermessen und anständig sortiert werden – ein Plan für die Rückkehr ins Berufsleben musste her.
Am 2 . September, dem rentrée und dem Wochenende vor der Rückkehr der Kinder in die Fron des Schulalltags und der Erwachsenen zurück hinter die Tresen, in stickige Büros und die Rädchenpedale, in die sie sich eingefügt hatten (wegen der Kinder und was die Nachbarn sonst denken, und man sparte schon für den nächsten Urlaub, oh, Sanary-sur-mer, oder wenigstens ein Campingplatz in der Bretagne?), könnte die Literarische Apotheke ihren Wieder-Betrieb aufnehmen.
Nur: wo? Paris. Gut, das war geklärt. Und: wie? Wohl kaum mit dem Bus, das Schiff schwamm, also würde es in Ruhe wieder gen Norden tuckern.
Aber das Entscheidende: mit was?
Perdu hatte so gut wie gar nichts die drei, vier letzten Jahre an neuen Titeln mitbekommen. Das machte mindestens zweitausend verpasste Romane, die im August, kurz vor dem rentrée, in die Buchhandlungen kamen – jene Werke, auf die die Verlage setzten, dass sie sich entweder wie rasend verkauften oder Preise gewannen. Er wusste nicht, welche neuen Strömungen entstanden waren, welche neuen Bedeutungsräume – denn das waren Bücher: ein Echo dessen, was eine Gesellschaft beschäftigte. Menschen antrieb. Sie schlafen ließ. Sie nicht schlafen ließ.
Jedes Herbstprogramm war die Diagnose eines Landes und wie es um sein Herz, Rückgrat und den Geist stand.
War es noch das Frankreich, das Schutzräume in der Literatur suchte – Trost, Ablenkung, und Erholung von zwei Präsidenten, die weder gern gelesen noch jemals selbst ein Buch geschrieben hatten (was für Banausen!)? Oder war es das Frankreich, von dem Victoria sagte, »es sei zur Wiederrevolution bereit«?
Denn die einen strebten dem Neuen, der Technik, der Verschnellerung des Lebens entgegen. Und die anderen, die weigerten sich kratzbürstig und hielten mehr denn je an dem fest, was sie kannten. Mal trotzig, mal ängstlich, mal, weil sie es nicht schafften, zwischen Kindern, Altenpflege, Beruf, miserablem Nahverkehr, der Miete zu jedem Monatsfünften, Rasenmähen (wegen der Nachbarn …) und Hausputz noch zum Weltretten zu kommen.
Und während Victoria all das hervorstieß, wütend – aufrecht, schön, so unglaublich erwachsen –, hielt sie … ja, das sah Perdu deutlich, hielt sie die Hand von Max ganz fest. Und er ihre.
Hatte Max schon seine Klorollenpoesie geschrieben? Oder was war geschehen in der Zeit, als Max und Victoria für zehn Minuten allein unter dem Olivenbaum gewesen waren?
»Aber daneben ist ja auch noch die Frage: mit wem? Perdito? Hast du mich gehört?«
Perdu tauchte aus seinem Gedankenmeer auf, als Salvo Cuneo die Frage erneut gestellt hatte, mit wem Perdu gedachte, die Literarische Apotheke zu überführen. »Denn verzeih mir, aber mein Weib hier und ich, die göttliche Hekate, Circe, Diane und Aphrodite werden den Sommer über ganz und gar mit der Unmöglichkeit verbringen, uns an einem festen Ort niederzulassen und das Restaurant zu eröffnen, von dem ich gehofft hatte, es nicht allein zu führen. Ich brauchte erst die richtige Frau, um meine cojones für ein eigenes Lokal zu finden. Und deswegen … du verstehst.«
»Was? Das ist ja wunderbar! Und wie soll euer Restaurant heißen?«
Salvo errötete.
Er errötete!, das war ja nun ganz und gar nicht zu fassen! Nervös zwirbelte er mit beiden Händen die Enden seines herrlichen… nun ja. Zwirbelbarts.
»Die Kulinarische Apotheke – La Pharmacie Culinaire . Die Leute sollen Samy erzählen, wie es ihnen geht, dann koche ich ihnen was, damit’s ihnen noch besser oder weniger schlecht geht, und sie schüttet ihnen derweil ordentlichen Alkohol ein. Besten Wein von dem Weingut von Victoria. Wir stellen ein Grundmenü für die häufigsten … ähm … Seelenzustände zusammen. Und ja. Irgendwie bist du daran schuld.«
Es war offensichtlich: Nicht nur Perdus Leben konnte einen pivot .
»Also«, trompetete Samy. »Mit wem?«
»Mit wem was?«
»Na, mit wem du das Schiff nach Paris überführst und mit wem du den Betrieb wieder aufbaust!«
Perdu sah Catherine an.
Sein Blick war die Einladung, mit ihm zu kommen, nach Paris, und das alte, in sich ruhende Frankreich von der Rückseite aus zu betrachten. Aber Catherine, die Kluge, die ließ ihn nicht – »Es geht nicht um eine romantische Reise, mon cœur. Es geht um die Frage, wie du leben willst. Und, glaub mir: Darüber kann man am besten allein nachdenken, um sich jeden Gedanken zu erlauben und dabei nicht ständig ein harmloses Gesicht zu ziehen.«
»Heißt das, du überlegst das auch? Und willst hier unbeobachtet nicht harmlose Gesichter ziehen?«
»Natürlich! Mit wem ich leben will, ist schon geklärt, falls du das wissen wolltest. Mit dir. Mit dir und immer und wieder mit dir. Aber das Wie: Vor dieser Frage sollte man nicht zurückweichen. Ich war lange bei meinem ersten Mann damit beschäftigt, sein Wie mitzuleben. Bis … na ja. Du kennst die Geschichte, er ist mittlerweile das zweite Mal geschieden (oh, woher wusste sie das?). Und ich danke dir, dass mit dir alles möglich ist – jedes Wie . Aber ja, auch ich werde über mein Wie nachdenken. Ob ich hier arbeiten will – oder in Paris – oder woanders. Und dafür brauche ich einen Moment.«
Es herrschte auf einmal Stille am Tisch.
»Max«, sagte Victoria entschlossen. Sie fasste so fest nach der Hand ihres Mannes, dass ihre Fingerrücken weiß wurden.
»Nimm Max mit, um … um dein Schiff wieder nach Paris zu bringen. Und es startklar zu machen für die Wiedereröffnung.«
»Ich kann mir vorstellen, er hat jetzt erst mal ganz andere Sachen hier zu tun …?«
Sachen, an die Perdu dabei dachte: Schultern massieren, zu Unzeiten nachts aufstehen und merkwürdige Speisen besorgen, nach der der Schwangeren gelüstet, das Kinderzimmer streichen, mehr machen, weniger denken. Da sein. Verdammt noch mal: da sein! Und nicht auf den Kanälen rumgondeln.
Und wieso wusste Catherine, dass ihr Ex-Mann von der Frau geschieden war, die er gegen Catherine auf schamloseste Weise ausgetauscht hatte, gleich zusammen mit dem Wohnungsschloss?
»Wir haben das eben besprochen«, sagte Victoria erneut entschlossen, aber sie schwitzte dabei.
Max sah deutlich weniger entschlossen aus, aber immerhin schwitzte er auch.
Perdu sah zu Catherine, dann zu Samy, beide hatten so ein Achselzucken, nur in den Augen, knapp unterhalb der Augenbrauen.
Er sah wieder zu Victoria, und er sah – ihren Vater in ihr. Luc. Manons Luc, den Winzer, der einst gesagt hatte, dass es immer einen Pfad auf den Berg gibt. Immer. Auf jeden Berg. Dass sie einen Weg gefunden hätten, damit zurechtzukommen, dass Manon in ihrem großen, staunenden, prallen Lebensfrühling nicht gemacht gewesen war für nur einen Mann. Sondern für zwei, für Luc und für Jean. Und dass ihr Hunger auf das Leben alles wollte. Einerseits das Leben, das sie kannte und das ihr Zuhause war. In den Bergen, den Reben, dem Süden, der Sprache der Zikaden, dem Blau des Himmels, oh!, diesem einzigartigen Blau!, und den Aprikosen und der Farbe der Erde. Und andererseits Hunger auf Paris, auf Jean und Leben mit den Büchern, dem Tango, der Stadt, der Ich-Samkeit, ja, nur ein »Ich« sein, keine Tochter mit Aufgaben, keine Frau mit festgelegter Zukunft auf einem Weinberg. Und dass dieser Hunger auf ein und statt eines oder gestillt sein musste.
Luc wusste es – und ließ Manon sein, wie sie ist. Ohne zu verbittern. Ohne auch nur einmal von seinem Weg abzuweichen, um ihr dieses falsche Opfer vorzuwerfen.
Es gibt einen Pfad, auf jeden Berg.
Victoria war in Manons schönem weichen Bauch gewesen, als Perdu Manon ein letztes Mal bei sich gehabt hatte. Und was immer Manons Tochter mit ihrem Mann besprochen hatte, mit Max, dem künftigen Vater, der in sich noch ein Kind war, ein Junge, der schützend die Hände über seinen Kopf hielt, um die väterlichen Schläge abzuwehren, ein Junge, der noch nicht satt war und Abenteuer erleben wollte, der überhaupt erst mal mutig genug sein wollte, um einen Zeh wenigstens einem Abenteuer entgegenzustrecken.
Victorias Geste war aus derselben Quelle von Liebe, Einfühlung, Verständnis, Loslassen, Eigensinn, Loyalität und Größe, wie jene von Luc es gegenüber Manon gewesen war.
Frag nicht, stand in Victorias Augen.
Plakatgröße.
Frag nicht, was mich da reitet, aber es ist heute das Richtige.
Also fragte Jean Perdu nicht.
Stattdessen sagte Perdu langsam: »Ich werde mit Max das Schiff nach Paris bringen. Und mich dann umschauen nach jemandem, der es nicht erwarten kann, den wohl wahnwitzigsten Beruf der Welt zu ergreifen. Und dann sehen wir weiter. Hast du jemals Terry Pratchett gelesen, Vic? Ich muss dir unbedingt alle Scheibenwelt-Romane besorgen. Du wirst Oma Wetterwachs lieben.«
Zwei Eigenschaften braucht das innere Glück: zupacken können. Und loslassen.
Das eine geht nicht ohne das andere. Man muss loslassen, die Hand, die Faust öffnen, um etwas Neues, Fremdes, um sein so kurzes eigenes Leben packen zu können. Aber es ist so schwer, und mitunter werden Sie als Literarischer Apotheker oder Pharmazeutin ein Gegenüber mit so geballten inneren Fäusten vor sich haben, dass Sie sich es mit einem Strauß nicht mehr ganz frischer Rosen in der Hand vorstellen müssen. Die Hände sind so fest um die Stiele mit den Stacheln gekrampft, um die einstigen Schönheiten, die mal Blüten voller Duft und Morgen und Leidenschaft, Zukunft und Vertrauen und Begehren, Hingabe und Geborgenheit und Gewohnheit gewesen waren, und nun verwelkt, gammelnd, zerrupft, bloß nicht loszulassen. Das Blut rinnt aus der zarten Haut, der Seele, es läuft und läuft, und die Finger sind dennoch verkrampft. Denn wie kann etwas einst Lebendiges auf einmal tot sein?
So geht es der Seele: Loszulassen, was einst Versprechen gewesen war – oder loslassen, was man liebt, und hofft, dass das Vertrauen nicht gebrochen, nicht gering geschätzt wird – oder loslassen, um dem anderen Luft und Raum zum Sich-Wiederfinden zu lassen – ist schwer.
Die Wunden können jedoch erst heilen, wenn die Hand frei ist, die Stacheln entfernt. Die Wundheilung braucht Zeit.
Was tun, um diese Zeit zu überstehen? Wie die Minuten ertragen, in denen sie nicht anrufen dürfen? Wie die Nächte durchwachen, in denen kein Pling im E-Mail-Fach wartet? Wie Abstand zwischen sich und das einst so Präsente, Lebendige, Wahrhaftige bringen? Wie die Stille ertragen? Wie kann dabei etwas Stilles wie Bücher helfen?
Ein Wort: Serien.
Sie brauchen Serien in Ihrer Bücherapotheke, so spannend und fantastisch oder blutdürstig wie möglich. Das hilft bei Liebeskummer. Keine romantischen, keine humorvollen Geschichten: Das Blut darf gern spritzen, das ist das fiktionale Ventil für all das Blut, die Kränkung, die Demütigung und die Wut.
Aber vor allem: Serien. Universums-Romane wie von Terry Pratchett. Damit die Wochenenden gerettet sind, die lang und trostlos sind. Damit die Abende, an denen man niemanden sehen will, der einem mit albernem Zeug wie »Kopf hoch, andere Mütter haben auch schöne Söhne« (ja, mag sein, aber nicht IHN !) belästigt, gefüllt sind. Mit Reisen, mit Flucht, mit der absoluten Entführung aus der Gegenwart und Realität. Und zwar, ohne die lieb gewonnenen Figuren loslassen zu müssen.
Aus: Große Enzyklopädie der Kleinen Gefühle . Nachschlagewerk für Buchhändlerinnen, Buchhändler und andere Literarische Pharmazeuten, Kapitel L .