N atürlich: Sie alle sind nur zwei, drei, vier Herzen von Milliarden Menschen (und zwei Katzen). Aber jetzt, dieser Abend, und nachdem sie zu viert vier Stunden Proviant eingekauft hatten, der war wichtiger als alle Abende aller Milliarden Leute. Jedenfalls kam es Perdu so vor, während sie über das VNF -Wasserwege-Netz, dem transport fluvial Frankreichs, gebeugt, die Route planten. Neben sich hatte er seinen furchtbar neuen Laptop, damit er anfangen konnte, sich zurückzumelden in der Welt der Bücher. Titel sichten, bestellen, sich einfühlen in einen lang nicht getanzten Rhythmus. Und die reichlich geplünderten Regale auffüllen und die Tische, die Samy und Cuneo zu Bistroecken umgebaut hatten. Drei VNF -Gebiete würden sie durchqueren, Rhône-Saône, das Burgund und schließlich das Seine-Becken. Er musste eine Vignette beim Hafenmeister kaufen, damit sie nicht wieder so doof dastanden wie beim ersten Mal, als ihnen beim übereilten Aufbruch alles verloren gegangen war – Telefone, Geld, Kreditkarten und …
»Eheheh«, sagte Samy. »Von wegen Hafenmeister, die Vignette kaufst du online und druckst sie aus.« Samantha wies Perdu außerdem auf die GPS -gesteuerte Karte hin, die er über seinen Computer empfangen konnte, inklusive Baustellen, Schleusenöffnungszeiten und Wasserstände, was gerade bei Tunneln und Brücken unabdingbar sei. Hier, klick, klick, die schnellste Route sei die längere, 963 Kilometer, aber nur mit 172 Schleusen, »Ihr würdet in Montargis und Cepoy vorbeikommen, was macht eigentlich P.D. Olson, hat der inzwischen Landesverbot in den USA , gnihihi?«, oder die hier, 1027 Kilometer, 169 Schleusen, auch elf Tage, die kürzeste dagegen 232 Schleusen und drei Tage länger. »Siehst du, nun schau doch mal, der Canal de Bourgogne, vollgestopft mit Schleusen, also, und sag mal, das Klappfahrrad, hast du das gesehen, das lassen wir dir da, ja?«
Miau, machte Kafka.
Jean Perdu war unwirsch. Irgendwo in den unendlichen Weiten des französischen Internets saß ein kleiner Schicksalsmacher und jonglierte mit 1 und 0 , um ihm vorab mitzuteilen, wie und wo er die nächsten Tage verbringen würde? Gut, die erste Reise war an Problemen kaum zu überbieten gewesen. Ob dieser Engländer auf seinem narrow wohl noch im seidenen Hausmantel über die Wasserwege kreuzte und hoffte, ein paar ungeschickt steuernde Franzosen zu beschimpfen?
»Sofern wir immer nur bis halb sieben schlafen«, murrte Perdu und zeigte auf die kalkulierten Fahrzeiten, die auch die Nächte durchtakteten.
»Es sind, wenn du uns wenigstens ein bisschen mehr schlafen ließest, sicher zwei Wochen. Plus Unvorhergesehenes.«
»Ja, aber das Beste: Du weißt immer, wo du bist!«
»Na, das ist ja so aufregend wie eine Steuererklärung«, murmelte Max.
»Was denn! Wäre euch die Baguettepapier-Navigation lieber?« Samy spielte auf ihre erste Reise an – um zu wissen, wo sie waren, waren sie in Bäckereien gegangen, und das Papier, in dem die Baguettes eingeschlagen wurden und die sie den Bäckerinnen gegen den Tausch eines Buches hatten abringen können, erhielten die wesentlichen Informationen wie etwa den Dorfnamen.
»Ihr könnt sogar euren Standort live übertragen!«
»Wohin denn?«
»Na, auf deine Webseite natürlich.«
»…«
»Du willst mir nicht gerade sagen, dass die Pharmacie Littéraire keine Webseite hat. Oder einen Webshop.«
»Wozu denn?«
»Wie, wozu denn. Damit Menschen Bücher bestellen können?«
»Aber das können Sie doch bei mir direkt?«
Und wie sollte er wildfremden Menschen, die sich vermutlich unter Namen wie »AbrakadabraBordeaux63 « einloggten, wirklich sinnvolle Empfehlungen für ihre Seelenlage geben?
»Du könntest deine Enzyklopädie abtippen und online stellen und lässt dir ein kleines Programm schreiben, jemand gibt drei Gefühle an, die er gerade hat, und der Algorithmus wirft dann eine Buchempfehlung aus …«
»Was? Auf keinen Fall!«
Samy seufzte, und sie und Max sahen sich so augenrollend an, dass sich Perdu genötigt sah anzumerken: »Hätte ich eine Webdings, bräuchte ich keine Buchhandlung, sondern ein großes Lager und einen Sortimenter. Ich könnte auf meinen Berg krabbeln und Napoléon totstreicheln. Und was ist, wenn irgendein Witzbold ›Hunger, Pipi, kalt‹ eingibt? Was soll daraus für eine Empfehlung werden, Krieg und Frieden? «
»Ist ja gut. Hier, nimm Wein.«
Und so verpasste Jean Perdu es, dass Samy ihm ihre weiteren Ideen mitteilte, wie eine Online-Video-Sprechstunde, einen Blog und eine Buchauswahl für die häufigsten Seelenlagen, einen digitalen Erste-Hilfe-Buchkoffer. Und die Standortangabe, die würde Lesenden helfen, sich bei den Liegepausen in der Péniche Lulu herumzutreiben, und den Ausliefer-Lkws, die Literarische Apotheke täglich ein bisschen mehr zu bestücken. Aber, bitte sehr, der zerknautschte Papiertiger mit seiner Aversion gegen allzu viel Technik und, igitt!, modernes Leben war bockig, gut, dann eben nicht. Kleine Drachenschnauber, mehr Bandol Rosé für alle. Einen Blick mit Max gewechselt, konspirativ.
»Untersteht euch«, murrte Perdu.
Die Péniche Lulu war von Samy und Cuneo im Winter zur Inspektion gegeben worden – und im Trockendock hatte man eine Tonne Flussmuscheln vom Rumpf abgeklaubt, den Sechs-Zylinder-DAF -Motor überholt, die Ölheizung kontrolliert, 3500 Liter Diesel in den Tank gefüllt und Lulu und der Literarischen Apotheke die offizielle Erlaubnis erteilt, sich die nächsten zehn Jahre im Wasser zu amüsieren –, bis zum nächsten TÜV .
Sie saßen noch lange da, Salvo hatte ein Muschelfest gemacht – nicht von den blinden Passagieren unter dem Rumpf, bewahre! –, sondern zur Vorspeise Tellmuscheln und Sushi mit rotem Mittelmeerthunfisch auf dem Reis der Camargue, als Hauptgang Bouchot-Muscheln und herrliche Süßkartoffel-Frites mit Rosmarinmayonnaise. Zum Nachtisch Ziegenfrischkäse mit Honig und gerösteten Nüssen. Salvos geplante Kulinarische Apotheke musste ein Erfolg werden!
Glückglück, machte es in der Brust.
Glückglück.
Aber das Vermissen, das begann schon – wie seltsam, nicht Catherine an der Seite zu haben, sie anzusehen, während es in Perdus Brust so wohlig und warm herumlächelte. Wie frei er sich fühlte und dennoch nur halb; wie komplett er sich fühlte, und doch: Sie fehlte.
Sie fehlte.
Perdu wanderte später allein im Dunkeln durch sein Bücherschiff. Und seine Finger fanden ohne Mühe die Regale mit der Poesie; dies war das Herz des Schiffes, von hier breitete sich die weiße Magie aus: von der lyrischen Herzensapotheke.
Es gibt zwei Methoden, die Zeit anzuhalten: küssen oder Lyrik lesen. Das zweite ist schon deshalb praktischer, da man es auch allein tun kann; die Auswahl des Gegenübers aber nimmt bei beiden Methoden dieselbe Sorgfalt in Anspruch.
Lyrik ist die kleinste und älteste literarische Form der Welt; noch älter sind nur mündlich überlieferte Zaubersprüche, Segen, Gebete, Gesänge und Beschwörungsverse.
Und die Lyrik, Dichtung, Poesie kann ihre Verwandtschaft mit der Verbalmagie von Dämonenaustreibung und Mantras nicht verheimlichen; sie besitzt, anders als die Prosa des Romans, Wirkungen, die schon recht nah an das Halbmagische heranreichen. Vor allem, wenn man Gedichte halblaut liest, wenn man sie weder analysiert noch deutet, nicht gleich mit Verstand und Bildungsschülerei durchleuchtet – sondern mit den Augen trinkt, dem Körper liest, das eigene Flüstern im Mund und auf den Lippen –
Es ist ein Weinen in der Welt,
Als ob der liebe Gott gestorben wär,
Und der bleierne Schatten, der niederfällt,
Lastet grabesschwer.
Komm, wir wollen uns näher verbergen …
Das Leben liegt in aller Herzen
Wie in Särgen.
Du, wir wollen uns tief küssen –
Es pocht eine Sehnsucht an die Welt,
An der wir sterben müssen. 1
Und dieses halblaute Lesen hat dieselbe Wirkung auf das Gehirn, um genau zu sein, ein selten aktiviertes Zentrum im Scheitellappen: Man erkennt sich selbst. Man erkennt den Sinn der Welt. Ohne dass er beschrieben wurde.
Mein schönstes Gedicht? Ich schrieb es nicht. Aus tiefsten Tiefen stieg es. Ich schwieg es. 2
Und empfindet gleichzeitig die Vorfreude auf Belohnungen, so zart und gierig wie beim Auswickeln eines Lieblingspralinés oder das Zischen des Feuerzeugs an der Zigarette. Poetischer Optimismus.
Glück. Zeit, was willst du von mir? Ich bin in einem Jetzt von Glück …
Und je häufiger man Lyrik liest, desto tiefer wird die Fähigkeit, auf Wendungen, Überraschungen und Lebensvolten zu reagieren – und das sage nicht ich, sondern die Bangor Universität in England, die die Wirkung von Lyrik – Poetry – auf Körper, Geist und Emotion untersuchte. Da es der Wissenschaft jedoch nicht möglich ist, das Halbmagische der Wörter zu entzaubern, musste man sich auf MRTs und Hautspannungsmessungen, sogenannte Gänsehaut-Rasterungen, beschränken.
Um die Zeit anzuhalten, lassen Sie die Lyrik Ihre Seele küssen. Einige Namen für den Anfang:
Anna Achmatowa, Elizabeth Bishop (Beginnen Sie mit »Die Kunst, zu verlieren«), Dorothy Parker, Seamus Heaney, Maya Angelou, Annette von Droste-Hülshoff, Else Lasker-Schüler, Mascha Kaléko, Louis Aragon oder Djura Jakšic, Pam Ayres, Jacques Prévert und Jean Krier.
Lesen Sie sich selbst halblaut vor, damit Ihr Mund und Ihr Körper das Flüstern spüren, vielleicht im Stehen, vielleicht an diesem einzigen besten Ort für die Telepathie zwischen Ihnen und dem Schöpfer; Sie wissen schon, dort, wo Sie am liebsten lesen, dort, wo die Welt Sie am großzügigsten übersieht.
Ist es nicht vielleicht dieser verschwiegene Sessel, da hinten an der Wand?
Aus: Große Enzyklopädie der Kleinen Gefühle . Nachschlagewerk für Buchhändlerinnen, Buchhändler und andere Literarische Pharmazeuten, Kapitel P.