Kapitel 14

D ie Normalität ist die Herrscherin über Angst und Träumerei. Perdus Gefühle von Endlichkeit verdampften in den Handgriffen, die er lange nicht ausgeführt hatte. Planke sichern, Fenster öffnen, Sommerluft und Licht hineinlassen, die wärmedichter waren als im Süden am Meer. Bücher ordnen, Bücher abrechnen, Bücher bestellen. Katzenhaare mit einem extraweichen Handfeger von den Regalen fegen. Seine Notizen der Enzyklopädie in das Fach unter der Kasse deponieren, dort könnte er jederzeit am Tisch etwas aufschreiben.

Auch der Motor brauchte jeden Morgen ungeteilte Aufmerksamkeit; würden sie abends zu viel Strom der Schiffsbatterie verbrauchen, müsste der Motor per Hand und gutem Zureden angeworfen werden. Während Perdu in den Maschinenraum stieg, fuhr Max mit dem Klapprad Baguette, Milch und Zeitungen holen. Sie tranken morgens Kaffee, die Ellbogen auf die Reling gestützt, sahen in das braune Wasser, die grünen Rebhänge, es sollte ein durstiger Sommer werden, zu oft zu warm, zu schön, kann es das geben: zu schön?

»Ich würde gern schwimmen gehen«, sagte Max.

»Der Fluss würde dich behalten.«

»Ich bin kein großes Opfer.«

Der junge Herr pflegte immer noch seine Abscheu gegen sich selbst.

»Fahren wir.«

Sie fuhren, sie meldeten sich bei den Schleusen per UKW -Funk an, und beim Pointe Contrôle Desert, um die Ablegeerlaubnis zu erhalten. Ablegen, fahren, alle zwanzig Minuten schleusen, funken, den Berufsschifffahrern aus dem Weg gehen, die bergaufwärts in Kolonne fuhren. Anlegen und dabei jedes Mal Adrenalin. Unter Brücken hindurchducken und beten, dass Lulus Haupt nicht zermalmt wurde. Sich wundern über all die Kunden und Kundinnen und die fluchenden Spediteure, die rückwärts bis an die Quaikanten fahren mussten, oft am Allerwertesten der Welt.

Kochen, essen. Seine Mutter anrufen. Anfangen, die winzigen Aussetzer zu zählen, wenn ihr ein Wort nicht einfiel oder sie einfach ein anderes nahm, Kochpummel statt Kochtopf, Monsieur Hollandrad statt Präsident Hollande.

Notizen für die Enzyklopädie machen.

Das Packpapierpaket von Saramago scheel ansehen.

Sich zurück anstarren lassen.

Mit Catherine telefonieren.

Schlafen. Neue Träume haben. Aufwachen, Baguette besorgen, Aprikosenmarmelade. Bei PC Desert melden.

Wiederholen und dabei Frankreichs Kanäle aufwärts Richtung Paris aufrollen.

Sein Bestand war halbiert. Samy und Salvo hatten dennoch aufgefüllt mit dem, nach was ihnen war, und Perdu fand ihm unbekannte Bücher von Leïla Slimani, von Laetitia Colombani, von Louise Erdrich, von senegalesischen, chilenischen, deutschen Namen. Er begrüßte sie murmelnd – »Bonjour Madame Slimani, was werden Sie mir beibringen?« – »Salut Monsieur Zhadan«, und es war ein Kribbeln in ihm, diese ihm noch unbekannten Persönlichkeiten kennenzulernen. Ein Gefühl dafür zu entwickeln, gegen welche Maladien der Seele sie halfen. Für einen Lesenden allein. Für wenige. Für viele. Diese Menschen aus Papier. Diese große, kostbare Medizin.

Hatte er immer noch dreißigtausend Geschichten im Kopf? Waren jene achttausend Werke immer noch die beste Wahl? Oder hatte er einen Drift verpasst, diesen Drift, den es alle paar Jahrzehnte in einer Gesellschaft gibt: wenn es aufgrund neuer kollektiver Erfahrung neue Traumata, neue Verletzungen und neue Ängste gibt? Er stellte sich vor, Greta Thunberg stünde vor ihm, oder Malala Yousafzai, oder sogar Simone Weil, wenn sie inkarniert wäre: Könnte er in ihnen überhaupt noch lesen?

* *

Jeden Abend der folgenden sechs Tage, an dem sie erst die Rhône aufwärts nahmen, in die Saône einbogen und dann in den Kanal Champagne und Bourgogne mit seinen aberwitzig zahlreichen Schleusen erreichen sollten, passierte dasselbe: Kaum hatten sie angelegt, verschwand Max, um erst weit nach Mitternacht zurückzukehren. In Mâcon – Stadt des Dichters Lamartine und der Beerenmarmeladen –, in Condes und an diesem Abend in Chaumont in der Region Grand Est, dicht am Elsass und Lothringen. Der Anleger, an einem stillen Hafen an der Saône mit samtig im Abendwind raschelnden Birken, war menschenleer. Max machte sich bereit, eine Umhängetasche um den Oberkörper, sich auf das Klappfahrrad zu setzen.

Perdu hatte es ja versucht. Nicht nachzufragen. Nicht den alarmierenden Imaginationen, die an seinem geistigen Auge vorbeitänzelten, nachzugeben – Max in wilder Umarmung mit abenteuerlustigen Erdkundelehrerinnen, in grölender Umarmung mit Trinkkumpanen, mit Pillen, die ein Smileygesicht zeigen auf der Zunge, bekifft in einer Vorstadtabsteige, mit sonstigen Dingen, die einem so spannend vorkommen, wenn man jung ist und die Nacht so lang.

Nicht dozieren, das schon mal gar nicht! Und sich nicht beschweren und dabei enttarnen, dass er Max vermisste.

Ja, vermisste! Als Gesprächspartner. Sie hätten sich über Frauen und Bücher und das Leben unterhalten können. Oder auch anschweigen, und dazwischen halbgare Sätze, die sie einander näherbrachten.

Was tat Max nur die Nächte an Land?

Am Tag wechselten sie sich mit Steuern und Essenkochen ab, mit Schleusen und Bücher sortieren, und Perdu hatte inzwischen eingewilligt, dass Max eine Webseite entwarf. Würde er dann am Abend bleiben? Wenn sie nebeneinandersitzen würden und zu zweit auf einen Bildschirm starren, auf dem Webseiten anderer Buchhandlungen zu sehen wären – von Shakespeare & Company (der beatnik-sten), von Delamain (der ältesten), von Gilda (Bestes aus zweiter Hand), von Galignani (erster Buchladen mit anglophonen Büchern auf dem gesamten Kontinent) –, und sie alle Perdu zu fern wären von dem, was er vermitteln wollte; und Max und er darüber sprechen würden, wie man das, was Duft und Blick und Intimität einer Begegnung ausmachte, nun mal nicht in Symbole und Struktur übersetzen könnte.

Könnte man doch, nur eben nicht digital, würde Perdu kontern; so, wie vor dem Buchdruck die Architektur von Gebäuden das Erzählen von Mythen, Prinzipien und Legenden übernommen habe – man müsse sich nur Notre-Dame anschauen oder Pyramiden oder Behörden –, so wäre auch das Bücherschiff die Struktur einer Arche, fast religiös, nur ohne den Kontrollwahn und das Leidensklimbim. Ach so, du willst also einen Kryptalook?, würde Max sagen, und so weiter und so frotzelig. Sie würden einander necken, Max würde vorschlagen, Perdu als kleinen Avatar auf der Seite herumlaufen zu lassen und den Kunden, der sich ebenfalls einen Avatar aussuchen könnte, durch das Bücherschiff und die Regale zu verfolgen.

Sie saßen jedoch nicht zusammen, Max sagte: »Ich hab gesagt, ich kümmere mich, also kümmere ich mich auch«, und ging jeden Abend erneut seiner Wege. Sein Gesicht verschloss sich.

»Einen ganz tollen Abend wünsche ich dir«, sagte Perdu, als Max in Charenton das Klapprad aus dem Schott hob.

»So, wie du es sagst, stimmt es bestimmt«, schnappte Max zurück.

»Was ist los?«

»Nichts, Herr Direktor. Darf ich jetzt gehen?«

»Wieso fragst du mich das? Du kannst machen, was du willst.«

»Schön! Danke für diese Erlaubnis!«

Der abendliche Besucher hatte sich abgewandt, als Max gereizt von Bord gegangen war.

So hätte Perdu ihn fast verpasst und wollte schon das »Geschlossen«-Schild anbringen, um endlich, endlich!, etwas zu essen und sich mit Catherine zu beraten, wie er als mürber Keks damit umgehen sollte, dass ein junger Keks sich von ihm beaufsichtigt oder eingeengt oder sonst was fühlte.

Aber da sprach die Gestalt, die neben dem Rettungsring wartete, den Buchhändler an. »Haben Sie noch geöffnet?«

»Ich wollte gerade schließen. Oder ist es dringend?«

»Ich bin … ja … der Freund eines Freundes. Und da gibt es schon eine gewisse Dringlichkeit.«

»Ich verstehe …?«

»Ich frage selbstverständlich entsprechend für diesen Freund nach Lektüren.«

»Selbstverständlich.«

Oha.

Der Freund eines Freundes folgte Perdu und setzte auch im Inneren der Lulu seine Sonnenbrille nicht ab. Er behielt den bunten Strickschal trotz der Temperaturen halb um sein Gesicht geschlungen und nuschelte dahinter seine Frage hervor.

Oder zumindest so etwas Ähnliches.

»Also, da ist diese Frau, die meinem Freund sehr viel bedeutet.« Hüsteln. »Und das bleibt wirklich unter uns?«

»Aber natürlich. Buchhändler haben Schweigepflicht.«

»Ach? Seit wann?«

»1895 .« Das hatte sich Perdu ausgedacht, aber diente dem »Freund des Freundes«, sich ein Herz zu fassen.

»Ach ja. Nun ja. Wie gesagt. Diese Frau. Mein … Freund fragte sich, ob … ob es wohl ein Buch gibt, das …«

Nuschelnuschel.

»Das, Pardon, was genau?«

»Hmmmrmpf.«

»Ah«, sagte Perdu. »Verstehe. Sie möchten also für Ihren Freund ein literarisches Werk als eine Art … Werbungsgabe erwerben, das die von ihm verehrte Person etwas geneigter macht, sich Ihrem Freund … aufgeschlossener zu zeigen.«

Hilfloses Nicken.

Meine Güte, es war lange her, dass Kunden – ausschließlich Männer im Übrigen – bei ihm so verlegen wie Vierzehnjährige vorgesprochen hatten in der irren Hoffnung, es gäbe da so etwas wie Frauenverzauberungsbücher. Verführungsliteratur, die ihnen die Abkürzung in Madames chambre oder das Herz oder am besten beides ermöglichte, kaum dass sie eine Handvoll Seiten ausgesuchtester Gelingbelletristik gelesen hatte.

Dabei war Liebe ein unordentliches Gefühl. Es ließ sich nur bedingt von ordentlich gesetzten Wörtern beeindrucken.

Am Anfang, und als Perdu selbst noch jung und ein klein wenig dämlich und hoffnungsvoll gewesen war, dass es eben genau solche Bücher der Liebe wirklich gab und Madame Herrou aus der Buchhandlung Vagabonde das nur bisher bösartig verschwiegen hatte, war Perdu schonend vorgegangen, um den schüchternen, hilflosen, in Verliebtheit oder Begehren entbrannten Männern die Illusion einer Abkürzung zu nehmen. Bücher konnten zwar so ziemlich alles – aber selten die Leidenschaft dort schüren, wo sie nicht schon von selbst winzige Funken schlug.

Die einzige Möglichkeit, so etwas wie Herzensnähe herzustellen, war, wenn zwei dieselben Bücher verehrten. Als junger Buchhändler hatte er davon fantasiert, dass er »Rendezvous Littéraire« organisieren könnte. Kunden und Kundinnen zu verkuppeln, denen dasselbe Buch etwas bedeutete … bis er über die Jahre herausfand, dass zwei Menschen nie das gleiche Buch lasen, nicht mal, wenn es dasselbe war.

Bücher der Liebe: Das war ein Mysterium, selbst für ihn.

Gerade für ihn.

Aber gut, der arme Tropf tat ihm leid, vielleicht könnte er es ihm indirekt ausreden, sich und die Verehrte in eine heikle Situation zu bringen. Wenn Perdu schon Max’ Vertrauen zurzeit nicht besaß, dann vielleicht das eines Fremden.

»Und Ihr Freund, plant er das Werk höchstselbst zum Vortrag zu bringen?«

Knallrote Wangen über dem Schal und unter der Sonnenbrille.

»Wäre das denn zu empfehlen?«

»Nicht ohne vorherige Übung. Manche Wörter lesen sich ganz und gar fantastisch und leicht, wenn man sie nur in Gedanken und allein überfliegt. Andere scheuen das Licht und erst recht Atem und Melodie.«

Der Mann nahm die Sonnenbrille ab. »Ich gehe davon aus, wir können das jetzt lassen«, sagte er. »Ich bin der Freund, und ich weiß nicht mehr weiter.«

»Dann tun Sie mir einen Gefallen«, erwiderte Perdu. Er reichte dem Besucher das »Geschlossen«-Schild. »Bringen Sie das an, und wir setzen uns einen Moment einfach da hinten hin.«

Er deutete in die Lyrische Abteilung der Herzensapotheke.

Als Perdu wenig später die beiden Gläser und die Flasche Elsässer Crémant auf den fest im Boden verschraubten Handtaschentisch – einst gespendet von seiner Mutter Lirabelle – neben den beiden Sesseln stellte, hatte der Fremde einen Gedichtband von Else Lasker-Schüler in der Hand.

»Gibt es das überhaupt?«, fragte er. »Bücher, die die Liebe locken können, wo nicht wenigstens noch eine Erinnerung oder eine Erwartung an sie da ist?«

»Nein«, sagte Perdu. Er öffnete die Flasche und goss ihnen ein.

»Und haben jemals Männer vermocht, genau die Worte zu finden, die eine Frau dazu brachte, ihr Leben zu ändern?«

»Ja«, sagte Perdu, »unglücklicherweise schon. In Briefen, in nächtlichen Beschwörungen, wenn man dicht beieinanderliegt, aber das Problem zeigt sich in dem Danach.«

»Danach?«

»Wenn die Wirklichkeit den Worten folgen muss. Nichts ist so grausam wie ein Liebesbrief, dem nicht Taten folgen. Nichts verrät Worte mehr, als wenn sie folgenlos bleiben.«

Sein Gegenüber seufzte. »Ich bin nicht schön, ich bin nicht wohlhabend, ich weiß nicht, was an mir sein könnte, um diese Frau für mich zu begeistern. Sie kennt mich schon lange und ich sie. Und glauben Sie mir: Ich bin weder verliebt in das Erobern noch in die Sünde oder fantasiere von einem anderen Leben, für das sie mich verwandeln soll. Ich meine genau sie. Vielleicht habe ich es längst verpasst. Und doch: Wenn ich es nicht wenigstens einmal versuchte – glauben Sie mir, dass ich mich weigern würde zu sterben, vor Wut auf mich?«

»Und … was ist an ihr?«

»Verführen Sie mich nicht zum Schwärmen.«

»Genau das hatte ich vor.«

»Sie sind ein seltsamer Buchhändler.«

»Ich hoffe doch. Werden Sie jetzt die Augen schließen und von ihr erzählen?«

Der abendliche Gast lehnte sich zurück, schloss die Augen und sprach. Erst suchend. Dann immer fester. »Sie ist kostbar. Sie ist ein Mensch, der andere achtet, und gleichzeitig tut, was sie will. Unaufgeregt, sie macht es einfach, sie hört zu, und sie hört sich zu, sie kümmert sich um sich, sie ist nie hilflos. Sie spielt nicht und niemandem etwas vor, sie ist von großer Klarheit, und doch ist so große Spielfreude in ihr. Wie sie Bäume anzuschauen weiß, sie meint sie. Nicht wie manche: ›Schau, wie ich schaue, die Natur! Bin ich nicht empfindsam?‹ Sie schaut und vergisst, dass sie angeschaut wird. Ihre Wangen haben Lachfalten. Sie riecht gut, fremd und doch vertraut, es ist das Leben in ihr, das duftet. Wenn ich an sie denke, dann oft, dass ich ihr alles erzählen will, was ich sah und denke und zweifele und frage. Ich mag es, wie sie isst. Wie sie geht. Ich höre manchmal mein Herz so laut schlagen, wenn sie in meiner Nähe ist, und dass ich genau da bin, wo ich ich bin. Und sie ist mir lieb, und ich will ihr Gesicht als Letztes sehen, bevor ich sterbe. Dann werde ich keine Angst haben. Und wenn sie geht, werde ich bei ihr sein, und sie wird keine Angst zu haben brauchen.«

Er öffnete die Augen.

Trank. Ein kleines Zittern, kleine Schlucke, aber die Spannung war aus seinem Körper gewichen. Die Not.

Perdu sagte nichts, sondern vollendete seine konzentrierte Arbeit. Er hatte mitgeschrieben, in eines seiner Clairefontaine-Hefte, in denen noch reichlich Platz war. Schließlich riss er die beiden Seiten aus dem Schulheft, es war mit dem Kapitel »W«, wie »Wortlosigkeit« oder »Weihnachtsmelancholie«.

»Hier haben Sie alles, was Sie brauchen. Vielleicht wollen Sie es noch vervollständigen. Das ist das Buch, das Sie suchen. Das ist das Buch, das diese Frau lesen will: wie Sie an sie denken. Wie Sie sie sehen. Dass Sie sie sehen. Es gibt nicht die Wörter der Erlösung oder der Liebe. Denn die Liebe, die Sie empfinden, braucht Ihre eigenen Wörter.«

Der Mann nahm das Papier, strich darüber. »Und Sie denken, das reicht? Wenn ich ihr all das zu verstehen gebe?«

»Kein anderer wird es Ihnen abnehmen.«

»Ich bin kein mutiger Mensch.«

»Das ändert nichts daran, dass Sie es probieren werden.«

»Wie seltsam, dass man Fremden gegenüber ehrlicher ist als zu jenen, die einen kennen.«

»Das Fremdvertrauen … aber nicht gefragt zu werden, was einen bewegt, kann manchmal auch eine Wohltat sein.«

»Und manchmal erstickt man an Bitternis, wenn jeder sich nur um die eigenen Dinge kümmert.«

Perdu atmete tief ein und aus. »Haben Sie zufällig einen Sohn?«

»Zufällig, ja.«

»Gibt es etwas, das man auf jeden Fall richtig machen sollte?«

»Ach so«, sagte der Besucher. »Der junge Mann eben … er sah nicht zufrieden aus.« Er dachte nach. Dann: »In Ruhe lassen. Zur richtigen Zeit in Ruhe lassen. Und ihn am meisten lieben, wenn er es am wenigsten zu verdienen scheint. Und dann wieder zur richtigen Zeit nicht in Ruhe lassen. Das Timing ist das Entscheidende, und nach ein paar Mal üben kann man es.«

Der Besucher stand auf, und er stand gerade und irgendwie … präsenter da als zuvor.

»Viel Glück«, sagten die beiden Männer gleichzeitig zueinander.

Perdu sah ihm im Dunkeln nach, am Schott stehend, und es war ihm, als verstand er Max: Woher sollte ein Mann, der eben noch nur für sich verantwortlich war, wissen, was ein Kind braucht? Wer würde da nicht fliehen wollen vor dieser Aufgabe, die ein ganzes Leben des Kindes prägen würde?

Zeit der Zauderer.

Wenn der Mut verloren gegangen ist und die Zeit des Zauderns beginnt, muss die Literarische Pharmazeutin geduldig mit ihrem Gegenüber hinabsteigen; dorthin, ins Vergessene, wo die Kindheit abgelegt worden ist.

Denn Kindheit, die bewahrt den Mut für immer auf.

 

Als das Leben noch so groß, so unendlich vor einem gelegen hatte und alle Wege offen, wirklich alle, und im Angesicht dieser Allesmöglichkeit ist das Wollen und Sehnen, das Fantasieren und Sichtrauen am leuchtendsten. Alles, alles ist möglich, das haben dem kindlichen Lesenden Alice und Ares, Matilda und Harry, Georgina und Pippi, Frodo und Zora erzählt, und Tom, Ronja, Anne, Lyra und Huckleberry, Katniss und Atréju, Bastian und Heidi, der Herr der Diebe und der Hobbit, Krabat und Pu, und mit ihnen zusammen waren sie in geheimen Gärten, Wunderländern, auf Schatzinseln.

 

Wie sonst als lesend geht ein Kind auf Erkundigung, was das Leben alles bereithalten könnte? Und den wachsenden Menschen von innen auskleidet, mit einem Schutzschild gegen die Angst und mit der Fähigkeit, sich selbst zu erstaunen, mit dem ganzen Willen, sich unbedingt dem Tun, dem Leben selbst, ganz hinzugeben.

 

Diese Zeit, wenn uns Bücher formen, sind jene kostbaren Jahre, wenn man das erste Mal vorgelesen bekommt, und bevor man das erste Mal einen ganz und gar eigenen Wohnungsschlüssel besitzt. In dieser Zeit wirken die Bücher am innigsten auf einen Menschen ein, er liest sie nicht mit dem Kopf, sondern dem Körper, dem Sein, der Fantasie, ihm wird ein neues Paar Augen geschenkt, das Zusammenhänge und Widersprüche menschlichen Handelns erkennen kann; und es bilden sich vollkommen neue Gefühle jenseits der eigenen Nabelschau – Mitgefühl, Mitleid, Empörung über Ungerechtigkeit, Bewunderung. Die Seele geht eine tiefe Beziehung ein mit Figuren, mit Mythen, Haltungen. Bücher für Kinder und Jugendliche auszuwählen und ihnen zu offenbaren, wie viele Wahlmöglichkeiten sie für ein eigenes, einzigartiges Leben haben können, welche Figuren sie zu ihren Freunden und Wahlverwandtschaften machen können, welche Freuden sie beim unbeobachteten Identitätswechselspiel haben können, ist deshalb eine besondere Herausforderung, aber darüber wird noch gesprochen werden.

Um jemanden wirklich zu kennen – seine Ideale, Prinzipien, seine Glaubenssätze –, muss man die Bücher seiner und ihrer Kindheit und Jugend kennen; sie haben die Pfade hergestellt, auf denen die Seele sich bewegt und zur Landschaft wird. Hat jemand den Weg verloren, muss man ihn zurückbegleiten in das alte Land.

Für Fälle akuten Zauderns empfiehlt sich daher eine umfangreiche Bibliothek mit Kinder- und Jugendbüchern aus allen Zeiten und Ländern der Welt. In ihnen wohnen die einstigen Helden und Heldinnen, die uns daran erinnern, wer wir außerdem sind.

Und sein können.

 

Aus: Große Enzyklopädie der Kleinen Gefühle . Handbuch für Buchhändlerinnen, Buchhändler und andere Literarische Pharmazeuten, Kapitel Z.