Kapitel 23

D as Erste, was sich änderte, war der Geruch. Seitdem sie von der Rhône auf den Kanälen durch das tiefe Frankreich gefahren waren, hatte es nach Land geduftet, manchmal mehr und nach Kuhweide, oft nach Gras, feuchter, fruchtbarer Erde, nach den Naturparfums der nahen Wälder, nach Raps und Lavendel.

Seitdem sie auf dem Fluss Marne näher an Paris heranrückten, desto weniger roch es nach Land – sondern nach den Ausdünstungen einer Millionenstadt. Und als sie auf der Seine waren, blitzten hinter den Ufern links und rechts Baggerseen, Sandverladekais und Kiesrampen auf. Auch die Dichte der Frachtschiffe nahm zu, die Berufsschiffer des zweitwichtigsten europäischen Binnenhafens brausten mit gnadenlos irrem Tempo einher, wer ihnen entgegenkam: tja, Pech, aus dem Weg, Pummel-Péniche! Die Kräne an der Seine versahen stoisch ihre Arbeit.

»Hm«, machte Pauline. »So richtig pariserisch sieht Paris ja bisher nicht aus.«

Das änderte sich, nachdem sie sich unter der Pont National hergeschoben hatten und sich unter das Getümmel der Frachtkähne, Ausflugsboote und kleineren Motorboote mischten. Und sich links und rechts die Stadt erhob und im Sonnenuntergang ihre Lichter entzündete, Paris in ihr Abendkleid stieg – sie würden das Musée d’Orsay sehen, die Assemblée nationale, das Institut de France, die Île de la Cité und Notre-Dame, den Louvre – und nach der Place de La Concorde und den Strandklubs und Fluss-Cafés wären sie da: am Champs-Élysées-Hafen und der Brücke Alexandre III .

»Die Seine ist nach der Flussnymphe Sequana benannt. Sie verlieh ihrem Wasser zwei legendäre Kräfte: die Gabe der Heilung und die Macht, Wünsche zu erfüllen.«

»Ich wünsche uns einen Parkplatz«, seufzte Max.

»Oh, den haben wir. Es ist derselbe wie immer.«

»Was? Sie haben dir den Liegeplatz vier Jahre freigehalten?«

»Sie haben ihn nicht freigehalten. Ich habe ihn bezahlt. Jeden Monat«, gab Perdu zu. Er hatte sich nie darum gekümmert, die Lastschrift zu beenden und den Vertrag mit der VNF , der Voies navigables de France, zu lösen. Es hatte zu Verwerfungen in seinem Kontostand geführt, aber anstatt sich einen Ruck zu geben und ein Häkchen dranzumachen, hatte er einfach über die entsprechende Stelle im Kontoauszug hinweggelesen.

Es gab Leute, die warteten zwanzig, dreißig Jahre auf einen festen Liegeplatz in Paris. Als sie in Vitry auf das Ende der Sintflut warteten, hatte Perdu sich vorangemeldet. Der Hafenmeister war noch derselbe und hatte Perdus Rückkehr mit dem Kommentar quittiert: »Na, das war ja mal eine ausgedehnte Spazierfahrt.«

So konnte man es auch nennen.

»Was werden wir als Erstes machen, wenn wir da sind, Jean?«

»Unter eine richtige Dusche gehen«, schlug Pauline vor.

»Oma Dommi anrufen«, krähte Theo.

Ihr werdet euch wundern, sagte Merline, was wir als Allererstes machen werden. Aber niemand, nicht mal das kleine Zwiebelchen, das immer auf sie hörte, hörte auf sie. So aufgeregt waren die Menschen, dass bald ein neues Kapitel ihres gemeinsamen Buches beginnen würde, dass sie übersahen, dass es immer anders kommt, als man so denkt.

* *

Perdu redete sich ein, dass er von den außergewöhnlich vielen Stunden am Steuer erschöpft war, und ihm deshalb die Beine so zitterten. Und seine Finger und Unterarme verkrampft waren und sich sein Sehfeld irgendwie … verengt hatte. Perdu hatte mit Kraft die Maschine im Strom ruhig halten müssen, um sich in »seine« Lücke zu bugsieren, die Nackenschmerzen waren dabei immer heftiger geworden. Während Max die provisorischen Halteleinen festzurrte – das stabile Installieren würden sie bei Tageslicht fortsetzen – und Theo und Pauline sich bereit machten, die Planke auszulegen, wurde Perdu sich bewusst, dass er gleich den Zündschlüssel auf »Aus« drehen würde. Und für eine sehr lange Zeit nicht mehr in die andere Richtung drehen. Vielleicht nie.

Und während er in sich hineinsank, sah er eine Gestalt auf der vergoldeten Pont Alexandre III stehen und zum Bücherschiff hinüberschauen.

Manon.

Ihre Haare waren offen, sie trug ein strahlend weißes Hemd.

Sie hob die Hand und winkte.

Jean Perdu schaltete den Motor aus. Das Bücherschiff kam erzitternd zur Ruhe. Irgendwo Knacken, Stille, es konnte gar nicht still sein, Paris war nie still, selbst wenn hier auf dem Wasser alles gedämpfter war. Oder war das in seinen Ohren, dieses dunkle Blubbern, wie unter Wasser?

Als er den linken Arm hob, um Manon zuzuwinken, stach ihm der Schmerz bis in die Eingeweide und schoss ihm gleichzeitig in Nacken und Kiefer.

Vor seinen Augen schob sich ein schwarzer Vorhang zusammen, und Jean Perdu brach zusammen.