Kapitel 25

S ogar eine Woche später gingen Pauline, Max, Theo, Victoria, Leihoma Dominique und auch Catherine mit Jean Perdu immer noch um, als sei er ein rohes Ei. Also, ein recht altes, angedetschtes Ei. Er konnte nicht mal in Ruhe seufzen, ohne dass jemand herbeisprang und wissen wollte, ob es ihm gut ginge. Dabei schämte er sich dieser Aufmerksamkeit, aus zwei Gründen: erstens, weil er fand, dass Theo mehr Schmerzen in sich trug als er, Perdu. Und zweitens:

»Herrje, Älterwerden ist ein absolut normaler Vorgang! Ich hab nur Rücken, den hat jeder!«, wiederholte er den Satz seiner Physiotherapeutin Nani, deren Adresse er netterweise vom Witwenklub der souveränen Leserinnen um Madame Bomme erhalten hatte, den Fachfrauen für jede Sorte körperlicher Inspektionen und Instandhaltungsmaßnahmen.

Der Witwenklub hatte Jean Perdu nach seiner gestammelten Erklärung, warum er den Rat einer Fachfrau benötige, jubelnd aufgenommen in ihren Kreis der Altersversehrten. Kalk, damit kannten sie sich aus, Kalk war ein Biest in jeder Hinsicht.

»Aber sind wir deswegen weniger interessiert am Leben? Nein! Sie dürfen niemals, mein lieber Monsieur Perdu, es so weit kommen lassen, dass sich andere mehr dafür interessieren, wie sanierungsbedürftig Sie sind, als dafür, was Sie im Kopf und im Herzen haben. Sie selbst eingeschlossen, ruhen Sie sich ja nicht auf Ihrer Malesche aus oder machen sich interessant damit! Es ist nämlich so, dass es furchtbar uninteressant ist.«

Mit ebenso großem Hallo wurde Leihoma Dominique im Kreise der lesenden Witwen aufgenommen; Oma Dommi konnte immer noch nicht fassen, dass Theo sprach, dass er von einem Zauberhund gefunden worden war und dass er so entsetzlich gelitten hatte und tatsächlich glaubte, er habe etwas mit dem Tod seiner Mütter zu tun. Dommi hatte versucht herauszufinden, wer nun das Herz seiner Mama in sich trug, aber die französischen Gesundheitsbehörden waren wie alle auf der Welt: äußerst geizig mit Informationen, die Menschen einander zu nahkommen lassen könnten.

»Also, ich hätte unglaublich viele Fragen, wenn ich das Herz einer anderen trüge. Wie hat sie gelebt? Was hat sie gemocht? Werde ich jemanden treffen, in den sie mal verliebt gewesen ist, und ihr Herz weiß es noch, nur ich nicht?«

Madame Gulliver bestätigte das; wobei sie da vermutlich an ihr eigenes leeres Herz dachte, in dem niemand wohnte, nur sie, ganz allein.

Gemeinsam mit Perdu versuchte Dominique Bonvin wenigstens herauszufinden, wo der damalige Freund von Theos Müttern inzwischen lebte, Patrice Corler. Er war der biologische Vater; aber das musste nicht bedeuten, dass er bereit wäre, sein Leben auf links zu drehen. Und wer weiß, vielleicht konnte Theo seinen Vater auch gar nicht leiden?

Und überhaupt, dachte Merline, ein Rudel braucht keine Verwandtschaft, um ein echtes Rudel zu sein. Sie mussten nur beieinander sein. Trotzdem machte sich Merline um Pauline Sorgen: Der olle Kummerfilzmantel klebte ihr immer noch schwer an den schmalen Schultern. Auch wenn sie sich darunter ausschwieg. Das Ding müsste man mal ausfransen! Nur – wie?

 

Theo und Oma Dommi waren für den Sommer in Madame Bommes weitläufiger Altbauwohnung in der Rue Montagnard No  27 untergekommen.

Perdus Mutter und sein Vater konnten ein kleines bisschen Schadenfreude und Erleichterung über seine neu zugelegte Angetattertheit nicht verhehlen: Jetzt mussten sie nicht länger so tun, als seien sie noch tipptopp in Form, weil: Jetzt verstand er ja. Brummelnd gab sein Vater zu, dass er seit zwanzig Jahren jeden Tag Übungen machte, jeden Morgen, »von nix kommt nix«, und zwar eine Kombination aus Yoga und Arbeit mit dem Theraband. »Hier, ich zeig dir mal den Hund, siehst du? Mach mal! Du atmest falsch!«

Es tat ihm sichtbar gut, dass er seinem Sohn Perdu helfen konnte; umgekehrt wäre es ein grauenhaft beschämender Zustand.

Seine Mutter wiederum weihte Jean ein in ihre Gedächtnisübungen. Natürlich war Lirabelle nicht entgangen, dass ihr etwas entglitt, also spielte sie Sudoku, lernte Italienisch und las mehr denn je – das lenkte sie davon ab, ständig in ihrem Kopf nachzuhorchen, ob sie noch wusste, wer sie war. Beim Lesen war Lirabelle jedoch nicht verpflichtet, sie selbst zu sein.

»Das ist äußert erholsam, weißt du. Außerdem machen meine Italienisch-Lektionen deinen Vater wahnsinnig. Er meint ja, ich würde dann mit einem dahergelaufenen Gigolo nach Milano durchbrennen, dio mio! «

Es eröffnete sich ihm eine völlig neue Welt. Perdu war sich nicht sicher, ob diese Erkenntnis jetzt schon nötig gewesen wäre. Auf der anderen Seite: Es war gar nicht so schrecklich unangenehm, in einem Regiestuhl auf dem Bücherschiff zu sitzen und Anweisungen zu erteilen. Die Renovierungsphase war nicht unaufwendig, jedes Mal, wenn man ein Problem anging, freute sich das darunter schon über seine Entdeckung. Und Handwerker und Handwerkerinnen hatten im Juli und August Ferien oder so viel zu tun, dass die Besatzung des Bücherschiffes vieles selbst erledigte.

Catherine hatte die Rolle der Polierin übernommen; sie nahm Max und Pauline die Scheu, mit Maschinen, Holz und Werkzeugen zu arbeiten und sich versehentlich eine Gliedmaße abzusägen. Kafka und Lindgren sahen dennoch lieber aus sicherer Entfernung zu oder haarten pflichtbewusst das Schiff voll, um für die Sommerhitze eine praktische Kurzhaarfrisur zu erreichen.

Oft saß Victoria neben Perdu in einem weiteren Regiestuhl, weil Max fand, sie dürfe sich nicht überanstrengen, dabei fühlte sie sich nicht sonderlich überanstrengt, hütete sich aber, das allzu freimütig mitzuteilen. Sie hatte zusammen mit Theo das Thema Bepflanzung übernommen und erzählte ihm alles, was sie wusste, weil sie inmitten von Blumen, Reben, Bäumen, Gräsern, Feldern, Bergen und den Rhythmen und Gesängen der Natur aufgewachsen war.

»Gesang?«

»Aber ja. Hör mal. Schließ die Augen, und was hörst du?«

»Autos.«

»Und hinter den Autos?«

»Wellen«, flüsterte Theo nach einer Weile. »Von dem Fluss. Mit der Flussgeisterin.«

»Genau. Sie singen von den Ufern, an denen sie waren, und wie die Menschen dort lebten und träumten. Und jetzt hören sie dir zu und werden deine Wünsche zum Meer tragen, damit der Atlantik es den Sternen erzählen kann. Was noch?«

»Und … Blätter, sie flüstern, von den Bäumen.«

»Von der Kastanie? Oder der Platane?«

»Ich weiß nicht, welche welche ist.«

»Schau mal, die mit dem Stamm, die so aussieht wie ein Sonnenbrand und dann pellt sich die Haut, das ist eine Platane. Die Blätter rauschen und erzählen dabei von Hippokrates.«

»…?«

»Der Erfinder der Medizin. Es heißt, er hat seinen Schülern Unterricht unter Platanen gegeben. Und so haben die Bäume sich das alles gemerkt und ihren Nachkommen weitererzählt. Bäume machen so etwas: Sie geben ihr Wissen weiter. Was hörst du noch?«

»So ein Rauschen, aber ich weiß nicht, woher das kommt …«

Victoria beugte sich vor und flüsterte Theo ins Ohr.

Er riss die Augen auf. »Echt?«

»Aber ja«, sagte sie. »Unter Paris ist ein altes, steinernes Meer und unter den Straßen sein Strand. Und wenn man hinhört, kann man das Echo des Meeresgesangs hören.«

Verzücktes Strahlen. Merline beugte den Kopf zur Seite, nanu, dachte sie, ein Zweibein, das die Sprache der Welt kennt?

Perdu war dankbar, dass Victoria Theo die Tatsache vorenthielt, dass in den Kalksteinbrüchen unter Paris, deren Tunnel und Höhlen über 300 Kilometer lang waren, nicht nur das alte versteinerte Meer mit seinen Seepferdchen-Fossilien vor sich hin träumte; sondern auch die Gebeine von sechs Millionen Menschen, manche davon aus der Merowingerzeit.

»Du kannst auch Geologe werden, Theo«, sagte Vic. »Oder Gärtner. Du kannst alles werden, was du willst.«

Na ja, dachte Merline, nur nicht so schlau wie ein Hund.

Zwischendurch nippte Vic, an den Händen Erde und Sonne im Blick, an ihrer Pampelmusen-Limonade und debattierte mit Perdu Babynamen und die neuen Ideen ihres Kellermeisters, oder ganz leise, manchmal, fragte sie nach ihrer Mutter Manon.

»Heißt es nicht, dass Talente eine Generation überspringen? Auf was sollte ich da vorbereitet sein?«

Jean Perdu überlegte sorgfältig. »Kunst«, sagte er. »Deine Mutter hatte große Leidenschaft für Musik, Tanz, für Literatur, für Architektur, für Gemälde. Sie ging ganz darin auf. Nicht mit dem Kopf. Sondern mit dem Herzen, mit dem Körper.« Er griff nach seinem Schulheft, »Entschuldige, ich …« und notierte: Kopfleserin und Herzleserin: Unterschiede, Symptome?

»Das mit der Literatur musst du übernehmen.«

»Jetzt gleich? Soll ich deinem Bauch Kierkegaard vorlesen?«

Augenrollen, winziges Kichern.

»Was noch?«

»Bewegungslust. Im Prinzip hat deine Mutter das Leben so gelebt, wie es sich die meisten ersehnen: intensiv. Niemals gleichgültig. Mit allen Sinnen.«

Vic knibbelte an einem Ratscher auf ihrem Unterarm herum.

»Ich wache nachts auf, weil ich davon geträumt habe, dass ich mein Kind vergessen hätte. Unter der Spüle oder hinterm Schrank, und es verhungert. Und ich träume davon, dass es mir Fragen stellt und ich keine Antwort weiß. Wieso ist Wasser nass? Wohin gehen wir, wenn wir gestorben sind? Warum muss ich das essen? Oder was ist, wenn mein Kind mich nicht leiden kann? Ich hab schreckliche Angst, alles falsch zu machen, und mit sechzehn schreit sie mich an und sagt: Ich hasse dich, du hast mein Leben zerstört!«

»Sie?«

»Oder er, keine Ahnung, ich würde es am liebsten gar nicht wissen, um mir vorher nicht auszumalen, wie das alles wird. Weil, es wird eh anders, und am Ende kündigt mir mein Kind und wirft mich auf die Straße.«

Ihre Hand lag an ihrem Bauch, ihr Daumen streichelte um ihren Nabel; eine Geste, die Vic nicht mal zu bemerken schien.

Merline konzentrierte sich auf Vics Bauch. Aha!

Ich weiß es, ich weiß es, dachte sie und starrte Vic an.

Die wollte aber gerade nicht zuhören, sonst wüsste sie es auch.

»Sag mal, was grinst du so doof, Jean?«

»Weil mir das Lachen zu wehtut.«

»Gut so!«

»Und weil Max und du wunderbar seid. Ihr macht euch Sorgen, jeder ganz andere, so teilt ihr das gut auf, das ist effizient …«

»Blöder Papiertiger!«

»… und ihr könntet davon erzählen: Hilfe, wir werden Eltern! Das wird ein großartiges Buch.«

»Aber wir haben doch keine Ahnung!«

»Das ist das entscheidende Verkaufsargument«, sagte Perdu. »Es wäre perfekt für jene Menschen, die sich genauso hundsmiserabel fühlen, um ihnen die gute Nachricht zu überbringen, dass es die perfekte Lösung nicht gibt.«

»Nieder mit der Perfektion? Hinfort mit Optimierung? Glaubst du, die Menschheit ist bereit dafür?«

»Keinesfalls.«

Jetzt lachte er doch und hielt sich die Seite, au, tat das weh, und doch, Jean Perdu sah sich um, und er war glücklich.

Er nahm Saramagos eingepacktes Manuskript in die Hand. War jetzt der richtige Moment?

Nein. Etwas fehlte noch. Noch hatte er nicht alle Aufträge erfüllt. Das Kämpfen um etwas, das ihm etwas bedeutete, fehlte. Was wiederum bedeutete, dass er bald etwas verlieren könnte. Der Schmerz in seiner Brust drückte dumpf auf diesen Gedanken.

Kopf oder Herz?

Lesen ist wie Gymnastik: Je länger man es nicht macht, desto eher kippt man aus den Latschen, wenn man mehr als drei Kniebeugen (schön tief, bitte!) hintereinander macht oder versucht, sich auf einen Roman mit mehr als fünfzehn Wörtern pro Satz zu konzentrieren, nachdem man die letzten Jahre nur kurze Nachrichten konsumiert hat.

 

Entsprechend haben Sie es in Ihrer Literarischen Apotheke mit allen Sorten Lesenden zu tun: die, die es schnell und tief können und ständig Nachschub begehren; die, die es mühsam finden und die kurzen, knappen Werke, möglichst rasant erzählt, »flüssig zu lesen«, ohne viele Fremdwörter oder Abschweifungen vorziehen; andere, die sich davontragen lassen und weder kalte Füße spüren noch auf ihre Umgebung achten und sich so tief in eine 2000 -Seiten-Geschichte hineinwühlen, dass sie dabei weinen, lachen, Gänsehaut bekommen und diesen verflixten Lavendel sogar riechen können; und wieder manche, die zwar gern in Büchern lesen, um Wissen oder kluge Sätze zu finden, denen aber das emotionale Davongetragenwerden völlig fremd ist und Ich-Perspektiven oder dramaturgische Intensität eher unangenehm bis abstoßend.

Und natürlich: die langsam Lesenden, die trotzdem nicht vom Himalaja lassen können, aber mit zwei Büchern pro Jahr bestens ausgelastet sind. Das sind meine Favoriten, übrigens, denn umso sorgsamer muss man für sie auswählen …

 

Entscheidend für jede Empfehlung ist, abschätzen zu können, in welchem Trainingszustand sich das lesende Gehirn befindet. Und: ob es eine Kopf- oder eine Herz-Lesende ist.

 

(Meine Auszubildende sagt, maximal ein neurologischer Ausflug sei erlaubt in diesem Handbuch. Gut, hier kommt er).

 

Das Gehirn, dieses seltsame Wunder, kann am Anfang eines Menschenlebens nicht lesen, anders als die genetisch angelegte Fähigkeit zu sprechen. Das Gehirn muss erst lese-ausgebildet werden, Netzwerke von Synapsen zwischen Hören, Sehen, Spüren neu angelegt, und an diese docken nach und nach Empfindungen, Bilder, Assoziationen und Lernfähigkeiten an. Es ist ein kognitives Hochleistungstraining, das das kindliche Gehirn hinter sich bringen muss, vergleichbar mit Marathon plus Seiltanz und Eiskunstlauf rückwärts und dabei jonglieren. Alles, um Denken, Erinnern, Erkennen, ja, sogar um überhaupt »Lernen« zu lernen.

 

Allein, um »k a n i n c h e n« zu entziffern – schwarze komische Flecken und Symbole müssen vom Auge ins Sprachzentrum gesandt und dort in alphabetische Bedeutungen übersetzt werden; dann zusammen innerlich den Klang des Wortes Kaninchen annehmen; schließlich kommt noch ein Bild dazu, eine Erinnerung an ein Kaninchen, ein echtes, ein gezeichnetes, oder ist das Ding völlig unbekannt, oh, hallo, Fantasie, willst du mittrainieren? – und schließlich Affekt und Emotion oder sinnliche Erinnerung – oh, Kaninchen, weich, und hat so lustige kleine Kackkrümel, und schmeckte neulich sehr gut mit Zwiebeln, oje!, mein Kaninchen ist gestorben, als ich fünf war –, arbeitet das Gehirn wie der NASA -Hauptcomputer. Nur viel schneller. Es ist die vermutlich gewaltigste Leistung, die ein Gehirn vollbringt.

Wenn es trainiert wurde.

Und wenn es trainiert wurde, dann beginnt es, diese Anstrengung zu genießen, und der Lesende gerät in einen Zustand, der ziemlich nah am Glück ist. Fließend, strömend, es ist Frieden und Lebendigkeit und Entspannung und Prallheit.

 

Die ersten Jahre des Vorgelesenbekommens, Selber-Lesens, Reimens, Singens, gar Selber-Dichtens entwickeln die neuen Lesemuskeln. Oder, wenn in der Kindheit wenig davon geschieht und nur in der Schule Lesen als reiner Wissenstransfer und grauenhafte Interpretations-Tortur auftaucht, bleibt auch das Oberstübchen weitestgehend unmöbliert; die Freude am Lesen bleibt unbekannt, das Training so unattraktiv wie ein Zirkeldrill in einer schweißigen, klebrigen Männerturnhalle.

 

Die darauffolgenden Jahre, gerade wenn das Gehirn ein zweites Mal umgebaut wird, in der berüchtigten Pubertät (ganz vorsichtig jetzt, sagt Pauline), entscheiden, wie es weitergeht mit dem neuronalen Netzwerk – wird es nur auf Stand-by gehalten und ist kaum mehr anwendbar oder regelmäßig mit einem Update versehen?

(Ganz vorsichtig jetzt, sagt Max, der sich deutlich besser auskennt mit Software als ich.)

Denn in dieser Zeit geht es nicht nur mehr um die Fähigkeit, längere Texte zu lesen, sich konzentrieren zu können – sondern auch um die Aufnahme zutiefst menschlicher Fragen und Antworten in einem inneren Zwiegespräch. Ethische – was ist Menschen etwas wert und was mir? Soziokulturelle – wie leben und erleben andere diese Gegenwart? Wo stehe ich in diesem Wir? – und: Was sollte ich wissen, was habe ich für Möglichkeiten, anzufangen in meinem Leben?

Auch wird in diesen Jahren entschieden, wie Bücher wahrgenommen werden – sprachlich-intellektuell oder kreativ-sinnlich. Meist entscheidet darüber nicht nur die eigene Vorliebe, sondern auch die Gesellschaft, in der gelesen wird. In Deutschland etwa wird das intellektuelle Lesen höher geschätzt, in Frankreich das kreativ-sinnliche, in den USA eine bekömmliche Mischung aus beidem. Entsprechend unterschiedlich sind auch die Bücher und Kanons … das aber nur nebenbei.

 

Zurück zu Ihnen: Wie jemand liest – schnell, tief, ungeduldig, langsam, mühsam, leicht; rational oder emotional –, müssen Sie nicht detektivisch heraushören. Fragen Sie, das würde auch jede Ärztin machen: Machen Sie Sport? Lesen Sie viel? Möchten Sie eintauchen (Herz) oder vor allem Sprache und intellektuelle Volten genießen (Kopf?). Beides?

 

Und falls die Herzlesende sich geniert, weil angeblich schlaue, schwierige Bücher mit hochrelevanten Gesellschaftsthemen die besseren seien und kuschelig-warme Terrassenbücher nur etwas für charakterlich schwache Personen, und Sie vor lauter Verlegenheit anlügt – tun Sie ihr bitte den Gefallen und ignorieren diesen Versuch.

Bücher sollen dem guttun, der sie liest, alles andere ist Zeitverschwendung.

 

Aus: Große Enzyklopädie der Kleinen Gefühle . Handbuch für Buchhändlerinnen, Buchhändler und andere Literarische Pharmazeuten, Kapitel H.