Kapitel 26

D ie drei Gesichter der Hafenkontrolleure waren von der Hitze über der Stadt gerötet. Es war der heißeste Juli seit 1880 , und ihre Mienen spiegelten wenig Begeisterung ob dieser historischen Sensation. Vermutlich waren sie die drei armen Tröpfe der Präfektur, die keinen Sommerurlaub aus dem Dienstplan herausgequetscht bekamen; der Juli war traditionell für Familienmütter und -väter reserviert, Singles sollten gefälligst im Februar oder November Urlaub machen.

Sie musterten das Bücherschiff, raunten einander undeutliche Kommentare zu, und der Jüngste von ihnen, ein etwas kräftigerer Mittzwanziger, notierte schwitzend auf einem Klemmbrett herum, während der Längste von ihnen Kommandos knurrte.

»Oh … oh«, sagte Pauline leise. »Ärger frei Haus an Backbord.«

Sie war gerade dabei, die Druckvorlagen der Bücherreisepässe für Kinder (und Erwachsene, die nicht widerstehen konnten) zu kontrollieren, und hatte sie vor sich auf der Kassenkommode ausgebreitet. Daneben lagen Prototypen der ersten sechs Stempel, die nach den Zeichnungen von Theo verfeinert und hergestellt worden waren. Im Drucker ratterten die Passbildaufnahmen, die sie mit der winzigen Computerkamera aufgenommen hatte.

»Man muss ja nicht gleich immer das Schlimmste annehmen«, erwiderte Perdu und nahm das Schlimmste an. Er war fast durch mit seiner täglichen Yoga-Einheit und schloss gerade mit der Position »Hund« ab, als die drei VNF -Offiziellen durch das Schott traten. Ihre strahlend weißen Kurzarmoberhemden waren nass geschwitzt. »Moment!«, rief er ihnen zu, sein Gesäß in die Luft gestreckt.

Hochgezogene Augenbrauen, Geknurre vom Langen, weiteres Gekritzel auf dem Klemmbrett vom Jüngeren.

Als er sich erhob, fragte Perdu: »Darf ich Ihnen einen Schluck kühle Limonade bei diesem Wetter anbieten, Brigadiers?«

»Bestechungsversuch«, murmelte der Lange, der mit dem rötesten Gesicht unter dem Bürstenhaarschnitt, und: »Schreib das auf, Emile.«

»Also, ich weiß nicht, Gilbert, ob das schon …«

»Ich sagte, schreib das auf!«

Der Dritte im Bunde, der bisher schwieg, schaute sehnsüchtig auf die Karaffe Limonade, in der Eiswürfel und frische Zitronenschnitze schwammen.

Mit energischen Schritten enterte der Brigadier Gilbert das Bücherschiff, misstrauisch beäugt von Kafka und Lindgren.

»Wie sieht’s denn hier aus!«, herrschte er Perdu an und zeigte auf die ausgebauten Regale und den abgezogenen Boden.

»Wir räumen auf«, erwiderte Perdu maliziös.

»Unangemeldete Baustelle, schreib das auch auf, Emile.«

Herumwirbeln zu Perdu: »Und das machen Sie allein?«

»Nein, ich räume mit Freunden auf.«

»Schwarzarbeit also«, donnerte Gilbert.

»Also, Entschuldigung …?«, begann Pauline, wurde aber unterbrochen von Gilbert, der jetzt richtig in Fahrt kam.

»Was ist das? Etwa auch noch organisierte Urkundenfälschung?« Er deutete auf die Reisepassvorlagen auf der Kommode.

»Das sind Bücherreisepässe«, sagte Pauline konsterniert. »Für Kinder! Wenn Sie in Narnia waren oder Mittelerde, und …«

»Nie gehört.« Er nahm einen leeren Pass hoch.

»Das wundert mich nicht«, platzte es aus Pauline heraus.

»Jetzt hör mal, junge Dame, was glaubst du, wie viel dich Beamtenbeleidigung kosten wird?«

»Ein Lächeln«, erwiderte Pauline. »Und Sie können Sie zu mir sagen.«

Gilbert schnappte sich einen der Ausweise, sagte: »Beweismittel«, und steckte ihn in seine Brusttasche.

»… dann will ich eine Quittung für den Pass, und wenn Sie Tolkien fertig haben, können Sie sich einen Fleiß-Stempel bei mir abholen. Gratis.«

Emile, der hinter Gilbert stand, konnte sich das Grinsen nicht verkneifen. Der Dritte, Schweigende, schaute jetzt sehnsüchtig auf die Bücherreisepässe wie zuvor auf die Limonade.

»Nun ist aber gut«, sagte Perdu. »Wollen wir die Unterlagen durchgehen, weswegen Sie sicher hier sind?«

»Wann es gut ist, bestimmen nicht Sie, Monsieur.«

»Sagt wer?«

Gilbert zückte seinen Ausweis für drei Nanosekunden – Gilbert Le Roy, na dann, mit dem Namen –, und dann ratterte der Brigadier los: Schiffszeugnis, Binnenschifffahrtsdiplom, TÜV -Zertifikat, Sondergenehmigung für schwimmende Anlagen, Sondergenehmigung für Aufbauten, Sondergenehmigung für das Anbringen von Werbemitteln, Versicherung für Wasserfahrzeuge auf Binnengewässern, Haftpflichtversicherung für den Liegeplatz; Nachweis der Wohnsteuer, Nachweis der Müllabfuhrgebühren. »Und den Feuerlöscher würde ich auch gern sehen.« Überaus zufrieden mit sich verschränkte er die Arme und wartete vermutlich darauf, dass Perdu nervös wurde.

»Sehr schön«, antwortete Perdu. »Möchten Sie mir gern folgen, oder halten Sie die Fluchtgefahr für nicht so hoch, dass ich Ihnen das Gewünschte allein holen kann?«

Scharfschützenaugen. »Emile, begleite unseren … Herrn Apotheker doch gern.«

Perdu warf Pauline einen Blick zu. Ich komm klar, signalisierte sie. Das hoffte er. Dieser Le Roy war in der Ausübung seiner Macht nicht zu unterschätzen. Der Mittlere im Bunde war unsichtbar geworden; Perdu sah ihn aus dem Augenwinkel, wie er die Kiste mit den lädierten Exemplaren inspizierte.

»Bücher Apotheke … «, spuckte Gilbert Le Roy aus. »Lächerlich.«

Oha. Ein Nichtleser.

Deswegen beeilte sich Perdu, gefolgt von dem kräftigen Emile, der nicht ganz so flott mitkam, weil er sich immer wieder umschaute und versuchte, die Titel auf den Buchrücken zu entziffern.

Verlegen raunte Emile Perdu im Steuerstand, als Jean den Schrank mit der Schiffsmappe öffnete, zu: »Tut mir echt leid … schönes Schiff … ich bin Bretone, wissen Sie, und so viele Bücher … ich les ja eigentlich gern, aber …« Er verstummte. Fragender Blick.

»Emile«, sagte Perdu ruhig, »kommen Sie gern zu den Geschäftszeiten ab September wieder, und wir klären das mit dem Aber.«

Und da guckte Emile ziemlich vertropft und mit vor schlechtem Gewissen brennendem Blick. »Ich glaub, Sie werden ziemlich lange keine Geschäftszeiten mehr haben.«

»Dann kommen Sie eben außerhalb der Geschäftszeiten.«

Mit der Mappe ging Perdu zurück in den Schiffsbauch, wo sich Gilbert und Pauline anfunkelten. Gilbert hielt mit spitzen Fingern ein Buch hoch – »Muss man das kennen?«, fragte er gelangweilt.

»Sie nicht«, erwiderte Pauline.

Eins musste Perdu ihr lassen: Sie war absolut unerschrocken und hielt wenig davon, in servile Eifrigkeit zu verfallen, um jemanden in Uniform milde zu stimmen. Pauline Lahbibi hatte Rückgrat.

Jedes einzelne Blatt aller Unterlagen musste nun der Dritte im Bunde – Adrien – fotografieren, und Gilbert wurde zusehens zufriedener. »Ich fasse zusammen: Sie haben also weder eine Baustellengenehmigung noch eine Genehmigung für Sonderanbauten …« – »Was denn für Sonderanbauten?« – »Unterbrechen Sie mich nicht, und die persönliche Anmeldung bei der Hafenaufsicht erfolgte mit Verzögerung.«

»Ich musste ins Krankenhaus.«

»Können Sie das belegen?« Blick von oben nach unten, als mochte er sagen: Also, der markiert doch nur.

»Sagen Sie mal, Gilbert«, mischte sich Pauline ein, »was ist eigentlich mit Ihnen los? So unglücklich?«

Mit arktischem Eis im Blick sah er sie an. »Außerdem«, sagte er genüsslich, »ist der Feuerlöscher über zehn Jahre alt, was ein eklatantes Sicherheitsrisiko darstellt, und die Bezeichnung Literarische Apotheke entspricht nicht der EU -Richtlinie zur Benennung von Einzelhandelsunternehmen, oder sind Sie eine zertifizierte Apotheke gemäß der Apothekenbetriebsordnung nach ISO 9000 und Artikel 44 der Direktive 2005 /36 /EC

»Der Feuerlöscher ist zehn Jahre und einen Monat alt.«

»Sind Sie nun zertifizierter Apotheker oder nicht?«

»Ich bin Literarischer Apotheker.«

»Das ist kein Beruf, der Ihnen erlaubt …«

»Sie glauben, ich übe einen Beruf fünfunddreißig Jahre aus und merke nicht, dass es eigentlich kein Beruf ist?«

»Was ich weiß, Monsieur, ist, dass Sie keine Apotheke führen dürfen und damit einer illegalen Tätigkeit nachgegangen sind, und erst recht kein Boot, das zudem die Sicherheitsauflagen und hafenstädtischen Grundverordnungen nicht erfüllt. Ich werde der Präfektur und der Gewerbeaufsicht mit den vorgelegten Sachständen empfehlen, Ihren Betrieb und das Schiff bis auf Weiteres stillzulegen.«

»Das können Sie nicht machen!«, rief Pauline.

»… und Ihren Liegeplatz aufzulösen, da Ihr Schiff nicht den technischen und physischen Kompatibilitätsvorschriften entspricht. Mademoiselle, ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.« Arrogante Verbeugung. Brigadier Gilbert Le Roy verließ erhobenen Bürstenhaarhauptes das Schiff. Adrien trottete hinterher, und nur Emile drehte sich noch einmal um, bevor er durch das Schott auf den Quai zurück in die sengende Julisonne trat. Sein Blick drückte zweierlei aus: Scham – und tiefes Bedauern, nicht bleiben zu dürfen.

 

Paulines Rückgrat zerbröselte vor seinen Augen in Tränen.

»Aber was machen wir denn jetzt bloß?!«

Perdu schaute auf die Uhr. »Mit meinem Vater mittagessen gehen«, sagte er. »Es ist gleich 12 :30  Uhr, und er mag es nicht, wenn er zu spät damit dran ist. Und danach wäre ein Eis schön, findest du nicht?«

* *

Joaquim Albert Perdu schwor auf Mittagsmenüs und Plat du Jour von möglichst reizlosen Bar Tabacs. »Kein Schnickimitzi, ehrliches Essen, und bezahlbar«, erklärte er einer immer noch zutiefst betrübten und aufgewühlten Pauline. Sie warteten im kühlen Wind eines betagten Standventilators auf ihr 16 -Euro-Dreigang-»Menu Midi« des Le Marbeuf.

Perdus Vater verzehrte seine eiskalte Gazpacho schweigend, während Pauline detailreich und empört berichtete.

»… und der liest bestimmt nie, und deswegen ist er unglücklich, und wo soll ich meine Ausbildung …«

»Deine Suppe wird warm«, sagte Albert Perdu und wies auf ihren unberührten Teller.

»Ich kann nicht!«

»Probier erst mal«, verlangte Perdus Vater, »und zwar ganz in Ruhe. Konzentriere dich auf den Geschmack, überleg dir, woher die Tomaten wohl kommen und wie es da aussieht, schau im Lokal herum, setz dich gerade hin … so … ausatmen … und jetzt essen wir. Alles hat seine Zeit.«

Gehorsam tauchte Pauline ihren Löffel ein und aß.

Auch während des Steak-Frites und dem anschließenden Mirabellensorbet beharrte Perdus Vater darauf, zu essen und sich maximal über Präsident Hollande und die Frisuraffäre auszutauschen – »Ich meine, über neuntausend Euro im Monat, wie viel ist das wohl pro Haar?«, und über den Beginn der Fußballweltmeisterschaften, und über Coco, den Leger in Joaquim Albert Perdus Pétanque-Mannschaft, der auch Rücken hatte und ausgerechnet im Semifinale nicht zur Verfügung stehen wollte, was sollte das bloß, war Rücken jetzt chic?

Erst als die Espressi serviert wurden, in heißen weißen Tassen, er genippt und »Ahhhh« gesagt hatte, forderte er Pauline auf: »So. Und nun erzähl mal, was dich beschäftigt.«

Wie oft Jean Perdu diesen Satz als Junge gehört hatte: Erzähl mal, was dich beschäftigt. Sein Vater hatte nie mit Spott oder Ungeduld reagiert oder Sätzen wie »Und deswegen regst du dich auf?« oder »Stell dich nicht so an« oder gar »Du musst dich halt durchsetzen lernen!«.

Wie viele Jungen wohl das Glück eines solchen Vaters hatten?

Hmhm, machte Vater Perdu, soso, knurrte er, und was hat Le Roy dann genau gesagt, also ganz genau? – aha!, rief er.

»Der nette Herr Brigadier hat also den Auftrag bekommen, für einen freien Liegeplatz zu sorgen. Für ein mittelgroßes Taschengeld, vermutlich.«

»Dachte ich mir auch schon«, murmelte Perdu.

»Was? Aber wieso denn?« Pauline war ehrlich verdutzt.

»Weil bestimmte Leute keine Lust haben, fünfzehn, zwanzig, dreißig Jahre zu warten, bis freundlicherweise mal ein Hausboot sinkt oder der Besitzer eines Betriebsschiffes das Zeitliche segnet. Die Parkplätze auf den Wassern von Paris sind begrenzt. Und solche Sahnestücke wie im Champs-Élysées-Hafen sind rar und begehrt – vor allem, wenn man was zu verkaufen hat, das Geld bringt, und nicht gerade Bücher …«

»Na hör mal!«

»Was denn? Reich bist du ja nicht, du hast deinem armen alten Vater jedenfalls keinen Rennwagen vor die Tür gestellt.«

»Was willst du denn mit einem Rennwagen in Paris?!«

»Und nicht mal Schickermoos krieg ich …«

»Könnten wir zurück zum Ausgangspunkt?«, bat Pauline.

»Ich hör mich mal um«, versprach Joaquim Albert. »Cocos Ersatz, den er uns geschickt hat, ist irgendwas in irgendeinem Ministerium. Er ist ein ganz begabter Leger so weit, na ja, ein junger Kerl, nicht mal sechzig, der muss noch viel lernen.«

»Klar«, machte Perdu. »Quasi minderjährig.«

»Sheesh, ihr seid cringy«, sagte Pauline, lächelte aber dabei.

Später, auf dem Bücherschiff, wiederholte sie die Frage.

»Aber was machen wir denn jetzt bloß?«

Perdu überlegte. Dachte an die boshafte Verachtung des Brigadiers. Ein Nichtleser. Und er dachte an den dicken, kleinen Emile. Ein Nichtmehrleser. Der spürte, dass ihm etwas fehlte. Nur nicht wusste, was. Solche Leute brauchten ihn. Damit er ihnen das Leben ausbesserte, hier und da ein Balsam, ein Pflaster, ein Stock, an dem man sich aufrichten kann.

Und er dachte an Saramago. Um etwas kämpfen.

Dann war es jetzt also so weit. Und er würde kämpfen.

Auf seine Weise.

Also antwortete Jean Perdu entschieden: »Weiter.«

Der Nichtlesende Mensch

Der Nichtlesende Mensch ist eine faszinierende Form der Menschlichkeit. Es kann allerlei Gründe haben, dass jemand zeitweise oder auch sein Leben lang nicht liest, keinen Roman, keine Lyrik, nicht mal ein populäres Sachbuch. Lassen Sie mich Ihnen eine Handvoll Archetypen der Nichtlesenden vorstellen.

 

Die Beschäftigten: Es kann die Zeit sein, die unter den Fingern verbrennt. Gerade im Übergang von Teenager zum jungen Erwachsenen Ende zwanzig: Man hat einfach zu viel damit zu tun, sich ein Leben zu basteln und am Leben der anderen teilzunehmen, das abendliche Buch ist maximal bei überraschender Grippe eine Alternative. Irgendwann dann der Wiedereinstieg, meist dann, wenn das WLAN ausgefallen ist oder der Liebeskummer brüllt.

 

Die Ungeübten: Oft ist es auch der Mangel an Gewohnheit. Denn natürlich ist Lesen Übungssache; das Gehirn war nie dafür gebaut, sich Sprache erst auszudenken, dann Symbole, diesen Symbolen und Buchstaben Bedeutung, Assoziation, Philosophie einzuhauchen, um sie dann in andere Gehirne zu injizieren, die sich, wenn ungeübt, restlos überheben. Bücher werden fortan als Verspottung der eigenen Fähigkeiten empfunden. Anstrengend.

 

Die Unfreiwilligen: Sehr behutsam umzugehen ist mit den unfreiwillig Nichtlesenden. Sie wollen. Sie können nur nicht. Die Augen werden trüb, das Gehirn ist aufgrund von Medikamenten durcheinander, das Zittern der Hände verwandelt Buchstaben in Suppe, die innere Rastlosigkeit, Traurigkeit, Trauer, Liebeskummer, Gehetztheit lassen keinen Raum für Konzentration über mehr als eine halbe Seite. Hier benötigt es eher pragmatische Lösungen – das Hörbuch, den Großdruck, die Buchstütze, das per Stimme steuerbare E-Book und den Leseauftrag, es am Morgen mit maximal einer Seite zu versuchen, mehr nicht, noch bevor ein anderes Gerät angeschaltet wird.

Wie mit Trauernden umzugehen ist, die sich dem Buch widersetzen, weil es Gefühle überhaupt erst produziert – dieses Aas! –, ist ein eigener Fall für sich; hier haben wir es mit literarischer Notwehr zu tun, davon wird noch zu sprechen sein.

 

Der Hohle: Dieser Nichtlesende Mensch kann auch aus einem weiteren Grunde wirklich nichts mit dem Lesen anfangen – er will es nicht. Er ist desinteressiert an einer Zwiesprache. Was soll ihm oder ihr ein Buch eines fremden Menschen etwas erzählen über sich, was er selbst noch nicht weiß, he? Oder über die Welt? Die kann man sich auch selbst angucken.

Denn meist hat dieser Mensch bereits eine Vorstellung davon, wer er oder sie ist, wie die anderen sind, und das muss reichen. Wer (sich selbst) nicht liest, der wird von dieser Welt unwissend verschwinden und sich niemals mit sich selbst vertraut gemacht haben – man lebte, ohne es zu bemerken. Das sind tragische Nichtlesende Menschen, die sich selbst nie kannten, die an anderen wenig Interesse haben, die nie durch Türen gegangen sind aus Furcht, auch Desinteresse, aus Überheblichkeit.

Sie sind oft voller Kummer und Bitterkeit, Zynismus und Gehässigkeit, löchrigen Phrasen und Zielstrebigkeit, die aus Mangel an Zweifeln entsteht; manche von ihnen leiten Länder und Unternehmen, und schön ist das nicht.

 

Der Enttäuschte: Er liest nicht mehr, weil er nicht mehr an die Kraft der Kunst glaubt. Er hasst das lyrische Waldgedicht dafür, dass es den Klimawandel nicht aufhält. Er verachtet den Roman über Krieg, weil damit kein einziger verhindert würde. Er schafft es nicht mehr, die Emphase, die Selbsterkenntnis im Lesen anzuerkennen – denn würden die Menschen dann nicht immer besser statt immer rabiater, mieser, kleinkarierter zu werden? Der Enttäuschte ist ent-liebt, einst war alles möglich, mit und durch Bücher, mit und durch Kunst. Er hat alles von ihr erwartet und erhofft und wurde durch sich selbst und durch das Gebaren der Menschen, der Gesellschaften, der Politik oder einer vergifteten Beziehung enttäuscht, aufs Kälteste.

 

Und ganz selten ist das noch der Nicht-mehr -lesende Mensch. Den fürchtet es. Dass er in Büchern auf einen Schmerz trifft; den des Verrats, der Gewalt, des Verlassenseins. Der sich fürchtet davor, zu erfahren, dass der Mensch beides ist: gut und böse. Belehrbar und unbelehrbar (siehe oben). Getrieben und desinteressiert. Verlogen und grauenhaft ehrlich. Diese durchlässigen, porösen, anfassbaren Menschen fürchten sich, auf Messer, Beleidigungen, Abgründe, Familien wie die ihrigen, Hilflosigkeit wie die ihrige, Abwertung wie jene, die sie erfahren haben, in Büchern zu stoßen, an sich und der Menschheit zu verzweifeln. Es fasst sie so viel an.

 

Ein Buch richtet sich stets an das Innere, stellt Fragen und lebt mit dem Lesenden in die Antworten hinein. Der Nichtlesende Mensch aber ist es oft gewohnt, sich an das Äußere zu wenden, um Antworten zu bekommen. Sich selbst als Anker wahrzunehmen: Das ist ihm unbekannt.

Und deswegen ist mit Nichtlesenden und mit Nicht-mehr-Lesenden behutsam zu verfahren; es gibt keinerlei Anlass, sie zu bedauern, zu demütigen oder gar mit Argumenten zur Einsicht und Lektüre zu zwingen. Sie müssen langsam daran gewöhnt werden, dass das, was sie sehen und meinen und denken, außen wie innen, dass dies nur der allerkleinste Teil der möglichen Welt ist. Und alles vielleicht ganz anders. Sogar sie selbst.

 

Wie Sie wissen, interessiert sich auch die Heldin am Anfang überhaupt nicht für ein Abenteuer. Und schon gar nicht dafür, ihr altes Selbst gegen ein unbekanntes, neues auszutauschen. In jeder Heldenreise muss ein Auslöser her, etwas, was als »der Ruf« bezeichnet wird.

Was mag der Ruf jenes Menschen sein, der vor Ihnen steht? Wohin zieht es sie oder ihn?

Ich weiß, dass Buchhändlern genauso viel oder genauso wenig Luzidität wie jedem anderen Menschen mitgegeben wurde. Was Sie aber haben, sind Figuren in sich. Prototypen von Qual und Sehnsucht, Charaktere all der Bücher Ihres privaten und Ihres Berufslebens. Nutzen Sie dieses Wissen schamlos aus. Was wissen Sie über Darcy? Dracula? Die Traurigkeit von Frankensteins Monster? Jekyll und Hyde? Es ist der Beobachtungsgabe der Schriftstellerinnen und Dichter zu verdanken, da sie die Menschlichkeit und ihre individuellen Ausbrüche studierten und auf Essenzen verdichteten, die Ihnen nützlich sind: Sehen Sie Ihre Kundinnen und Kunden als Romanfiguren, die mitten in ihrer Heldenreise stecken.

 

Aus: Große Enzyklopädie der Kleinen Gefühle . Handbuch für Buchhändlerinnen, Buchhändler und andere Literarische Pharmazeuten, Kapitel N.