S echshunderttausend. Das war die Zahl der Bücher, die in der oberirdischen, aber vor allem in der unterirdischen Bibliothek der Assemblée Nationale im Palais Bourbon lebten. Und was für Bücher: die Protokolle des Prozesses gegen Jeanne d’Arc. Handgeschriebene Bekenntnisse von Rousseau. Eine Karolingerbibel aus dem Jahr 850 . Ein aztekischer Pflanzenkodex. Das Tagebuch eines Schiffslotsen von 1512 , der acht Jahre von Afrika bis China fuhr. Die von Robespierre kommentierte erste Verfassung, unveröffentlichte Papyrus-Manuskripte von Denkerinnen, Denkern, Politik … all das erzählte Perdu Pauline auf dem kurzen Weg über die Brücke Alexandre III Richtung Quai d’Orsay und in die erstaunlichste und vertraulichste Bibliothek Frankreichs. Die nur an zwei Tagen im Jahr der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde – und nur der oberirdische Teil, in seinem sakral anmutenden Säulen-Kuppelbau, dessen gewölbte Decken von Delacroix-Gemälden der Sixtinischen Kapelle gleich geschmückt waren. »In den oberirdischen Regalen sind die Werke der sechs wichtigsten Wissenschaften enthalten: Geistes- und künstlerische Wissenschaften, Recht, Philosophie, Theologie, Forschung – und Literatur und Poesie.«
»Und in den unterirdischen?«
»Das ist die Frage«, sagte Perdu. »Ich bin das erste Mal dort. Genau wie du.«
»Haben wir einen Plan? Wer ist good cop, wer bad cop?«
»Wir sind einfach so, wie wir sind.«
»Sheesh! Das soll ein Plan sein?«
»Es ist der beste, immer.«
Und dann schwiegen sie und versuchten, nicht zu viel beim Gehen zu schwitzen, und blieben versunken in Gedanken – Perdu dachte an das raffinierte rote Kleid, in dem Catherine zur Vernissage ging. Und er dachte an Ingeborg Bachmann, die schrieb, vom Sinne her: Ich verliere nicht dich, ich verliere die ganze Welt . Perdu dachte an seine einstige Unfähigkeit, die posthum und spät veröffentlichten, heimlichen Briefe zwischen dem Lyriker Paul Celan und Ingeborg Bachmann zu lesen, als sie beide noch jung und vollkommen unbekannt waren; zu vieles schrie damals in ihm nach der unerreichbaren Manon.
Sie sagten sich Dunkles und Helles.
Es ist Zeit.
Pauline dachte an ihre Mutter Diana, die es nicht verstehen wollte, dass ihre jüngste Tochter eine Ausbildung zur Buchhändlerin machte, einen Beruf, dem sie mit Misstrauen begegnete – was verdiente man da bloß? Und guckten die Leute nicht eh lieber Netflix? –, und dass Pauline ihr gern erzählt hätte: Ich fühle mich darin zu Hause, hörst du, zu Hause.
Mein Leben ist ein Gedicht, an dem mein Tod lange schreiben wird, und ich werde ihn überraschen mit Wendungen, die sich nicht reimen.
Es ist Zeit, Maman. Es ist Zeit.
Sie wurden erwartet. Monsieur Bovary hatte neben dem Haupteingang an Quai d’Orsay No 33 Stellung bezogen, mit artig vor dem Bauch gefalteten Händen. Er trug wieder einen Dreireiher. »Schön, schön«, sagte er, nickte dem Concierge zu, der weder nach Personalien fragte noch überhaupt ein bewegtes Gesicht machte. »Besser, Sie tragen die hier unterwegs«, sagte Monsieur Bovary und händigte ihnen zwei Namensschilder aus, die sie als berechtigte Besucherinnen des von Militär, Polizei und Feuerwehr gesicherten Areals der Nationalversammlung auswies.
Auf dem einen stand »Victor Hugo«, auf dem anderen »Françoise Sagan«.
Monsieur Bovary sah sehr zufrieden mit sich aus.
Niemand schaute jedoch ihre Schilder an, während sie mit Monsieur Bovary durch die Eingangshalle und den daran anschließenden Festsaal gingen; lautlos auf einem endlos langen orientalischen Teppich.
An einem Fenster zum Garten angelangt, öffnete Bovary eine Tür zwischen zwei Büsten – Jean Jaurès und Albert de Mun – und fragte in den Raum dahinter: »Können wir?« Daraufhin kamen zwei Männer mit Hunden aus der Tür, nickten und salutierten ihm schweigend.
»Unsere Hundestaffel«, sagte Monsieur Bovary entschuldigend. »Mit einem Näschen für Explosives«, schob er nach, als er Perdus und Paulines ratlose Mienen bemerkte.
»Nehmen wir die Abkürzung, ja?«
Die Abkürzung stellte sich als der halbrunde, fast zweihundert Jahre alte Plenarsaal heraus.
Zielsicher marschierte Bovary durch das Auditorium voran, an den jetzt leeren roten Klapp-Samtstühlen der Deputaten vorbei, den Theaterlogen und Marmorsäulen, dem überwältigenden goldenen Kuppeldach mit dem Lichthalbrund. Der Raum war voller angehaltenem Atem, als wartete er auf die nächsten Entscheidungen, die die Erde beben ließen. Oder auch nicht.
Sie passierten zwei weitere Säle, und nach der Büste der Marianne öffnete Bovary eine verglaste alte Tür.
»Oh. Oh, wow. Haben … haben wir einen Augenblick?«, fragte Pauline, als sie die 220 Jahre alte Bibliothek betraten.
Bovary sah auf die Uhr. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, können Sie bitte danach noch eine Weile verweilen.«
Sehnsüchtig schaute Pauline auf das Kirchenschiff voller Bücher. Die Bibliothek war sicher über vierzig Meter lang und zehn Meter hoch, und die Gewölbedecken trugen die Delacroix-Malereien – ihr Blick blieb an »Recht & Eloquenz« hängen. Fast genauso hoch waren die Regale, und in der Mitte des Raumes standen quadratische Tische mit grünen Leselampen. Viele der Eichenholzregale mit Büchern waren mit Glas verschlossen, an manchen lehnten Leitern, vor anderen standen kleine Arbeitstische, in der Mitte funzelte eine alte Pariser Straßenlaterne. Es war tiefe, alte Ruhe in diesem sakralen Raum, einer Kirche voller Bücher, und Perdu sah, wie sich auf Paulines nackten Unterarmen die Härchen aufstellten. Ihm erging es nicht anders.
Monsieur Bovary ging zielsicher auf eines der Regale zu, kramte in seiner Tasche, und auf einmal schwang das Buchregal auf und offenbarte sich als Tür.
»Sie verzeihen, wenn ich vorgehe?«
Perdu und Pauline folgten Bovary in den Geheimgang auf einer nach rechts gewundenen engen Treppe immer weiter nach unten, während er leichthin erwähnte, dass sich hinter den abgehenden Türen fünf weitere Etagen mit Büchern unter der Bibliothek befänden … aber sie gingen an allen vorbei, bis sie vor einer massiven Tresortür standen.
Sie war weit offen.
Und die zweite, direkt dahinter – ebenfalls.
Der geheime Tresor der Bibliothek.
Er stellte sich als recht funktional heraus, weißhelle Oberlichter, ein beständiges zartes Rauschen der Klimaanlage und vor ihnen eine lange Reihe von fahrbaren Rollregalen aus massivem Edelstahl. Drehräder an den Außenkanten ließen die Regale sich lautlos auf Schienen bewegen.
»Ich weiß, ich weiß«, sagte Monsieur Bovary bedauernd, »man stellt sich hier unten immer die Bibliothek von Kapitän Nemo vor, nachdem man durch die oberen Räume gegangen ist. Aber der Tresorraum hat mehrere Vorteile: Es ist wirklich unmöglich, die hier lagernden siebentausend wertvollsten Bücher der westlichen Welt zu stehlen. Und zweitens: Er ist absolut abhörsicher.«
»Ach ja«, sagte Perdu. »Wirklich sehr vorteilhaft.« Vor allem bei Selbstgesprächen.
»Nicht wahr? Schön, schön, dann überlasse ich Sie jetzt mal Ihrer Tätigkeit.« Monsieur Bovary deutete auf einen einfachen weißen Plastiktisch, an dem drei Stühle warteten.
»Es macht Ihnen doch nichts aus, wenn ich die Tür schließe?« Er deutete auf die über dreißig Zentimeter dicken Stahlportale.
»Solange Sie nicht abschließen und uns über den Juli hier drin vergessen …«
»Das wäre insofern von Nachteil, als ich am 14 . die Parade abnehmen muss«, ließ sich eine Stimme aus der Gasse hinter den Rollregalen hören. Dann trat der zugehörige Mann hervor, groß, Brille und mit sehr gepflegter Frisur.
»Monsieur le Président«, sagte Monsieur Bovary, neigte den Kopf leicht, ging gemessenen Schrittes aus der Kammer und zog, wie versprochen, die Tür hinter sich zu.
Stille.
»Ich bin froh, dass wir uns endlich kennenlernen, Monsieur Perdu«, sagte der französische Staatspräsident und reichte ihm eine weiche, erstaunlich griffige Hand. »Und Madame Lahbibi, natürlich, ich habe schon viel von Ihnen gehört.«
»Ach du liebe Güte«, entwich es Pauline. »Das macht mir jetzt Sorgen. Wenn andere etwas über einen erzählen, ist es nie nur das Großartige, es gibt immer ein Aber, und dann kommen die peinlichen Sachen.«
Der Präsident lächelte. »Ich weiß genau, was Sie meinen. Setzen wir uns?«
Höflich rückte er Pauline den Stuhl zurecht, setzte sich Perdu und ihr gegenüber und legte die Hände wie zum Gebet verschränkt vor sich auf den Tisch. »Nun ja. Da wären wir also. Wie … wie fangen wir an? Gibt es so eine Art … Untersuchung?«, fragte er.
Ja. Ich klopfe mit einem Hämmerchen Ihren Kopf ab und murmele dabei oh, oh und hm, hm. »Erzählen Sie einfach, was Sie gerade beschäftigt«, antwortete Perdu stattdessen.
Tiefes Ausatmen. »Nun gut.« Der Präsident sprach zur Tischplatte, als er begann: »Wie Sie wissen, bin ich kein guter Leser. Ich kann mir keine Zitate merken und keine Titel. Ich bin nicht mal Autor, so wie alle Großen vor mir. Und ich weiß, dass die Nation mir diesen Mangel an … nun ja … literarischen Tätigkeiten überaus übel nimmt. Nicht nur das, das ist mir klar. Aber dieses Defizit besonders. Frankreich hat sich stets über das Wort identifiziert.«
Der Präsident sah auf und Perdu an, als ob dieser jetzt etwas sagen sollte. Stattdessen kaum Pauline ihm zuvor.
»Was haben Sie denn als Kind gern gelesen?«
»Als Kind?!« Er musste nachdenken, so als ob er sich nicht sicher war, ob er jemals ein Kind gewesen war. »Das Übliche, schätze ich. Und Bandes Dessinées – na ja, aber das ist ja keine Literatur.«
»Sheesh«, murmelte Pauline.
»Pardon?«
»Was Madame Lahbibi so treffend und übersichtlich kommentiert hat, ist, dass Bandes Dessinées natürlich Literatur sind. Und eine sehr französische dazu. Es ist ein Ausdruck eines sehr, sehr wichtigen Teils der Nation und des französischen Kulturverständnisses.«
»Ach?«
Jetzt sah der Präsident aus wie ein Schuljunge, der unverhofft die Gelegenheit bekommt, Geheimwissen zu erfahren.
»Der Jugend. Des Frankreichs von morgen. Und viele Erwachsene lesen und sammeln Bandes Dessinées ihr ganzes Leben lang. Es ist die Anerkennung der kleineren Künste; sie haben genauso Platz in der französischen Demokratie wie die großen. Bandes Dessinées sind immer der Spiegel der Veränderung, aber auch immer Spiegel des Bleibenden. Modernität und gleichzeitig Tradition. Frankreich ist eines der wenigen Länder Europas, in denen Vielfalt die Einheit bildet.«
»Wieso hat mir das keiner gesagt?«
»Vielleicht, weil Sie nicht gefragt haben?«
»Musste ich nicht, die meisten, die ich kenne, schauten auf Comics herunter, das war mir dann schon klar … aber es ist offenbar nicht zutreffend.« Unglücklich starrte Monsieur le Président vor sich hin. »Sehen Sie, und genau das ist das Problem: Weil ich mich nicht auskenne, bin ich sehr leicht zu verunsichern. Der eine sagt: Lies Finkielkraut! Der andere sagt: Bloß nicht.«
»Ah«, murmelte Perdu. »Die kanonische Verunsicherung.«
»Die was?«
»Kanonische Verunsicherung. Erlauben Sie mir, offen zu sprechen?«
»Deswegen habe ich Sie hierhergebeten. In der Hoffnung, mit jemandem über dieses sensible Thema vollkommen offen zu sprechen. Ohne zu befürchten, Sie möchten sich einschmeicheln oder es später gegen mich verwenden.«
»Und woher wissen Sie, dass ich das nicht vorhabe?«
»Weil Sie genau diese Frage stellen.« Zufriedenes Lächeln.
»Monsieur le Président: Gerade wenn man liest, sind nur der eigene Verstand, die eigenen Vorlieben, entscheidend. Kein Kanon. Keine Regeln. Kein ›Das liest man aber nicht‹.«
»Das gilt sicher nicht für französische Präsidenten, Monsieur Perdu. Da unterliegt alles einer Bewertung, und ich kann mir nicht mehr viele Fehler leisten! Stellen Sie sich vor, ich würde jemanden zitieren, von dem mir eine Verfehlung nicht bewusst ist, ein Kontext …«
»Sehen Sie, und auch das ist kanonische Verunsicherung. Wenn Sie zu sehr damit beschäftigt sind, anderen zu gefallen, was Ihr Beruf natürlich mit sich bringt, verlieren Sie aber etwas, das Sie genauso brauchen, um zu gefallen.«
»Und das wäre?«
»Eigen-Artigkeit«, sagte Perdu sorgfältig betonend. »Sie können es Authentizität nennen, Charakter, Persönlichkeit oder Stärke, oder …«
»Ich denke, ich habe begriffen, was Sie meinen.«
»Gut. Geben Sie nicht der Versuchung nach, sich von vermeintlichen Bestimmern der Literatur verführen, beugen und verunsichern zu lassen. Und lesen Sie Finkielkraut, lesen Sie Comics, lesen Sie Anna Gavalda, Sie müssen nicht mal darüber reden, was Sie lesen …«
»Und Leïla Slimani, wenn Sie was über die Leute der Straße wissen wollen. Und Muriel Barbery«, warf Pauline ein.
»Wäre es möglich, dass Sie mir eine Leseliste zusammenstellten?«
»Möglich ist alles. Es wäre aber nur ein Anfang. Wissen Sie, was Sie ohne mich und ohne alle machen können? Völlig allein, ohne dass jemand Ihnen hineinredet, nicht mal ich, der seine wilden Vorstellungen hat, wie er einem Mann wie Ihnen das Selberlesen beibringt?«
»Nun?«
»Sie haben die erstaunlichste Bibliothek Frankreichs gleich hier über unseren Köpfen. Gehen Sie mit geschlossenen Augen an einem Regal entlang, tippen auf ein Buch und lesen es an. Vielleicht lesen Sie es zu Ende. Aber Sie müssen nicht.«
»Ich muss ein Buch nicht zu Ende lesen? Aber …«
»Sheesh! Kennen Sie denn nicht die Verfassung des Lesenden? Jeder hat das Recht, zu lesen, jeder hat das Recht, ein Buch nicht zu Ende zu lesen.«
»Das war mir so nicht bekannt.«
Schweigen, das in Klimaanlagensummen plumpste und sich zäh verflüssigte.
»Wissen Sie, ich denke oft daran, wie viele Jahre ich noch lebe. Und wie viele Bücher ich noch lesen kann. Es sind vielleicht achthundert, neunhundert, aber nur, wenn ich eines pro Woche schaffe … was ist, wenn ich das Buch verpasse, das vielleicht alles ändern würde?«
»Kein Buch ändert alles«, sagte Perdu leise.
»Es kommt mir trotzdem zu wenig vor. Wie hätte ich nur mehr Zeit zum Lesen?«
Beim Friseur liest es sich ganz hervorragend, dachte Perdu, behielt das aber wohlweislich für sich.
Ein diskretes Brummen aus der präsidialen Hosentasche. »Sie verzeihen, dass ich unser Gespräch beenden muss«, sagte der Präsident nach einem Blick auf seinen digitalen Terminkalender. »Ich wünschte, wir hätten mehr Zeit.«
Die Zeit ist immer im selben Maß vorhanden, dachte Perdu. Wir können sogar entscheiden, wie wir sie verbringen, wenn wir uns nur öfter trauen würden.
»Sie sind stets herzlich willkommen in der Literarischen Apotheke«, sagte Perdu, und er meinte es so.
»Solange es sie noch gibt …«, murmelte Pauline.
»Ich verstehe nicht …?«
»Ach«, wiegelte Perdu ab. »Kleinkram. Behörden. Sie kennen das.«
»Vermutlich auch nicht«, sagte der Präsident kummervoll und stand auf. Er umfasste Perdus Hand nun mit beiden Händen.
»Ich danke Ihnen, Monsieur Perdu.«
Lautlos öffnete sich die Tresortür, und aus dem Schuljungen, der gern Comics liest, wurde wieder ein Präsident, und dieser entschwand.
Pauline und Perdu wanderten zusammen an der Seine entlang, Richtung Metro-Station Châtelet. Dort wollte Pauline einen der Vorortzüge nehmen, »Direktverbindung vom Präsidenten ins Prekariat in unter fünfunddreißig Minuten. Dabei hat man sogar Zeit zum Lesen. Ob ich ihm das hätte sagen sollen?«
Sie waren voll mit Gedanken, die zu groß waren, um in kleinen Worthülsen untergebracht zu werden. Die oberirdische Bibliothek hatte sie beide entzückt und nach und nach mit Panik ausgefüllt: So vieles, was man nicht weiß. So wenig, was man tun kann, um eine Welt, eine Gesellschaft zu verändern. So dringend der Wunsch, aufs Klo zu gehen, diese Ungeduld, dass sich der Körper egoistisch vordrängelt, statt dass man in Ruhe in panisches Entzücken ausbrechen kann.
»Weißt du«, begann Pauline, als sie die Pont Neuf querten, den Paaren ausweichend, die den besten Winkel für ein Selfie suchten und sich deswegen anblafften, bevor sie wieder mit strahlendem Lächeln posierten. »Weißt du«, begann sie noch mal, sie suchte die Fähigkeit zusammen, viel langsamer sprechen zu müssen, als man denken kann, »was seltsam ist. Und traurig und schön gleichzeitig.«
»Verliebte Flusspferde im Regen?«
Zerstreutes Lächeln. »Nein … seltsam ist: Da musst du erst einen Buchhändler in einen Keller locken, damit du in dir findest, wer du schon immer warst. So als ob es für jeden Menschen da draußen einen gibt, der einem beisteht, dich zu finden. Ohne den geht’s aber nicht. Du bist blind und läufst immer an dir vorbei.«
Sie sahen schweigend der Podest-Performerin zu, die bewegungslos und als Freiheitsstatue in Silber angepinselt am Fuße der Pont Neuf ausharrte.
»Ein Schlüssel aus Mensch, zu einer Tür, von der du nicht wusstest, dass sie existiert«, murmelte Pauline.
Sie wanderten weiter, wichen Touristen aus, die vor lauter Paris das Trottoir nicht mehr sahen, bis sie bei Châtelet-Les Halles angekommen waren. Menschen, die zu Flüssen wurden, aus dem Untergrund nach oben strömten und abwärts unter die Erde.
Jeder ein Schlüssel. Jeder mit einer verborgenen Tür.
»Bis morgen, Schlüsselmeister«, sagte Pauline und sprang in den nächstbesten Fluss, der sie mit in den Tunnel spülte.
Perdu ging mit Watte im Kopf weiter, und erst als er schon fast da war, mitten auf dem Place des Vosges, lichtete sich der Watteknoten: Er war in die Richtung der Rue de Turenne gelaufen. In Richtung der Galerie. Dort, wo Catherine in einem roten Kleid im selben Jetzt war wie ihr Ex-Mann, mit einem Glas Champagner in der Hand – oder Wasser – und etwas überprüfte, das nur sie anging.
Und er stand dabei die ganze Zeit vor einer Tür und benutzte sie nicht. Weil er in dieser Sache zu oft in die falsche Richtung geguckt hatte: zurück in die Lücke. Anstatt nach vorne.
»Himmel, bin ich blöd!«, sagte Perdu laut, so laut, dass zwei Damen auf einer Bank zusammenschraken und dann begannen, ihn haltlos auszulachen.
1 . Jeder Mensch ist vor einem Buch gleich.
2 . Jeder Mensch hat das Recht, zu lesen.
3 . Und zwar wo er will und wie er will; Umberto Eco rät Menschen, die sich ans regelmäßige Lesen gewöhnen müssen, auf dem Klo damit zu beginnen; erstens sei man da allein und zweitens seinem Inneren sehr nah. Alberto Manguel plädiert für Küche oder Dachboden, und von so manchem Feuilleton-Kritiker ist zu vernehmen, er oder sie lese nur ordentlich angekleidet, aufrecht sitzend am Schreibtisch die zu rezensierenden Werke; nur private Lektüre sei im Bett erlaubt. Grundsätzlich ist es überall erlaubt, gewarnt sei hier der Form halber vor Badewannen (nass), beim Kochen (Fettfinger) oder der Achterbahn (Lesebrillenverlustgefahr). Und es sei der Hinweis erlaubt, dass Leselampen nicht zu grell sein sollten, lesende Augen mögen Halbschatten.
4 . Jeder Mensch kann Kapitel überspringen, ein Buch mehrmals lesen, hinten nachschauen, ob es gut ausgeht, und sowieso vor- und zurückgehen, wie es ihm gefällt.
5 . Kein Buch muss zu Ende gelesen werden. Leistungsbestreben oder Schuldgefühle sind ehrenwert, doch schlimmer ist es, ein Buch frech anzulügen, dass man es mag, wenn man eigentlich längst darauf verzichten kann.
6 . Jeder Mensch darf keine Lust, Drang, Interesse am Lesen (mehr) haben. Jeder und jede hat das Recht auf sein eigenes Unglück und auch das eigene Glück.
7 . Es darf jedes Buch gelesen werden. Es hat niemand über die Lektüren des Lesenden zu urteilen.
8 . In eigene Bücher darf gekritzelt, notiert, unterstrichen, angemarkert und hineingekrümelt werden.
9 . Lesezeichen entziehen sich jeglicher Bewertung. Eingeknickte Ecken sind kein Ausdruck eines niederen Charakters; Bücher wollen benutzt, angefasst, absorbiert werden in Alltag und Sein. Dazu gehören getrocknete Gräser, Fahrscheine, Postkarten, Bons, Geldscheine längst nicht mehr gültiger Währungen.
10 . Man muss geschenkte Bücher nicht loben.
11 . Niemand muss über seine Lektüren sprechen.
12 . Bücher, die vielen gefallen, gefallen nicht jedem.
13 . Wer viel liest, ist nicht mehr wert als jemand, der wenig oder gar nicht liest.
14 . Kritiken und Rezensionen sagen mehr über den Verfasser und die Verfasserin aus als über das Buch.
15 . Was der Autor oder die Autorin meinte, hat selten etwas mit der Interpretation im Unterricht zu tun.
16 . Es darf geweint, gelacht, geschwiegen oder geärgert werden, denn das Buch ist der Ort der vollkommenen Freiheit.
Aus: Große Enzyklopädie der Kleinen Gefühle . Handbuch für Buchhändlerinnen, Buchhändler und andere Literarische Pharmazeuten, Kapitel V.