Kapitel 29

D er Juli kroch unvermindert heiß voran, und Perdu brachte eine leichte, dennoch windstabile rotblaue Markise an der Kai-Seite an, sodass sich Flanierende beim Stöbern in der Bücherkiste in den Schatten retten konnten. Oder sitzen: Jean stellte auch gleich noch eine Bank dazu, rechts und links kleine Klappbretter, die man hochstellen, festhaken und ein Buch oder ein Glas Limonade darauf abstellen konnte.

»Aber die Bücherkiste … wird uns da nicht was geklaut?«

»Diebe lesen nicht«, konstatierte Perdu. »Und wenn, ist es hoffentlich ihrem Gemüt zuträglich.«

Neben der Bank war außerdem ein Napf mit Wasser, für Merline und jeden Hund, der vorbeigetrottet kam.

»Wenn mir schon Sonderanbauten vorgeworfen werden, möchte ich sie auch haben«, erklärte Perdu Pauline, die jede Stunde beklommener auf den Moment wartete, in dem ihnen ein Einschreiben auf das Bücherschiff flatterte und die Stilllegung angeordnet wurde.

Sie versuchte sich damit abzulenken, dass sie die Begegnung mit dem Präsidenten hin- und herwendete, und ihre Liste der zu lesenden Bücher nahm kein Ende.

»Und können wir nicht jedem neuen Präsidenten Bücherlisten schicken? Sollte es überhaupt erlaubt sein, einem Staat vorzusitzen, wenn man nicht aus jedem Land dieser Erde mindestens zehn oder besser fünfzig Bücher gelesen hat? Und Gedichte, warum gibt es keine Parlamentspoetin, die vor jeder Plenarsitzung erst mal den gesamten Laden mit einem Slam zusammenstaucht?«

Pauline war schier entfesselt von dem Funken, dass Politik um so vieles menschenfreundlicher wäre, würde doch bloß mehr gelesen!

Perdu würde Pauline jetzt nicht damit behelligen, dass sich für viele Menschen wenig an ihren täglichen Ängsten und Sorgen ändern würde, egal, wer regierte; erstens, weil auch das nicht ganz stimmte, zweitens, weil er an Sorgen dachte wie ein wehes, scheues Herz. Oder das Altern der Eltern. Oder den täglichen unbestimmten Groll gegen sich selbst, sich verlaufen zu haben in Pflicht und mit Menschen, die einem fremd blieben, oder dass der Blick in den Spiegel nicht anmutiger wurde, egal, ob es einen Mitterrand, Chirac, Hollande oder wen auch immer geben würde …

»Wie wäre es«, hatte Perdu geantwortet, »wir fegen die Treppe nicht von oben. Sondern wir bauen von unten eine neue. Das hier« – er hielt die Bücherreisepässe hoch – »ist ein guter Anfang. Lass uns damit weitermachen, vielleicht schreiben wir unserem neuen präsidialen Freund, dass jedes Kind unter sechzehn jedes Jahr ein Buch geschenkt bekommen soll. Egal, welchen Pass es hat. Und es darf sich jedes aussuchen. Kein Kanon. Und jeder Jugendknast kriegt eine Bibliothek.«

»Deal«, sagte Pauline.

Während Pauline sich daranmachte, ein Schreiben zu entwerfen, dachte Perdu an Catherine, die mit ihren Schuhen in der Hand und barfuß spät in der Nacht in die Wohnung gekommen war.

»Wie war die Vernissage?«, hatte er gefragt, und sie hatte geantwortet: »Bestimmt toll. Aber ich war nicht da. Ich war auf dem Weg, aber dann wurde mir klar, dass mir nichts mehr daran liegt, mich zu vergewissern, ob es meinem Ex-Mann wirklich miserabel genug geht, damit ich erlöst bin. Ich bin durch die Stadt gewandert … ich war essen, allein, in dem Restaurant am Gare de Lyon, Le Train Bleu … ich hab Menschen zugesehen, beim Warten, und wusstest du, dass die meisten in ihr Handy schauen und gar nicht umher? Sie sehen nicht die anderen, die Unterschiede, das Gemeinsame. Das hat mich traurig gemacht, seltsam traurig. Als ob der Welt etwas Kostbares verloren geht. Ich vermisse meine Steine. Aus denen kann ich wenigstens Leben herausschlagen, aber es wäre seltsam, wenn ich jetzt anfange, Leute auf der Straße zu ohrfeigen, damit sie endlich wahrnehmen, wer direkt neben ihnen weint oder schweigt oder hofft oder lebt.«

Perdu hatte vor lauter Erleichterung geschwiegen und ihr vorsichtig die Unterwäsche unter dem Kleid abgestreift.

Catherine wusste nichts von dem, womit sein Herz angefüllt war, mit einer so glasklaren, festen Vision, die ihm auf den Place de Vosges befallen hatte. Und doch legte er in jede seiner Berührungen alles davon hinein.

War ich jetzt bei zwei oder drei?, murmelte das Universum.

* *

Häfen waren traditionell Orte, an denen das Garn gesponnen wurde. Manches davon Großmäulerei und dazwischen immer wieder wichtige Neuigkeiten, die in der Summe ihrer Einzelteile ein Bild ergaben.

Und so ging er sie alle ab, die Perdu seit fünfundzwanzig Jahren im Hafen kannte, und lud sie zu einem Glas Limonade im Schatten ein. Die Angler, die Bouquinisten, die Straßenkehrer, die Stadtgärtnerinnen, die Hausbootbesitzer und die Ausruferinnen, die die Paris-Touristinnen in die Ausflugsboote hineinlockten.

Und eines frühen Abends stand der etwas zu breite Hafengendarm Emile am Schott und klopfte schüchtern an die Luke. Perdu war gerade dabei, die Lese-Exemplare der berüchtigten August-Bücher, die alle auf einen Literaturpreis schielten, anzulesen, während Pauline sich der Aufgabe gewidmet hatte, die neuen Regale sorgsam von Katzenhaaren zu befreien, und auf einer wackeligen Trittleiter die oberen Bretter abwischte.

»Heute in Zivil?«, fragte Perdu den schüchternen Gast.

»Innen wie außen.«

»Und was sagt Ihr Brigadier dazu?«

»Das ist mir völlig egal. Ist es erlaubt, an Bord zu kommen?«

Perdu nickte.

Und mit einem schiefen kleinen Lächeln betrat der Gendarm das Schiff. »Ach!«, rief er aus. »Das sieht ja noch schöner aus!«

»Ach«, rief Pauline zurück, »ist das der Kontrollbesuch?« Sie stand immer noch auf der Trittleiter, unablässig beobachtet von Merline, die sich unter ihr postiert hatte. Damit Pauline weich fiel, falls sie fiel.

Emile wurde rot und stammelte: »Nein, ein privater Besuch.«

Dann hob der Bretone ihr verlegen die Hand entgegen. »Darf ich …?«

Pauline ignorierte die helfende Geste und legte Emile stattdessen den Staubwedel in die Hand, um höchstselbst ohne seine Hilfe von der Trittleiter zu steigen.

Das hätte auch ganz gut geklappt.

Wenn nicht Merline just in dem Augenblick entschieden hätte, der Sache mal ein bisschen Tempo zu verleihen, und abrupt aufstand, gegen die Leiter tuppte – und Pauline zum Straucheln brachte.

»Oh mince! «, kiekste sie.

Und fiel Emile direkt rückwärts in die Arme.

»Hopsala«, sagte Emile, als er Pauline sicher auffing, sein rechter Arm – immer noch mit dem Staubwedel in der Hand – unter ihren Kniekehlen, der linke in ihrem Rücken.

»Sheesh! Haben Sie gerade Hopsala gesagt? Wie alt sind Sie, hundertfünf?«

»Ich bin vierundzwanzig?«, sagte Emile ehrlich irritiert.

»Sind Sie sicher? Wer Hopsala sagt, sagt auch sicher so was wie Mumpitz, Larifari oder … Potzblitz . Grauenhaft.«

»Das sind doch wu… wunderschöne Wörter. So wie … schwofen …?«

»Und ich sag’s ja: grauenhaft.«

Sie verschränkte die Arme. Er verlagerte das Gewicht.

Merline hatte sich an Perdus Seite zurückgezogen und beobachtete zufrieden den Verlauf des von ihr herbeigeführten Zwischenfalls. Emile hielt Pauline immer noch auf den Armen, und es schien dem jungen Gendarm nicht das Mindeste auszumachen. Und ihr …

… auch nicht.

Um genau zu sein, schienen die beiden es nicht mal zu bemerken. Sie fixierten einander, Pauline ungehalten, Emile sichtlich verwirrt und um Worte ringend, die Pauline nicht gleich in der Luft zerriss.

»Komme ich Ihnen … ehm, ungelegen?«

»Prinzipiell ja, speziell ist mir das völlig egal. Ich habe gerade die Regale gereinigt. Die Haare. Von Kafka und Lindgren.«

»Das sind … die Katzen.«

»Ist das eine Frage?«

»Ich hab Kafka in der Schule gelesen, bei ihm weiß man ja nie. Von Käfer zu Katze ist der Schritt nicht so groß, oder?«

»Ich kann Sie beruhigen. Es sind die Katzen.«

»Ich habe auch eine Katze. Also einen Kater. Der haart auch. Überall. Vor allem im Sommer. Teppich, Bett, Tischbein …«

»Ach. Und was ist das für eine Katze?«

Und aus irgendeinem Grund öffnete sich Emiles Herz in diesem Augenblick besonders weit, und aus dem stotternden jungen Mann mit etwas Übergewicht strömten die Worte.

»Ein Siamkater. Das liebste, freundlichste Gesicht, das man sich vorstellen kann. Blaue Augen, schwarze Ohren, ein schwarzes Gesichtchen, der Rest ist ganz golden, bis auf das Ende, das ist auch schwarz. Er heißt Tong. Er ist mir zugelaufen. Da war er winzig klein, gerade so groß wie ein paar zusammengerollte Socken. Ich glaube, Katzen suchen sich ihre Menschen aus, nicht umgekehrt. Tong ist mein bester Freund.«

Und weil er jetzt so weit rausgeschwommen war, klappte sein Mund zu, und Emile wartete auf einen Rettungsring.

»Und Tong ist ein richtiger Name?«

»Na ja. Ja. Das bedeutet Flipflop. Oder Sandale. Auf Bretonisch.«

»Ein Kater Namens Sandale. Na, Donnerlittchen

»Auch ein schönes Wort. Finde ich.«

Schweigendes Ausforschen zweier Augenpaare. Perdu und Merline und das Schiff hatten alle drei reichlich damit zu tun, unbewegt und unsichtbar zu bleiben, um das Forschungsprojekt nicht zu stören.

»Sie tragen mich übrigens immer noch.«

»Pardon. Ist mir nich’ aufgefallen.«

»Schon gut. Sie können mich jetzt absetzen. Wenn es Ihnen nichts ausmacht.«

Auf Emiles Wangen erblühten zwei kreisrunde Flecken.

Merline seufzte innerlich. Was sollte er denn darauf schon sagen! Wenn es Ihnen nichts ausmacht.

»Papperlapapp«, murmelte Emile.

Und der breite Bretone setzte Pauline ab, so vorsichtig, als stelle er eine Porzellanfigurine aufrecht. Dann stand Emile da, sie hatte seine Arme allein gelassen, und er wusste auf einmal nicht mehr, wohin damit. Bis er den Staubwedel entdeckte, den er noch umklammert hielt. »Darf ich helfen? Ich kenne mich aus damit.«

Kurzer Paulineblick zu Perdu. Der nickte, nur mit beiden Augenlidern. »Tun Sie, was Sie nicht lassen können«, antwortete Pauline. »Am besten da hinten bei Dostojewski.«

Sie zeigte auf die Regalreihe, und da stand gerade Fjodor mit dem Gesicht nach vorne: »Schuld und Sühne«.

Wie subtil. Doch, Pauline hatte eindeutig Potenzial als Literarische Apothekerin.

* *

An diesem Juli-Abend füllte sich die Bücherarche in einer Tradition, die niemand bestellt hatte und die trotzdem eingezogen war.

Victoria, in deren Bauch der bisher noch unbenannte Mitbewohner abrupt an Umfang zugenommen hatte, kam, um nach den Pflanzungen und Blumen zu sehen; vorgeblich, weil sie der Ansicht war, dass Monsieur Perdu für alles Mögliche ein Händchen hätte, an dem nur leider der grüne Daumen fehle.

Max, der seine schwangere Frau mit hingebungsvoller Seligkeit begleitete und es sehr genoss, an einem blauseidenen Abend unter dem Sonnensegel auf dem Deck zu sitzen und die Website der Literarischen Apotheke weiterzubauen, während der Eiffelturm begann, bunt herumzuleuchten.

Was wiederum Theo anlockte, der in dem illuminierten Koloss einen Leuchtturm im alten Meer unter Paris identifiziert hatte, um Merline flüsternd davon zu erzählen. Leihoma Dommi kam mit einer Leseliste des Witwenklubs, und Catherine, sie sah schön aus und erzählte von ihrem Besuch im Rodin-Museum.

»Man konnte vor Menschen kaum etwas sehen … und auch nicht hören. Diese Skulpturen hätten so viel zu erzählen!«

Alle brachten etwas zu essen mit, gegrillte Melone und grüne Gazpacho aus Zucchini und Gurken, Käse mit Betterave und Himbeeressigöl, frische Baguettes und Rillettes, Kleinigkeiten, an denen sie im Abendlicht herumpickten und genossen, gleichzeitig am Leben zu sein.

Emile, der etwas zu breite Bretone, hatte das Bücherschiff geputzt und von jedem Katzenhaar höchstpersönlich befreit (es würde bis zum nächsten Morgen so bleiben, länger würden Kafka und Lindgren diese Situation nicht dulden) und fühlte sich unbehaglich. Vor allem, da er mit spitzen Augen von allen, außer von Perdu, Theo und Merline, gemustert wurde.

»Also … ich geh dann mal«, sagte er schüchtern.

»Gut, tschüss!«, blaffte Pauline, die just vorbeiging, eine Schüssel mit Kirschen auf das Deck tragend.

Emiles Blick wurde noch leiser.

»Wir haben Ihre Lesefrage nicht geklärt«, bemerkte Perdu.

»Ach. Das«, sagte Emile unglücklich. Er guckte vor sich auf den Boden, als ob es da etwas zu sehen gäbe. Wer weiß, vielleicht ein paar Splitter seines Seins, die er gern aufheben und zusammensetzen würde, um zu schauen, was sie ergeben.

»Ich glaub, wenn ich mit jemandem über das, was ich lese, sprechen könnte, würde ich mehr lesen. Aber ich kenn nich’ so viele Leute, die lesen.«

»Und Ihr Kater?«

»Wir haben viel gemeinsam, aber bei Büchern eine … kulturelle Meinungsverschiedenheit. Tong mag Musik, besonders Klaviermusik. Deswegen lerne ich für ihn jetzt spielen, aber ich bin nicht sehr begabt. Ich wünschte manchmal, ich würde ihn besser verstehen. Er versteht mich auch so.«

»Kennen Sie ›Meine Freundin Jennie‹? Von Paul Gallico?«

»Nein …?«

Perdu suchte in der antiquarischen Abteilung für »Freundschafts-Lücke«, bis er den Roman von 1950 fand, in dem der achtjährige Peter, als er eine kleine Katze vor dem Überfahren rettet, selbst angefahren wird. Und als er erwacht, findet er sich in dem Körper des Katerchens wieder und muss alles lernen, was Katzen können – vom Überleben bis zum Vertrauen, und das von seiner kätzischen Freundin Jennie.

»Betrachten Sie es als Geschenk. Nicht als Bestechung.«

»Ich bin nicht Gilbert Le Roy.«

»Verzeihen Sie.«

»Nein, ich bitte Sie, mir zu verzeihen. Ich kann mir meine Schicht nicht aussuchen. Ich kann mir aussuchen, wie ich leben will und wie nicht. Was ich mitmache, wo ich wegschaue, und wo ich aufhör wegzuschauen. Ich kann mir aussuchen …« Emile rang mit sich, »ich kann mir aussuchen, in welcher Welt ich leben will. Das stimmt doch, oder?«

Eine vertrackte Frage. Ja, und nein. Perdu steckte seine Antwort vorsichtig zusammen. »Sie können sich aussuchen, wie Sie in der vorhandenen Welt leben und handeln und denken. Und dann verändern Sie die Welt schon allein deshalb. Bis sie zu der wird, in der Sie leben wollen.«

Pauline trabte erneut vorbei. »Sheesh  … wenn Sie versprechen, keine cringy Worte aus dem Mesozoikum zu benutzen, bleiben Sie halt zum Apéro.«

Die Verwandlung zum glücklichen Menschen muss man sich als kräftigen Bretonen mit roten Wangen und einem Katzenroman in der Hand vorstellen.

An diesem Abend wurde die Eröffnung beschlossen, und außerdem die Reihe Rendezvous Littéraire – »Wie wäre es«, sagte Perdu, »wir fangen mit etwas Leichtem an: Menschen, die dasselbe Buch mögen, treffen sich auf ein Literarisches Rendezvous bei Kerzen, Käse und Wein?«

Einstimmige Zustimmung, sogar von Merline, auch wenn sie persönlich Hunderomane vorzog. Aber hier ging es um etwas anderes. Es ging um den Kummerfilzmantel von Pauline, es ging um das Universum, das immer bis drei zählt, und es ging um all jene Menschen, die das Bücherschiff noch brauchen würden.

»Gut, das ist beschlossen: zweiter Freitagabend im Monat. – Das bedeutet, Emile, dass Sie eingeladen sind.«

Und Emile guckte hochrot in sein Limonadenglas, als läge darin am Grund ein vergessener Traum.

»Und, Emile …«, fragte Perdu sehr leise, damit es niemand mitbekam, nicht mal Merline, »hätten Sie demnächst Zeit, mit mir im Hafen ein bisschen spazieren zu gehen? Wir könnten über Bücher sprechen. Oder über was Sie wollen.«

»Ich bin froh, dass Sie das fragen. Und stehe ganz zu Ihrer Verfügung«, sagte der junge Gendarm ernst.

Die Freundschaft der Tiere

Nicht jeder Mensch ist vom Glück der Freundschaft mit einem Tier begünstigt. Die Wohnung zu eng für ein Pferd, der Balkon zu hoch für eine kleine Katze, der Mensch, mit dem man schlafen geht, fängt schon an zu schniefen, wenn er einen Hund im Fernsehen vorbeigaloppieren sieht. Oder das Leben hat sich so seine Wege gebaut, und da ist einfach kein Platz, nicht mal am äußersten Gehsteigrand, für ein Miau und das warme, helle Licht, das immer dann angeknipst wird, wenn ein Köpfchen, ein Schnäuzchen, ein Pfötchen an Waden oder Wangen gerieben werden.

 

Denn wenn, dann zieht ein neuer Freund mit Fell ein, manchmal auf eine Weise, die man gar nicht bestimmt hat. So als ob er auf einen wartete oder gesucht hat oder entschied: Nützt ja nix, die da, die nehm ich jetzt!

Vielleicht ist es eine tiefe Duz-Freundschaft. Vielleicht eine Siez-WG . Aber da ist man nun, zusammen, und geht durch die Jahre.

 

Dann baut sich das Leben eh bald um ihn herum, und es werden überall in der Wohnung und dem Garten und dem Herz Lichter und Gewohnheiten angeknipst. Die Stelle mit den Näpfchen, die Einkaufslisten, die Lieblingsorte, man beginnt, den einen Stuhl freizuhalten und den Tisch freizuräumen, von dem aus man so schön gucken kann, und auch den Kratzast keinesfalls aus dem Garten zu entfernen, selbst wenn er schon spröde, rissig und alt geworden ist. Die Bettdecke wird glatt gestrichen, damit es sich besser darauf liegen lässt, ein nicht zu lauter Handstaubsauger angeschafft, die Türen offen gelassen, damit das Freundesgetier sich nicht vor geschlossenen Schwellen grämen muss, und alle möglichen Milchsorten kredenzt, bis die einzig mögliche herausgeschmeckt wird. Und es wird der Farn an einer Ecke im Gärtchen stehen gelassen, weil der kleine Freund darin gerne schläft; und die Beschwerden der Nachbarn über das Farngesocks stoisch überhört.

 

Das Seufzen und Schauen und Schnaufen wird immer besser verstanden – rück zur Seite! Gib mir Knie! Ist das nicht meine Praline? –, und wer schon, auf der ganzen Welt, liebt einen so bedingungslos, so inniglich, so vertrauensvoll wie das Freundestier?

Du bist betrunken? Egal, du wirst geliebt. Du gehst nicht regelmäßig ins Sportstudio, schaust schmalzige Videos statt geistig wertvoller Dokumentationen, bist zu faul für regelmäßig Gemüsekochen? Egal, du wirst geliebt. Dein Leben ist weder glamourös noch einflussreich, noch eh besonders, und du lässt dir viel zu oft über den Mund fahren und weißt nicht, wie man Vordränglern Einhalt gebietet? So was von egal: Du wirst geliebt.

 

Und plötzlich fällt einem auf, dass dieses Wesen einen sogar lieber hat als man sich selbst. Und das ist der Moment, in dem man fast versteht, was man da verpasst, wenn man ständig an sich selbst rumnörgelt.

Das tiefe Vertrauen, die Akzeptanz und Zuneigung eines Freundestiers kann naturgemäß nicht durch einen Menschen zu ersetzen sein; irgendjemand will immer mehr Gemüse oder ein besonderes Leben, oder nimmt einem das Bier aus der Hand und traut einem eh nie ganz über den Weg, was nur natürlich ist, Menschen ist das nicht abzugewöhnen.

 

Das einvernehmliche Schweigen und Kommunizieren mit dem Freundestier dagegen in einer Sprache, die mehr innen als außen ist, lässt ein Band entstehen, an das sich das eigene Leben, der Alltag anknüpft. Es wird der rote Faden; denn alles wird ein bisschen egaler und leichter, wenn die Stirn deines Katers an deine tuppt oder dein Hund dir entgegentrabt, mit solcher Freude, wie du es nie gesehen hast, wenn dich ein Mensch anschaut, oder dein Pferd dir in die Halsgrube schnaubt, wenn du beklommen und zittrig bist, und dir damit sagt: Ist schon gut, ich sehe das, komm, wir mischen das jetzt ins Jetzt rein, darfst weiter traurig sein, und ich bin einfach dabei, und den Sonnenuntergang habe ich dir auch organisiert.

 

Lieben und sein lassen, nicht werten, nicht rügen.

Wie kostbar solch eine Begegnung ist.

Wie mit nichts vergleichbar ihr Ende ist.

Wohin mit der Liebe, die man nicht mehr hingeben kann? Wohin mit den Händen, die nicht mehr so hingebungsvoll willkommen geheißen werden? Wohin nur mit all der blamablen Unperfektion?

Wohin nur mit der Sehnsucht, noch einmal so gemocht zu werden?

 

Wer diese Freundschaft kennt oder ersehnt, für den hat die Literarische Pharmazeutin stets eine Kollektion an Büchern mit tierischen Freunden und wird sich hüten, darüber maliziös zu werden.

Und wer diese Freundschaft besaß, aber durch den Lauf des erbarmungslos unordentlichen Lebens verlor: Lassen Sie es nicht zu, dass der Mensch vor Ihnen aus Angst vor dem unendlichen Schmerz vermeidet, je wieder solch eine Freundschaft einzugehen. Ob auf dem Papier oder in seinem Leben. Es bleibt sein größter Wunsch, aber die Größe der Liebe, die dann verbluten wird nach einem unordentlichen Ende, ist kaum auszuhalten, schon jetzt, schon bevor überhaupt eine neue Freundschaft geknüpft ist. Diese Angst davor, dass sich das Fehlen wieder überall einnistet, in jeder Ecke, in jedem Näpfchen, auf jedem Ast, Bett, in jede Stunde hinein.

Aber das Farnwäldchen, das steht dennoch immer noch. Damit der Schmerz an die Liebe erinnert.

 

Die Angst kann viel, sie kann uns vor Aufzügen zurückweichen lassen und vor großen Plätzen, sie lässt uns lieber vier Stunden auf den Bus warten, als am Hang mit dem Wagen und Handbremse anfahren zu müssen, sie kann sich im Bauch ausbreiten und uns beschwören, dass die fürchterlichsten Dinge passieren, wenn wir jemanden anrufen müssen, und den Knoten unter dem Brustbein so eng zusammenziehen, dass nicht mal mehr ein Bissen Brot sich daran vorbeidrücken kann – o ja, sie kann unglaublich viel in unser Leben eingreifen.

Aber eines kann sie nicht: Sie kann die Zukunft nicht voraussagen, sie tut nur recht lärmend so. Die Wahrheit ist, dass es ganz anders wird.

 

Aus: Große Enzyklopädie der Kleinen Gefühle . Handbuch für Buchhändlerinnen, Buchhändler und andere Literarische Pharmazeuten, Kapitel T.