Der Mann im Radio sagte: »Meine Frau und ich erinnern sie immer wieder daran, dass wir eine Mannschaft sind, ein Team, wir arbeiten zusammen, und alles, was wir haben, verdanken wir unserer gemeinsamen Anstrengung. Wenn sie zum Beispiel ein neues Nintendo-DS-Spiel oder was auch immer haben wollen, dann sagen wir zu ihnen: ›Also, es gibt Kinder auf der Welt, die haben überhaupt keine Spielkonsole und erst recht nicht die neuesten Spiele‹, und ermutigen sie, etwas anderes mit ihrer Freizeit anzufangen, falls sie sich langweilen, zum Beispiel Karten spielen, wir spielen oft mit ihnen Karten und auch andere Spiele, rufen ihnen in Erinnerung, was Teamgeist bedeutet, und ermutigen sie, das Beste aus dem zu machen, was sie schon haben. Das heißt nicht, dass sie nie das bekommen, was sie sich wünschen, denn das ist durchaus der Fall, nur eben in Maßen. Und wir lamentieren nie groß darüber, wie teuer die Sachen sind und wie hart wir dafür arbeiten müssen, aber wir achten schon darauf, dass sie die Dinge wertschätzen. Und das hat zur Folge, dass Geburtstage, Weihnachten und Ostern für sie nicht mit großen Erwartungen überfrachtet sind. Es ist nicht dieses Wahnsinnsspektakel an Geschenken und Gegenständen. Für sie bedeuten diese Anlässe, dass sie mehr Zeit mit ihren Großeltern verbringen können, mehr Zeit mit der Familie. Es liegt an uns, daran, was wir unseren Kindern beibringen, welche Botschaften wir ihnen mit auf den Weg geben, während sie aufwachsen …«
Trotz des nervigen, belehrenden und leicht näselnden Tonfalls des anonymen Vaters dachte Melissa, als sie mit den Kindern zum Spieleparadies fuhr, über die tiefere Aussage seines Sermons nach – wie wichtig Zusammenhalt war, dass man nicht darauf herumreiten sollte, wie teuer die Dinge waren, was wirklich furchtbar war, und sie spürte Schuldgefühle und Selbsthass in sich aufwallen, weil sie daran denken musste, wie sie Ria eine Standpauke gehalten hatte, nachdem sie zugunsten eines spontanen Wissenschaftsprojekts ihre Hello Kitty Cool Cardz in die Badewanne geworfen hatte. Sie hatte ihr vorgehalten, dass die Karten siebenundzwanzig Pfund gekostet hatten. Was bedeuteten siebenundzwanzig Pfund schon für eine Achtjährige? Eine Achtjährige auf Krücken, mit einem unbeweglichen weißen Gipsbein, die von ihren Schulfreunden isoliert war und sich im Haus Beschäftigungen suchen musste, um sich bei Laune zu halten. Sie hatte das Kartenexperiment auf einem Bein durchgeführt, sich über die Badewanne gebeugt, den verletzten Fuß auf dem großen Zeh aufgestützt, die Krücken an die Wand gelehnt. Sie war dort herumgehumpelt, so wie sie überall herumhumpelte, durch die Zimmer polterte, hüpfte, sich abstützte, festklammerte, manchmal eine Krücke herumschwang und Dinge aus den Bücherregalen katapultierte. Doch zeugte es nicht von viel mehr Entschlossenheit, Forscherdrang und Einfallsreichtum, auf diese Weise aktiv zu werden und sich von den körperlichen Einschränkungen nicht unterkriegen zu lassen, als resigniert auf dem Sofa zu hocken und CBeebies zu gucken? Und Melissa war nichts Besseres eingefallen, als sie dafür anzuherrschen.
Während der letzten neun Tage waren Ria und Melissa beide ihren täglichen Beschäftigungen in der Paradise Row 13 nachgegangen, nachdem sie zunächst in der Schule vorbeigeschaut und Ria krankgemeldet hatten, was ihr sofortigen Berühmtheitsstatus beschert hatte (»Du lieber Himmel, was ist denn mit deinem Fuß passiert?«, und: »Wow, lass mich mal auf deinen Krücken laufen!«). Melissa verbrachte so viel Zeit wie möglich mit Arbeiten und den Rest mit Ria, bereitete das Mittagessen zu und zwischendurch Snacks, unterstützte sie bei den Hausaufgaben, sorgte mit gelegentlichen Spaziergängen und Humpel-Expeditionen in den Garten für ausreichend frische Luft. Ein Gipsbein lässt keine allzu großen Aktivitäten zu. Kein Laufen, kein Schwimmen, kein Rollerfahren. Alles ist beschwerlich und verlangsamt und weitgehend aufs Sitzen beschränkt. Ria verbrachte also viele Stunden am Küchentisch, vertieft in imaginäre Welten aus Lego, Peppa-Pig-Spielzeugmöbeln und Schachfiguren; sie murmelte vor sich hin, genoss es, vom Bruchrechnen befreit zu sein, genoss diese neue, häusliche Unabhängigkeit, während sich Melissa insgeheim wünschte, Ria würde wieder zur Schule gehen. Wenn noch dazu Blake im Haus war, so wie an diesem Freitag, einem eiskalten, trostlosen Morgen in der zweiten Januarwoche, war es noch schlimmer, und um die Situation für alle etwas aufzulockern, hatte sie sich für den Ausflug ins Spieleparadies entschieden. Es war nicht die naheliegendste Wahl für ein Kind auf Krücken. Ria konnte weder klettern noch rutschen, aber vielleicht konnte sie am Rand des Bällebads sitzen, und Blake und sie konnten sich gegenseitig mit Bällen bewerfen, oder auf dem weich gepolsterten Boden herumrollen oder mit dem Netz herumspielen, während Melissa die Zeit hoffentlich nutzen konnte, um ihren Artikel fertig zu schreiben (sie hatte die Deadline bereits überschritten). Es war ein mühsames Unterfangen gewesen, die beiden ins Auto zu verfrachten, Blake mit seinen Gurten und Ria mit ihren Krücken. Melissa war nicht dazu gekommen, sich ein wenig zurechtzumachen, sie trug ihren grauen Anorak mit dem dürftig geflickten Riss am Saum, einen beigefarbenen Pullover, der die Misere ihres postnatalen noch nicht wieder straffen Bauchs ungünstig hervorhob, und ihre Turnschuhe, an denen noch der Matsch von ihrem verhängnisvollen Waldspaziergang klebte. Im letzten Moment hatte sie noch etwas Lipgloss aufgetragen, doch das war, wie es schien, der einzige Hinweis auf die glamouröse Frau von Welt, die einst für das Mode- und Lifestyle-Ressort bei Open verantwortlich gewesen war. Sie hatte das Radio eingeschaltet, um ihrer schlechten Laune etwas entgegenzusetzen – und dem Gequassel auf der Rückbank (»Mama, kann ich mit Shanita, Shaquira und Emily schwimmen gehen, wenn mein Gips ab ist?«, »Mama, wo hast du die Bratz-Puppe hingetan, die bei meinem Schuh dabei war?«, »Mama, wusstest du, dass kleine Lügen zu großen Lügen werden und große Lügen zu schlimmen Lügen?«). Gerade kamen sie am Tesco-Express vorbei. Regen nieselte auf die Windschutzscheibe. Sie stellte BBC Radio 4 ein, zur Woman’s Hour mit Jenni Murrays beruhigender, entschlossener Stimme, um sich innerlich zu stärken, sich zu erinnern. Sie drehte die Lautstärke auf.
»Mama, machst du das bitte leise?«, fragte Ria.
»Ich höre zu.«
»Aber es ist zu laut, so kann ich nicht lesen.«
»Du liest doch gar nicht. Du redest.«
»Jetzt lese ich.«
»Ach, jetzt liest du also. Und was ist mit mir? Was ist mit meinen Wünschen? Ich bin auch ein Mensch, weißt du? Ich habe auch Bedürfnisse und Hobbys und Lieblingsbeschäftigungen, Gedanken und Gefühle. Was soll ich denn tun, während du so dringend lesen musst? Einfach hier sitzen und mir die graue Straße angucken, den grauen Regen, hm?«
»Ach, ist auch egal.«
Erneut von Schuldgefühlen geplagt, stellte Melissa das Radio etwas leiser. Da fing Blake an zu weinen. Sie versuchte vergeblich, ihn zu beruhigen, indem sie eine Hand nach hinten ausstreckte und seinen Fuß festhielt.
»Er ist müde«, sagte Ria altklug, die wusste, dass die Gina-Ford-Routine bei ihm nicht wirklich anschlug. »Also, Blake, denk dran, was wir dir erklärt haben«, sagte sie. »Am Morgen wachst du auf, du kannst tagsüber zwei Nickerchen machen und einen langen Mittagsschlaf und dann seeehr lang schlafen, die ganze Nacht lang, und am Morgen wachst du wieder auf und machst das Gleiche noch mal und noch mal und noch mal und noch mal, verstanden?«
Als Antwort darauf brüllte er nur lauter, übertönte sogar das Radio. Er schrie die ganze restliche Fahrt bis Little Scamps und schlief ausgerechnet in dem Moment ein, als sie dort ankamen, was wenig hilfreich war. Unter erneutem Geklapper wurde Ria aus dem Auto herausbugsiert, der schwere Maclaren-Buggy auseinandergeklappt, in dem Blake sich aber gerade nicht niederzulassen gedachte, also trug Melissa ihn auf einem Arm, schob mit dem anderen den Buggy, und zu dritt kämpften sie sich durch die eisige, feuchte Luft und hinein ins höllische Vergnügen.
Der Weg zum Spieleparadies führt bergab und um drei Biegungen herum zu einem unterirdischen Verlies, ausgestattet mit Spielgeräten und Schuhbeuteln in den Grundfarben sowie einem kleinen Café. In der ersten Biegung wappnet man sich, in der zweiten glaubt man zu ertrinken, und in der dritten ist man vollständig untergetaucht. Das Gekreisch, Geschrei und Geheul unzähliger Racker aller Größen und Altersstufen bildet die einzige Beschallung. Man ist überall von Netzen und Polstermaterial umgeben. Alles ist gepolstert, die Wände des Bällebads, die Start- und Landebahnen des Spaßes, die mit Netzen umspannten Tunnel, die Stufen, die zur phantastischen, kurvenreichen Rutsche hochführen, und die Landebahn an deren Ende. Die Racker prallen gegen die Netze, krallen sich daran, rennen, hopsen, klettern, wirbeln herum, während ihre Schuhe in roten, gelben und blauen Schuhbeuteln aufbewahrt werden. Ihre Mütter, Väter gibt es eher weniger, hocken in der Nähe auf harten Holzstühlen, das Gesicht von Sorgenfalten überzogen, kauern über ihren Getränken oder ihrem Lesematerial, falls sie so ambitioniert sind, diese Chance auf etwas Zeit für sich nutzen zu wollen, trotz der ständigen Unterbrechungen, weil die lieben Kleinen Chips, Saft oder aufs Klo wollen, man schlichtend eingreifen oder sich eine Alternativbespaßung überlegen muss, falls sie sich langweilen. Und dann gibt es noch die andere Art Mutter, die sich selbst ins Getümmel stürzt, ihre Schuhe abstreift, ins Bällebad steigt, rotgesichtig und mit verschwitzter Stirn, um ihrem Krabbelkind zu helfen, sich an der Blasmaschine zu erfreuen, die mittels eines ausgeklügelten Magnetmechanismus die Bälle in der Luft schweben lässt. Sie hält Klein Jimmy, oder wie auch immer er heißt, darüber, in der Hoffnung, ihn zum Lachen zu bringen, doch er baumelt vom Wind gepeitscht und verwirrt dort herum, woraufhin sie ihn wieder auf dem gepolsterten Boden absetzt und sich danebenhockt, die Beine unbequem untergeschlagen, und vielleicht mit einer anderen Mutter dieses Typs plaudert, die ebenfalls im Bällebad sitzt; beiden ist bewusst, dass ihre zwei großen Körper den Durchgang für die Kinder zwischen den Netztunneln blockieren, aber sie haben schließlich das gleiche Recht, dort zu sein, in Wahrheit sogar ein größeres, weil sie gebraucht werden. Melissa gehörte der ersten Mütter-Kategorie an.
»Wie viele Kinder möchten Sie anmelden?«, fragte die Spiele-Aufsicht im grünen T-Shirt sie an der Rezeption.
»Zwei.«
Die junge Frau musterte Ria von Kopf bis Fuß, ihr Blick blieb an den Krücken unter ihren Armen hängen, und sie händigte Melissa zögernd zwei Armbänder aus. »Dann unterschreiben Sie bitte hier«, sagte sie und betätigte einen Knopf, um das Tor zu öffnen. Es schwang auf, leuchtend gelb und ebenfalls gepolstert, und schon waren sie vollkommen eingetaucht.
Die Ballblasmaschine war heute außer Betrieb. Eines der Kinder benutzte sie stattdessen als Podest zum Draufstellen und Runterspringen, aber die Kleinen konnten damit nichts anfangen. Da es ein normaler Wochentag war, war Ria hier die Einzige im schulpflichtigen Alter. Es gab niemanden, mit dem sie eine spontane und bald vergessene Freundschaft hätte schließen können. Sie konnte nicht an den Netzen hochklettern oder durch die Tunnel laufen, nur allein in dem gepolsterten Bereich spielen oder den anderen Kindern im Bällebad als mittelgroße Zielscheibe dienen. Die stickige unterirdische Luft wurde von einem warmen Geruch nach Lebensmittelzusätzen und Kaffee durchdrungen, nach kürzlich verzehrten Käsetoasts, von denen verstreute Krusten auf dem Boden neben einem der Stuhlbeine zeugten. Melissa steuerte auf eine relativ leere Ecke zu, bahnte sich mit dem Buggy einen holprigen Weg zwischen den Tischen und Stühlen hindurch, Blake immer noch auf dem freien Arm. Ria folgte ihr und setzte sich auf einen Stuhl an ihrem Tisch, während Melissa Blake die Schuhe auszog. In der Nähe saßen zwei Frauen und unterhielten sich, eine weitere Frau saß allein da und las Zeitung.
»Mama, kann ich ein paar Chips haben?«, fragte Ria.
»Wir sind gerade erst angekommen. Geh spielen.«
»Aber ich kann nicht.«
»Doch, das kannst du. Mach schon, zieh dir die Schuhe aus. Warte, crem dir erst die Hände ein. Ich habe dir doch gesagt, du sollst sie dir regelmäßig eincremen. Warum hast du ständig so trockene Hände?«
»Ich weiß nicht.«
Sie cremte sich die Hände ein und zog sich den einen richtigen Schuh aus. Der andere war ein riesiger Verbandsschuh, eine Art Stoffsandale. Melissa verstaute sämtliche Schuhe in den Beuteln und Blake im Bällebad und trug Ria auf, ihn zu beschäftigen. Sie beobachtete Ria eine Weile; sie war bezaubernd mit ihrem humpelnden Gang, in ihrem blauen Glockenrock, unter dem man ein dünnes und ein eingegipstes Bein herausragen sah. Blake und Ria bewarfen sich lachend mit Bällen, während Melissa sich versuchsweise in ihre Ecke zurückzog und ihren Laptop hervorholte. Es war schwierig, sich zu konzentrieren und gleichzeitig mit einem Auge das Geschehen im Blick zu behalten, aber sie schaffte es, einen Satz zu schreiben. Doch kurz darauf näherten sich ein Paar UGG-Stiefel, ein hellblauer Mantel und ein großer vierrädriger Kinderwagen. »Hallo, Melissa«, sagte eine Stimme. Es war Donna, eine Bekannte aus dem Mutterland, der sie häufig auf den nahe gelegenen Spielplätzen und in den Gängen des Supermarkts begegnete. Sie machte Anstalten, sich zu setzen, doch Melissa hielt ihr Lächeln zurück, ihre Finger schwebten über der Tastatur.
»Oh, Verzeihung!«, sagte Donna und brachte den Kinderwagen zum Stehen. »Störe ich?«
»Nein, nein … schon in Ordnung, setz dich …«
Donna trug eine blaue Brille, passend zu ihrem blauen Mantel. Ihre Augen starrten stets ausdruckslos dahinter hervor, während sie sich in einem belanglosen, gourmetlastigen Redeschwall erging – über ihre Mousse-au-Chocolat-Vorlieben, köstliche Kuchen und die Qualitätsunterschiede zwischen einem fettarmen Blaubeermuffin von Marks & Spencer und einem fettarmen Blaubeermuffin von Sainsbury’s. Die fettarmen Blaubeermuffins von Marks & Spencer waren einfach unschlagbar.
»Ich habe eher ein Faible für herzhafte Sachen«, sagte Melissa. »Ich würde eine Tüte Chips immer einem Donut vorziehen.« Je intensiver ihre Unterhaltung wurde, desto mehr trat die Welt um sie herum in den Hintergrund, sie sanken hinab, das Verlies tauchte tiefer und tiefer. Um sie herum dröhnten die Stimmen der kleinen Racker durch die Luft unterhalb der hässlichen Neonleuchten, unterhalb des Erdbodens, und inmitten dieses Stimmgewirrs drang Blakes spitzer, unverkennbarer Schrei heraus. Er lag bäuchlings auf der Polsterung und weinte. Ria humpelte mit nur einer Krücke zurück zu ihrem Tisch.
»Mama, Blake steckt in den Bällen fest.«
»Wo ist deine andere Krücke?«
»Ich weiß nicht.«
»Wo hast du sie denn gelassen?«
»Ich weiß nicht.«
Melissa sammelte Blake auf, begab sich auf die Suche nach der anderen Krücke und entdeckte sie unter einem Tisch. Blake hatte keine Lust mehr, in dem Bällebad zu spielen. Er wollte durch die Tunnel kriechen und hoch zu den oberen Ebenen der Netze, so wie die größeren Kinder, aber das ging nur, wenn ihm seine Mutter half und mitkam, sich die Schuhe auszog. Von seinem Wunsch angetrieben, krabbelte er in Windeseile durch den Tunnel auf ein gepolstertes Klettergerüst zu, das zur ersten Ebene hinaufführte.
»Blake, komm zurück! Blake, du kannst da nicht hoch«, rief Melissa.
Er erreichte das Gerüst und zog sich in den Stand hoch, versuchte daran hochzuklettern und weinte, als es ihm nicht gelang, blickte sich suchend nach seiner Mutter um. Sie hatte sich auf alle viere begeben. Donna starrte sie mit ihrem leeren Blick an. Melissa kroch in den Tunnel, ließ die Füße, die noch in Schuhen steckten, draußen und versuchte, ihn dort wegzulocken. »Du bist zu klein dafür, Liebes. Komm her, komm raus da.«
Da fing er richtig an zu heulen, mit weit geöffnetem Mund, in voller Lautstärke, die Kehle entblößt. Im pädagogischen Krieg mit sich selbst, zwischen dem Eingehen auf die Wünsche der Kinder und dem Wahren der eigenen Bedürfnisse, kommt irgendwann der Punkt der Kapitulation. Man muss sich selbst loslassen, vielleicht nur für einen kleinen Moment, wobei diese vielen kleinen Momente schrittweise zu immer längeren Momenten werden, quasi wie Zellen miteinander verschmelzen, und eine neue Person formen, bis man nicht mehr wirklich man selbst ist. Dort war ihr Sohn, ihr kleiner, kreischender, krabbelnder Sohn, der nur nach oben wollte, und wie konnte sie ihm das verwehren, nachdem sie ihrer verkrüppelten Tochter bereits das volle Vergnügen eines wissenschaftlichen Hello-Kitty-Unterwasser-Experiments versagt hatte? Wenn man in Situationen, die Selbstlosigkeit erfordern, versucht, an sich selbst zu denken, führt das zu Kummer. Es gab nur eine Möglichkeit.
»Okay, Blake«, sagte sie. »In Ordnung.«
Sie setzte sich auf den leuchtend rot gepolsterten Boden. Sie würden zusammen hochklettern. Sie würden nach oben gelangen. Sie löste ihre schlammbespritzten Schnürsenkel, streifte sich die Turnschuhe ab und steckte sie zu den anderen in den Beutel.
Nach dem Mittagessen kam der Mausmann zurück zu ihrem Haus in der Paradise Row, das immer mehr einer lebendigen, bedrohlichen Gestalt ähnelte, mit seinem weißen steinernen Gesicht und den beiden Fensteraugen, die ins Freie hinausblickten und einen drinnen gefangen hielten. Staub wirbelte durch die Luft. Die schiefen Böden wurden immer schiefer. Der schmale Flur wurde immer schmaler. Während des Mittagessens weigerte sich Ria, ihre Fischstäbchen zu essen. »Nicht durchschneiden«, befahl sie, aber Melissa schnitt sie aus reiner Boshaftigkeit in Stücke. »Wenn du das noch mal machst, werde ich wütend, Mama«, verkündete sie und ließ die Fischstäbchen, ebenfalls aus reiner Boshaftigkeit, auf ihrem Teller liegen. Melissa überlegte, wie sie mit dieser Provokation umgehen sollte – sollte sie Ria zwingen, sie zu essen, sie bestrafen wegen eines Fischstäbchens? »Mutter sein bedeutet, sich selbst auszulöschen«, sagte sie. »Was?«, fragte Ria. »Wie bitte, nicht was.« »Wie bitte. Was?« »Mutter sein bedeutet …« Da hörte sie das strenge britische Klopfen an der Tür. Sie erkannte es wieder. Rentokil. Derselbe Anorak und Hut, dasselbe Hitler-Bärtchen.
»So«, sagte er, während er mit gezücktem Klemmbrett die Küche betrat. Dies war sein dritter und letzter Besuch. Ria saß mit ihren rissigen Händen am Tisch und starrte ihn an. »Hat es weitere Sichtungen gegeben? Angeknabberte Köder? Kot?«
»Angeknabberte Köder?«, fragte Ria. »Was für angeknabberte Köder?«
Blake wackelte in seinem Kinderstuhl so stark herum, dass er jeden Moment umzukippen drohte, also hob Melissa ihn heraus. Er stopfte ihr Kartoffelpüree ins Ohr, fand das todkomisch und versuchte es erneut. Melissa lieferte währenddessen ein Mäuse-Update: keine weiteren Sichtungen, kein Kot.
»Die Köder habe ich allerdings nicht überprüft.«
»Aha!«, rief er, als er sich neben die Fußleisten kniete. »Der hier ist angefressen, sehen Sie?«
In dem blauen Gift waren unheilvolle Bissspuren zu erkennen, was bedeutete, dass irgendwo in ihren vier Wänden eine Maus dahinsiechte oder bereits tot war. Der Kadaver konnte überall liegen. »Können Sie sagen, wann?«, fragte Melissa. »Wann er angefressen wurde, meine ich. Wie lange dauert es, bis sie sterben?«
»Oh, wer weiß das schon«, sagte der Rentokil-Mann, offenbar beglückt über die Gelegenheit, die ihm die Frage bot. »Es hängt von der Größe und Konstitution des kleinen Kerls ab. Ob er es nach draußen schafft, bevor das Gift zu wirken beginnt. Drinnen braucht es definitiv länger. Die Kälte beschleunigt die Sache ein wenig, wissen Sie … Aber aufgrund der Größe der Bissspuren schätze ich«, sagte er und rieb sich das Kinn, »dass es sich um eine kleine Maus handelt. Je kleiner sie sind, desto schneller sterben sie, und desto unwahrscheinlicher ist es, dass sie es bis nach draußen schaffen. Sie wollen gar nicht nach draußen, so sieht es aus, schon gar nicht, wenn ihr letztes Stündchen geschlagen hat. Sie möchten in der warmen Stube bleiben.«
Melissa lachte. In der warmen Stube! So viele Informationen, so viele Einzelheiten. Der Rentokil-Mann fand das nicht lustig. Verständnislos sah er sie an, seine Augen schimmerten vor Mitgefühl mit der Seele der verlorenen Maus, die zugebissen hatte. Mit einem Mal musste Melissa an Brigitte denken. Brigitte hatte dieses Haus verlassen wollen. Deshalb hatte sie gelogen, was die Mäuse anging, deshalb hatte sie versucht, Lily in ihrem Zimmer zu verstecken. Das Haus war vergiftet. Etwas stimmte tatsächlich nicht damit. Brigitte hatte um jeden Preis ausziehen wollen und nicht zugelassen, dass irgendetwas ihre Pläne durchkreuzte.
»War das dann alles?«, fragte sie den Rentokil-Mann. »Ich bin ziemlich beschäftigt, von daher …«
Zwiebeln. Knoblauch an der Haustür. Was hatte ihre Mutter noch gesagt?
»Ich muss nur kurz Ihre Rechnung ausdrucken«, sagte er, setzte sich Ria gegenüber an den Tisch und holte wieder seinen raffinierten Minidrucker hervor.
»Lassen Sie das mit der Rechnung. Schicken Sie sie mir einfach zu.«
Sie warf ihn buchstäblich raus. Er fing an, noch etwas über die Mäuse zu erzählen, etwas Abschließendes, Zusammenfassendes, um die freundliche Ungeziefervernichtung an sie zu übertragen, doch sie wollte nichts mehr davon hören. Er wieselte davon, ließ das Tor hinter sich zuknallen. Es war Januar in Bell Green, und sie war immer noch dort, im Londoner Stadtbezirk Lewisham.
Lidl war billiger. Wie clever dieser Dieter Schwarz doch war, der es möglich gemacht hatte, Müsli zu einem Viertel des Preises zu kaufen, zu dem man es bei Japan bekam. Wie viel billiger waren die Hähnchen, die Küchentücher, die Fruchtsäfte und das Gemüse dort, alles in vernünftiger Qualität, solange man sich von den absoluten Billigmarken fernhielt. Halb Fabrik, halb Supermarkt. Wozu sich die Mühe machen, Hunderte Produkte aus großen Kisten zu befreien, wenn man sie einfach darin lassen und ins Regal stellen kann, damit die Leute sie sich selbst herausholen? Und ist es wirklich eine solche Unannehmlichkeit, vier Dosen Heinz Baked Beans zu kaufen anstatt nur eine oder zwei oder eine Vierer- statt einer Zweierpackung Küchentücher? Die Herzen der Menschen, die bei Lidl einkaufen, sind von stiller Freude erfüllt und von einem unterschwelligen Gefühl der Kameradschaft. Sie haben einen Prozess der Veränderung durchlaufen. Sie kaufen in Massen und haben neue Produktnamen, neue Geschmäcker entdeckt – wie die Walnüsse mit Honiggeschmack aus Dänemark. Sie empfinden fast so etwas wie Zuneigung gegenüber den Tiefkühltruhen voller Fleisch, Pizza, Eis und Reisgerichten, als gehörten sie ihnen, so spottbillig sind die Sachen. Es gibt keine unnötige Musikbeschallung, kein »Lidl Radio«. Einfach nur nackte, karge, elementare Stille. Und was macht es schon, dass an der Kasse neben dem Ellenbogen der Verkäuferin kaum Platz bleibt, um seine Einkäufe zu verstauen, oder dass man länger ansteht als anderswo, weil es nur zwei Kassiererinnen gibt, die, nebenbei bemerkt, unterbezahlt sind, und dass Mitarbeiterinnen für eine Schwangerschaft bestraft werden und ihnen das Recht verwehrt wird, einer Gewerkschaft beizutreten, wenn man zum Preis von achtzehn Pfund und siebenundvierzig Pence mit einem Wochenvorrat an Lebensmitteln für eine vierköpfige Familie davonspazieren kann? Sogar ein Zelt könnte man hier in einem Aufwasch einkaufen. Lidl war ein Wunder.
Michael hatte nachmittags eine mittlerweile standardmäßig kusslose Lebensmittel-SMS von Melissa erhalten und durchkämmte die Gänge auf der Suche nach Dingen; nach den Dingen, um die sie gebeten hatte, und nach denen, die er zufällig entdeckte – momentan begutachtete er eine große Tüte Chips mit Tikka-Masala-Geschmack. Er fand Lidl tröstlich. Es war das Geschäft der armen Schlucker, das Einkaufszentrum der Arbeiterklasse. Hier wurde nichts vorgetäuscht, hier waren alle gleich, vereint in ihrer krisenbedingten Sparsamkeit. Ebenso auf der Suche war ein dunkelhäutiger Mann mit einem langen weißen muslimischen Gewand und einer Kappe, der mit versunkenem, gutmütigem Gesichtsausdruck einen randvollen Einkaufswagen vor sich herschob. Sie trafen sich bei der Sojamilch wieder, als Michael gerade zu entscheiden versuchte, ob er wohl die ungesüßte nehmen sollte. Der Mann deutete darauf und sagte: »Die ist gut, die ist sehr, sehr gut«, und obwohl Michael ihm einen Moment lang den Weg blockierte, kam keine Ungeduld auf, keine Einkaufswagen-Aggression, was bei Lidl selten der Fall ist. Sie fuhren einfach beide mit dem Einkaufen fort, in subtiler, flüchtiger brüderlicher Verbundenheit. Es war ein gutes Gefühl. Es war beruhigend.
An diesem besonders kalten und verregneten Freitagabend war Lidl zudem ein Ort der Zuflucht. Michael hatte keine Lust, nach Hause zu gehen. Seine Freitagabende, traditionell dem Feiern, der Entspannung und dem Vergnügen gewidmet, wurden immer deprimierender. Er wollte nicht nach einer weiteren Arbeitswoche zu der Frau zurückkehren, die mit diesem anderen Mund am Spülbecken stand, wollte nicht die große Leere spüren, die das Haus erfasste, nachdem die Kinder ins Bett gegangen waren, während er so große Sehnsucht empfand, nach irgendetwas, nach ein wenig Herzenswärme, und auch Melissa sehnte sich nach etwas, aber nicht nach ihm, sondern nach etwas anderem, einem anderen Ort. Er wollte so nicht leben, außerdem plagte ihn wegen der Sache mit Rachel das schlechte Gewissen. Seit jenem ersten Mal hatten sie sich noch zwei weitere Male gesehen, das erste Mal in ihrer Wohnung, wieder in der Nähe des Waschbeckens, das zweite Mal in einem Hotel, nachdem er wegen des Waschbeckens so weit gegangen war, für den Abend ein Zimmer zu reservieren und Melissa eine Lüge aufzutischen, was seinen Aufenthaltsort anging. Beide Male hatte ihm Rachel die Wärme gegeben, die er brauchte, ihn fest umschlossen mit ihrem weichen, offenen Körper, und er spürte, dass sie ein wirklich gutes Herz besaß, doch er stillte damit nur ein rein körperliches Bedürfnis. Danach fiel er in ein seelisches Loch, spürte einen Selbsthass, der ihn auf Schritt und Tritt begleitete, und wenn er in die Gesichter seiner Kinder blickte, schmerzte ihn die Liebe in ihren Augen, ihre Intensität, sie konnten ihn nicht mehr reinwaschen. Tatsächlich fiel es ihm leichter, Melissa anzusehen, obwohl ihm klar war, dass er ihr am meisten unrecht getan hatte, doch aus Melissas Augen konnte er keine Liebe erwarten, konnte ihr nur in dieser Leere begegnen, im Zurückhalten der Gefühle, die sie, die er vielleicht empfand.
Er war bis dahin noch nie mit einer weißen Frau zusammen gewesen, nicht zu hundert Prozent. Der äußerliche Unterschied zwischen ihnen war minimal, sein Braun an ihrem hellen Oliv. Der wirkliche Unterschied lag in ihrem Leben, in ihrer Geschichte. Sie würde ihn nie voll und ganz verstehen können, weil sie ein anderes Leben gelebt hatte als er. Sie gehörte nicht der schwarzen Welt an, die ihn Furcht, Zorn und Misstrauen gelehrt hatte. Er hörte sich dabei zu, wie er ihr Dinge erklärte, und es behagte ihm nicht, das tun zu müssen; Melissa, Gillian und alle anderen zuvor hatten diese Dinge bereits gewusst, er musste ihnen nichts erklären. Selbst wenn sie es nicht selbst erlebt hatten, wussten sie, was er meinte, weil sie genauso oder ähnlich beschaffen waren wie er. Der Unterschied zwischen Rachel und ihm war innerlich, lag hinter ihren Augen, in den Linsen und Prismen ihrer Wahrnehmung, die von der Außenwelt bestimmt wurde. Und wenn er mit ihr durch die Straßen lief, war er angespannt, nicht nur aus dem offensichtlichen Grund, dass er seine Frau betrog, auch nicht aus Sorge, was die Leute über ihn denken mochten, über sie beide als mögliches Paar, sondern weil sie nicht wusste, was er unterwegs sah, das Elend, das Lachen und die Traurigkeit der Schwarzen um ihn herum – die Anmut der drei schwarzen Jungen, die gestern auf der Straße gesungen hatten, oder die Bedrohung einer Englandfahne mit Georgskreuz an einem Balkon in Londons tiefem Süden sowie die nie enden wollende Trauer um den schwarzen Studenten Stephen Lawrence in diesem tiefen Süden, um alle Stephens und ihre ermordeten Vorgänger. Oder die Grazie des Sojamilch-Moments gerade eben, die flüchtige Brüderlichkeit. Es würde ihr kein Lächeln ins Gesicht zaubern. Sie würde es nicht verstehen, so wie Melissa verstand. Ihr Leben sprach eine andere Sprache.
Michael gestand sich jetzt ein, in der Geborgenheit und im grellen Licht von Lidl, dass Rachel ihm nichts geben konnte, ganz egal, was sie ihm gab. Nichts von Dauer, nicht genug. Rachel war nur eine Art, Melissa zu vermissen. Rachel war nur eine Art, Melissa zu brauchen. Melissa war der Oberburner, sie war immer noch die einzig Wahre, und weder Rachel noch irgendeine andere kamen an sie heran, und während ihm das klar wurde, begriff er, dass er sie betrogen hatte, seine Kaiserin, seine Meerjungfrau, vollkommen sinnlos, weil er es die ganze Zeit gewusst hatte. Alles, was ihm jetzt noch blieb, war seine Sehnsucht nach ihr, auf körperlicher, seelischer und geistiger Ebene, er wollte sie voll und ganz, auch jetzt noch, und er wollte, dass auch sie ihn brauchte, so wie sie es zu Anfang getan hatte. Doch die einzige Möglichkeit, eine minimale Möglichkeit, an einen guten Ort zurückzukehren, bestand darin, ihr von Rachel zu erzählen. Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag direkt aus dem Müsliregal, denn nur Melissa aß Müsli, und er überlegte gerade angestrengt, welches Müsli er für sie kaufen sollte: Orange mit Cranberry oder Kokos mit tropischen Früchten. Du musst es ihr erzählen, sagte das Müsli, und zwar jetzt, heute Abend, damit ihr noch einmal von vorn anfangen könnt, auf Grundlage der absoluten Wahrheit, vollkommener Aufrichtigkeit. Die Wahrheit ist das einzige Fundament, um die Dinge wieder in Ordnung zu bringen, so wie Erde das einzige Fundament ist, um ein Haus wiederaufzubauen. Geh heim. Kehr zurück nach Hause und erzähl deiner Frau, was du getan hast, und ganz egal, was passiert, ganz egal, wie sie reagiert, nimm es so an, mach dich auf alles gefasst. Lass eine Steinlawine auf deine Schultern niedergehen. Lass die Lava fließen. Das ist das mindeste, was du tun kannst. Und er hatte den Eindruck, dass das Müsli mit Kokosnuss und tropischen Früchten diese Worte an ihn richtete, also legte er es in seinen Einkaufskorb und ging direkt an die beengte Kasse.
Er lief die Hauptstraße entlang, ins Zentrum von Bell Green, Regen nieselte ihm auf die Stirn, in der Luft hing der Geruch des langen Winters, der Sirenenlärm des beginnenden Wochenendes. Die Fenster der Hochhäuser, die sich um die Grünfläche neben der Bibliothek herumgruppierten, waren erleuchtet, ebenso die Wohnsiedlung am oberen Ende der Paradise Row und die schmalen Häuser entlang der abschüssigen Biegung. Mrs Jackson lief wieder einmal draußen herum. Und auch diesmal brachte Michael sie nach Hause, und sie blickte zu ihm auf, so wie sie es immer tat. »Sie sind meinem Sohn Vincent wie aus dem Gesicht geschnitten.« Er wartete eine Weile, um sich zu vergewissern, dass sie im Haus blieb, aber in Wahrheit versuchte er nur, Zeit zu schinden. Vor der Tür zur Nummer dreizehn blieb er stehen, verängstigt.
Beim Betreten des Hauses fiel ihm als Erstes der Knoblauch auf, der an einem Kleiderhaken an der Innenseite der Haustür hing. Er hörte das Plätschern von Badewasser. Melissa kam mit Blake auf dem Arm vorbei, der in ein Handtuch gewickelt war, bedachte ihn mit einem eckigen Lächeln und sagte: »Ich bringe ihn ins Bett, er ist müde.« »Lass mich das machen«, sagte Michael. Er hatte ihn seit dem frühen Morgen nicht gesehen. Um wie viel war er in den letzten Stunden gewachsen? Welche neuen Gesichtsausdrücke beherrschte er? Man konnte so viel verpassen. Man konnte so viele kleine Momente verpassen, in denen ein kleiner Junge zu einem ganzen Mann wird. Er trug ihn nach oben und zog ihn zum Schlafen um. Er las ihm Die kleine rote Henne vor und legte ihn im zweiten Zimmer ins Bett. Michael betrachtete ihn beim Einschlafen, sein verebbendes Blinzeln, seine ungeheure Jugend, sein unschuldiges Gesicht, unberührt von Augenringen, Falten, Zeit, und er verspürte das beruhigende Gefühl, dass dies das Einzige war, was zählte, dieses kleine, aber bedeutsame Königreich zu bewahren. Bevor er wieder nach unten ging, zog er sich die Arbeitskleidung aus und schloss die Außenwelt weg, damit er sich ganz auf die bevorstehende Aufgabe konzentrieren konnte. Während er sich umzog, bemerkte er eine halbe Zwiebel auf der Fensterbank neben seinem Kleiderschrank. Verwirrt nahm er sie in die Hand. Das Müsli flüsterte ihm immer noch zu: Jetzt, du musst es ihr jetzt erzählen.
»Mit diesem Haus stimmt etwas nicht, Michael«, sagte Melissa, als er den Essbereich betrat. Sie war damit beschäftigt, Platzdeckchen sauber zu wischen und sie übereinanderzustapeln. Jedes Mal wenn sie ein weiteres auf den Stapel legte, drückte sie es fest darauf, als könnte es sonst weglaufen. »Ich weiß es. Frag mich nicht, warum, ich weiß es einfach.«
»Was soll die halbe Zwiebel im Schlafzimmer? Ich habe sie auf der Fensterbank gefunden. Sie stinkt.«
»Hast du sie weggenommen? Leg sie wieder dahin zurück, ich habe sie absichtlich dort hingetan!«
»Wieso? Und was hat es mit dem Knoblauch auf sich? Was ist hier los?«
»Meine Mutter meinte, das würde helfen.«
»Wogegen?«
Sie sah ihn zweifelnd an. Er würde es nicht verstehen. Nachdem sie ihm von dem Nachtwesen erzählt hatte, hatte er herablassend reagiert und gesagt, es gäbe keine Geister, obwohl sie ihm zu erklären versucht hatte, dass es kein Geist im eigentlichen Sinn war, sondern Energie, Spannung, ein düsterer Abdruck in der Luft.
»Hast du dir in letzter Zeit einmal Rias Hände angeschaut?«, fragte sie. »Sie sind furchtbar trocken, wie Sandpapier. Ich erinnere sie immer wieder daran, sie mit Sheabutter einzucremen, aber es scheint nicht zu helfen. Sie sind – staubig. So wie dieses Haus. Siehst du den Staub nicht? Er ist überall. Und dann diese weiße Schmiere auf meinen Flip-Flops … Ich glaube, wir sollten ausziehen.«
Sie wartete darauf, dass er etwas sagte, auf eine ermutigende Antwort, die nicht aus »In Ordnung« bestand.
»Ich glaube, du interpretierst da zu viel rein«, sagte er und schob die Zwiebel auf dem Tisch langsam von sich weg.
»Ich wusste, dass du so etwas sagen würdest.«
Das Gespräch schien in eine Sackgasse zu münden. Wie sollte er da eine Schneise für sein jämmerliches Geständnis finden? Er musste Fingerspitzengefühl an den Tag legen, sie durfte nicht glauben, dass er sie für verrückt hielt. Er musste dem Müsli gehorchen. Womöglich würde es nie wieder so eindringlich zu ihm sprechen, und dann wären sie für immer verloren.
»Es ist ein altes Haus«, sagte er und zuckte mit den Schultern. »In alten Häusern sammelt sich einfach zu viel Staub, nehme ich an.«
»Der in die Hände der Kinder eindringt und sie austrocknet?«
»Was hat der Staub mit Rias Händen zu tun? Wahrscheinlich ist es bloß ein Ekzem oder dergleichen, Mann, geh einfach mit ihr zum Arzt.«
»Ich soll mit ihr zum Arzt gehen?«, fragte Melissa und wedelte drohend mit einem Platzdeckchen. »Nicht du? Warum bin ich immer diejenige, die sie mitten am Tag zum Arzt bringt, ins Spieleparadies, zu Baby Beat, zu den Spielwiesen, ins Krankenhaus, zu Little Scamps?«
»Herrgott, nicht schon wieder diese Leier. Ich muss zur Arbeit gehen. Es ist ja nicht so, dass ich …«
»Ja, schon gut, schon gut, ich weiß. Es ist das unlösbare Problem, nicht wahr? Aber egal, ich schweife ab. Habe ich dir je von Lily erzählt?«
Michael schluckte seinen Ärger hinunter, von der Frage aus dem Konzept gebracht. Er hatte keine Ahnung, wovon sie sprach. Sie war nicht ganz bei sich, er konnte nicht wütend auf sie sein. Er seufzte. »Wer ist Lily?«
»Das Mädchen, das hier war, als ich das Haus zum zweiten Mal besichtigt habe. Brigittes Tochter. Sie hat gehumpelt. Und sie hatte seltsame Hände. Ich erinnere mich noch daran. Sie waren sehr weiß, ausgetrocknet, fast pudrig. Vielleicht …«
»Was?«
»Vielleicht ist hier etwas, das … Mit diesem Mädchen stimmte etwas nicht. Sie hatte etwas Bösartiges an sich. Es wirkte, als wäre sie, ich weiß nicht, als wäre sie kein echter Mensch oder als wäre sie von etwas besessen. Ich kann es nicht erklären …« Sie brach ab, weil Michael sie auf vernichtende Weise ansah, sodass jedes Wort verpuffte, sobald es in seine Hörweite gelangte.
»Ich höre dir zu«, sagte er.
»Nein, tust du nicht.«
»Doch. Du glaubst, diese Lily hätte irgendetwas mit dem Staub zu tun und mit Rias Hautausschlag und dass …«
»Es ist kein Hautausschlag. Es ist anders als ein Ausschlag. Außerdem ist das nicht alles, da ist noch ihr Bein, ihre Haare haben Feuer gefangen, hier an diesem Tisch, erinnerst du dich? Seit wir hierhergezogen sind, gab es einfach – Herrgott, Michael, hörst du bitte auf, an deinem Schwanz rumzufummeln, wenn ich versuche, mit dir zu reden!«
So wie viele Männer besaß Michael die Angewohnheit, sein Skrotum zurechtzurücken, wenn er es sich zu Hause bequem machte, eine private Angelegenheit, die ihm seiner Ansicht nach in seinen eigenen vier Wänden zustand, schön und gut, aber Melissa konnte es nicht ausstehen.
»Ich habe nun mal einen Penis«, sagte er entnervt, »okay?«
»Ich weiß, und du hast mein volles Mitgefühl. Aber warum kannst du nicht etwas diskreter damit umgehen? Warum musst du mich immer auf derart unschöne Weise daran erinnern?«
Das schien der perfekte Moment für sein Geständnis zu sein, wo sie schon einmal beim Thema waren, doch unter den gegebenen Umständen kam es nicht so heraus, wie er geplant hatte, denn es schwang Gehässigkeit darin mit. Er wollte, dass sie sich schlecht fühlte, wollte ihr die Bedeutung seines Penis in Erinnerung rufen, wie sträflich sie ihn vernachlässigt hatte, was einen Ausflug in eine andere Öffnung erforderlich gemacht hatte. Er sagte: »Tja, irgendwer muss ihn ja wahrnehmen. Und jemand hat ihn wahrgenommen, jemand … anders …«
Er brach ab, verlor den Faden, rückte aus Nervosität erneut sein Gemächt zurecht und zog durch dieses zweite Zurechtrücken in so kurzer Zeit Melissas Hass einmal mehr auf sich, stärker als mit dem Inhalt seines Geständnisses, das in diesem Moment eher nebensächlich erschien.
Sie lachte über ihn. »Ach wirklich? Heißt das, du hast jetzt eine Geliebte?«
Er wirkte eingeschüchtert, wie ein kleiner Junge, der erwartet, bestraft zu werden, doch es schwang eine Spur Selbstgefälligkeit darin mit, er wollte bestraft werden. »Ich würde nicht sagen, dass sie meine Geliebte ist. Wir sind nicht zusammen. Es ist nur ein paarmal etwas zwischen uns gelaufen. Aber es ist vorbei …«
Doch Melissa schien ihm gar nicht mehr zuzuhören. Sie strich den Platzdeckchenstapel mit übertriebener Pedanterie glatt, sah ihn nicht einmal an. Ihr Gesicht war ausdruckslos, hüllte sich in Dunkelheit. »Die Deckchen sind glatt«, sagte er. »Hast du gehört, was ich gesagt habe? Es war nur ein blöder Ausrutscher, weil ich das Bedürfnis nach etwas Aufmerksamkeit hatte.« Er dachte an John Legends Song »Number One«, dessen Kernaussage den Schluss seiner Erklärung bilden sollte. »Und ich wollte, dass du es weißt, damit wir noch einmal von vorn …«
Wieder lachte sie, diesmal war es ein Kichern, und sie schüttelte den Kopf. Melissa besaß die Angewohnheit zu kichern, wenn sich in ihrem Gehirn starke widerstreitende Gefühle ballten – Frustration, Wut, Kränkung, Empörung, Hunger. »Männer glauben, sie wären besser als Gras«, sagte sie.
»Was?«
»Das ist aus einem Gedicht von W.S. Merwin. Männer glauben wirklich, sie wären besser als Gras. Jetzt verstehe ich genau, was diese Zeile bedeutet. Beim ersten Lesen war mir nicht ganz klar, was damit gemeint war, aber es hat mir gefallen, deshalb habe ich es mir gemerkt. Ich meine, wie kommst du darauf, dass mich das irgendwie tangiert? Gras wächst weiter. Bäume bleiben stehen. Wind weht. Ihr Männer glaubt, dass sich die ganze Welt nur um euren Schwanz dreht. Aber glaub mir, das tut sie nicht. Erspar mir die Details und die gefühlsduselige Hintergrundgeschichte, ganz ehrlich, es ist in Ordnung, Michael, du kannst ihn reinstecken, wo du willst. Immerhin eine Sache weniger, um die ich mir Gedanken machen muss.«
Michael war sprachlos. Wo war ihre Lava, die Lawine? Wo waren ihre Gefühle, ihr verfluchtes Herz? »Moment, warte mal. Liebst du mich?«, fragte er.
»Was?« Sie war bereits auf dem Weg in die Küche und drehte sich noch einmal zu ihm um, blieb im Eingang stehen, vor dem feurig leuchtenden Paprikaboden.
»Liebst du mich?«
»Warum fragst du mich das jetzt?«
»Weil ich es ernsthaft wissen will. Es interessiert mich. Also?«
Sein Gesicht war verzerrt, sah älter aus als nur wenige Minuten zuvor. Er wirkte verwahrlost und abgekämpft. Er tat Melissa leid, und mit einem Mal stieg in ihr ein altes Bild von ihrer großen Liebe füreinander auf, und es machte sie traurig. Sie vermisste ihn. Sie vermisste sie beide. Irgendwo war sie verletzt, weil er durch ihre Liebe ihr gehört hatte, aber sie spürte den Schmerz nicht als ihren eigenen, konnte nicht sicher sagen, ob er nur deshalb da war, weil er da sein sollte. Wer war sie wirklich, in ihrem tiefsten Inneren? Es war, als gäbe es zwei Melissas, eine im Vordergrund und eine andere, die im Hintergrund ertrank.
»Es ist nicht gerade der beste Zeitpunkt, um mich das zu fragen, oder?«, fragte sie.
»Natürlich liebt sie dich, Daddy«, kam eine zartere Stimme von hinten, durch die Doppeltür, aus dem Badezimmer. Die Tür schwang auf, Krücken klapperten, und da stand Ria, nackt, einen Arm auf ihre Krücke gestützt, die andere Hand an der Türklinke. Ihr feuchtes schwarzes Haar fiel offen, geglättet und geschmeidig an ihrem Gesicht herunter wie ein bedächtiger prähistorischer Wasserfall. Ihre Augen waren riesig, rund und glänzend, ihre Wimpern rußige Sonnenaufgänge. Sie war eine Vision ursprünglicher schwarzer Schönheit, das bezauberndste beschädigte Wesen, das sie je gesehen hatten.
»Hallo«, sagte Michael sanft, ging in die Hocke und streckte die Hand nach ihr aus, als wäre sie eine Erlöserin.
Sie hinkte auf ihn zu. Ihm war zum Heulen zumute. Es hat etwas Grausames an sich, das eigene Kind humpeln zu sehen.
»Kaufst du mir ein Geschenk?«, fragte sie, bei ihm angekommen, während er ihre Hände hielt und zu ihrem Gesicht aufsah. »Wenn mein Gips ab ist?«
Ria wusste, dass sie in diesem Moment alles bekommen hätte, worum sie bat. Sie schenkte ihnen ein Lächeln, genoss die Aufmerksamkeit. Sie war sich ihrer Macht bewusst.
»Nur eins«, sagte sie, »ein kleines.«
Michael zog sie an sich, nahm sie auf den Schoß und blickte auf ihre Hände.