Weiße Absperrbänder wehten um den Hähnchengrill. Auf der Straße Polizei. Sirenengeheul. Abgesehen davon herrschte Stille. Die Luft war träge. Die Sonne wirkte fehl am Platz. Letzte Nacht hatten die Straßen gespürt, wie ein Junge emporgestiegen war. Sein Blut war nach unten geströmt, seine Seele hinauf. In den ersten Stunden wusste niemand, wer er war, außer den Menschen, die ihn verloren hatten, und, wenn auch oberflächlich, seinen Mördern. Am nächsten Morgen wussten es alle. Es war Justin. Der Junge, der nicht singen konnte, der Junge, der Robbie Williams’ »Angels« ans Kreuz genagelt hatte.
Eine Frau an der Straßenecke sagte: »Ich gehe nie in diesen Park. Jetzt weiß ich auch, warum.«
Eine andere sagte: »Die haben ihn gehetzt wie eine Meute Hunde. Bestien. Das sind Bestien.«
Man konnte sich die ganze Geschichte zusammenreimen, indem man einmal die Straße entlanglief. Weiter hinten, an der Kirche: »Es war Paulines Sohn, der jüngere.«
An der nächsten Biegung: »Er ist in den Hähnchengrill gerannt, hat da Hilfe gesucht …«
»… der Krankenwagen kam zu spät …«
»… dreizehn Jahre alt …«
»Ich bin so wütend. Ich bin so wütend«, sagte eine Mutter, an eine Gartenmauer gelehnt, eine Hand auf dem Kinderwagen, hinter ihr leuchtend weiße Rosen, Frühlingsvorboten. »Als ich es in den Nachrichten gehört habe, musste ich einfach beten.«
»Ja. Ja«, sagte eine andere.
»Sie wissen schon, diese ganz bestimmte Art von Gebet – ich habe gleichzeitig gebetet und geflucht. Gott ist so grausam. Wie konnte er das zulassen? Mein Glauben ist erschüttert.«
»Das muss aufhören.«
»Zu viele von unseren Kindern sterben.«
Folgendes war passiert: Justin hatte einen älteren Bruder, Ethan, und Ethan war Justins Fixstern in der Welt. So war es schon immer gewesen. Wenn Ethan rannte, rannte Justin. Wenn Ethan mit seinem Fahrrad im Affenzahn über die Straße neben dem Park auf den Kreisverkehr zuraste, versuchte Justin, es ihm gleichzutun, obwohl seine Reifen kleiner waren und seine Beine kürzer. Er wollte so groß sein wie Ethan, so schnell wie Ethan, so cool wie Ethan, trug seine Kappe so schräg auf dem Kopf wie Ethan, die Jeans so tief auf der Hüfte wie Ethan, versuchte, Ethans breiten, geschmeidigen, katzenartigen Gang nachzuahmen, bei dem seine Turnschuhe federnd, gezielt und bedacht auf dem Straßenpflaster aufsetzten, es in- und auswendig kannten, jede Delle und jeden Riss seines Reichs, es sich zu eigen machten. Und Pauline hatte sie immer mit Sorge beobachtet. Sie wusste, dass ihr Einfluss auf Justin begrenzt war, dass Justin immer zu Ethan halten, ihm immer folgen würde. Ethan hatte die Schule nicht abgeschlossen, wie sie gehofft hatte, also ruhten all ihre verbliebenen Hoffnungen auf Justin, der immer artig gewesen war, aufgeweckt, fleißig, ein guter Schüler, sie hatte sich ausgemalt, wie er eines Tages Rechtsanwalt oder Dozent werden würde, groß und stolz, in einem schicken Anzug. Ethan hing immer mit den anderen Jungs in der Gegend herum, mit den Jungs, die die Schule ebenfalls abgebrochen hatten, im Mondschein an der Straßenecke rauchten, in den Innenhöfen der Wohnhäuser oder auf dem verlassenen Kinderspielplatz, die nichts Vernünftiges zu tun hatten. Ihre Aktivitäten waren äußerst zwielichtig. Sie vertickten Gras, hauptsächlich Skunk. Auf diese Weise wollten sie zu Ferraris kommen, nicht auf die andere, aufrechte Weise, die ihnen zu mühselig erschien, zu langwierig, zu mittelmäßig. In dieser Art Leben gab es gewisse Hierarchien und umkämpfte Postleitzahlen-Gebiete. Man konnte sein eigenes Todesurteil unterschreiben, indem man sich nach Dulwich wagte. Man konnte aus Peckham oder aus Camberwell verbannt werden. Zwischen den jugendlichen Postleitzahlen-Gangs kam es zu Showdowns, bei denen silberne Klingen gezückt wurden und manchmal auch Schusswaffen. Und letzte Nacht war es im Park zu einem solchen Showdown gekommen, neben der Bibliothek, gegenüber dem Hähnchengrill, zwischen dem Tattoo-Studio und dem Friseur, nicht weit vom unteren Ende der Paradise Row. Ethan und seine Gang hatten einen Streit mit ein paar Leuten aus Catford gehabt, bei dem es um eine Pistole gegangen war, die Justin für Ethan verstecken sollte, doch Pauline hatte sie gefunden und bei der Polizei abgeliefert, die wiederum den Besitzer ausfindig gemacht hatte, und jetzt sann die Catford-Gang auf blutige Rache, für deren Umsetzung das neueste und jüngste Mitglied auserkoren worden war, ein vierzehnjähriges Mädchen, das sich die endgültige Aufnahme in die Gruppe erst noch durch eine angemessen grausame Tat verdienen musste.
Ethan hatte Justin nicht nur aufgetragen, die Pistole zu verstecken (ursprünglich stammte sie aus einer Waffenfabrik in Berkshire), sondern ihm auch ein paarmal erlaubt, nach der Schule mit ihm im Hof abzuhängen, während ihre Mutter noch arbeiten war. Doch meistens sagte er nein, Justin solle auf seine Mutter hören und seine Hausaufgaben machen. Auch gestern Abend hatte er nein gesagt, als er in seinem Zimmer vor dem Spiegel gestanden, sich die Kappe und den Nietengürtel angezogen und mit kritischem Blick überprüft hatte, ob seine Gesamtaufmachung der eines harten Kerls entsprach. Im Spiegel sah er Justin, der hinter ihm auf dem Bett saß, immer noch in dem weißen Polohemd und der schwarzen Hose, wie er aus der Schule gekommen war, und sagte: »Ich will mitkommen.« Justin sah sich gern als Ethans Juniorpartner in der Gang, er mochte es, dass alle ihn Little Man nannten, ihn aber für voll nahmen. Sein zweiter Spitzname lautete »Der Singende Professor«, weil er so viel lernte, so gern sang und alle Arten von Musik hörte, besonders die alten Soul-Schallplatten seiner Mutter. »Ach, komm schon, nimm mich mit«, drängte Justin Ethan. »Nein«, wiederholte Ethan. Justin ließ nicht locker: »Ich komme trotzdem mit. Du kannst es mir nicht verbieten. Ich kann hingehen, wo ich will.« »Du bleibst besser hier, Mann, ich mein’s ernst«, sagte Ethan. »Bleib einfach hier. Ich bin bald wieder da, okay? Okay?« »Okay, okay«, sagte Justin, ging in sein Zimmer und zog sich um, Jeans und dazu ein gelbes T-Shirt, sein Lieblings-T-Shirt, ein T-Shirt, das ihm passend erschien, denn er würde an diesem Abend auf jeden Fall in den Park gehen, egal, was Ethan sagte. Justin kam allmählich in ein Alter, in dem er sich Ethan fast ebenbürtig fühlte, wo seine Worte beinahe ebenso viel Gewicht besaßen wie Ethans. Außerdem war er beunruhigt über den Ton gerade eben in Ethans Stimme, über das plötzliche Aufblitzen von Angst in seinen Augen.
Ethan musterte sich ein letztes Mal eingehend im Spiegel, schob für alle Fälle ein Klappmesser in seine Jeanstasche. Es war ein kleines, scharfes Schweizer Modell, klein genug, um nicht aufzufallen, groß genug, um sich damit zu verteidigen. Ein allerletzter Blick in den Spiegel, dann knuffte er seinen Bruder im Wohnzimmer mit der Faust gegen die Schulter und ließ ihn dort vor dem Fernseher zurück, lief in der Dämmerung katzenartig die Paradise Row hinunter. Der Tag war in die Nacht hineingeschritten, ohne zurückzublicken. Dichte Wolken hingen am Himmel. Sie scharten sich zusammen und schufen Finsternis.
Als Pauline nach Hause kam, fand sie die Wohnung leer vor. Es war nach einundzwanzig Uhr. Sie spürte etwas. Eine böse Vorahnung. Schon im Bus hatte sie es gespürt, ein nervöses Gefühl im Magen, eine unerklärliche Furcht, und als sie jetzt den Schlüssel im Schloss herumdrehte, spürte sie es wieder. Es kam ihr vor, als drehte sie den Schlüssel ins Leere hinein, als würde das Drehen nie aufhören, und beim Betreten der Wohnung schlug ihr unheilvolle Stille entgegen. Wo war das Geräusch des Fernsehers? Wo war Justin? Der Himmel hatte an diesem Abend eine seltsame Farbe, eine endzeitliche Mischung aus Schwarz und Rot. Und der Mond war nicht zu sehen. Er wurde von den Wolken verdeckt. Sie rief Ethan auf dem Handy an, aber er ging nicht dran. Justin hatte sein Handy verloren, und sie war noch nicht dazu gekommen, ihm ein neues zu besorgen. Sie ging wieder nach draußen, sah im Hof nach und lief die Paradise Row entlang, entdeckte sie dort aber nicht. Stattdessen sah sie Mrs Jackson, die wieder einmal ihr Haus nicht fand und in ihrem dünnen grünen Kleid und Hausschuhen die Straße auf und ab lief. Pauline hatte an diesem Abend nicht die nötige Geduld für Mrs Jackson. Ihr Herz schwoll in ihrem Brustkorb an. Ihre Rippen barsten. »Mrs Jackson, es ist die Nummer acht!«, rief sie. »Haben Sie meine Söhne gesehen? Haben Sie meinen Sohn gesehen?« Doch Mrs Jackson wusste nicht, wovon sie sprach. Sie ließ sich von Pauline zurück zu ihrem Haus bringen, dann kehrte Pauline wieder heim und wartete.
Justin liebte seine Mutter so sehr. Pauline hatte keine Ahnung, wie sehr Justin sie in Wahrheit liebte, dass er sich um sie kümmern wollte, wenn sie einmal alt wäre, sie auf ihrem Weg begleiten wollte, solange er nur konnte, bis der Weg zu Ende war und er ihr Lebewohl sagen musste. Er wollte ihr nie Lebewohl sagen müssen. Er dachte jetzt an sie, während er durch den Park lief und nach Ethan Ausschau hielt, in dem Tunnel aus Bäumen, der zu den Wohnblocks führte, deren Fenster vom abendlichen Leben ihrer verschiedenen Bewohner erleuchtet waren und wie immer einen schönen Anblick boten. Auf der Schnellstraße zischte der Verkehr vorbei. Das Tattoo-Studio und der Friseur waren geschlossen, aber die roten Lichter des Hähnchengrills leuchteten. Er ging in den Hof, wo er früher am Tag mit Ethan herumgehangen hatte. Er lief zu der Grünfläche davor. Niemand war da, niemand aus der Clique, niemand, der ihn Singender Professor nannte. Tatsächlich war Ethan zu diesem Zeitpunkt meilenweit entfernt. Sie hatten ihn in ein Auto gezerrt und fortgebracht, und sie würden es ihm heimzahlen, es ihm so richtig heimzahlen. Das passiert nämlich, wenn man sich mit ihm anlegt, mit dem Übelsten von allen aus Catford, wenn man dem Teufel zu nahe kommt: Man kriegt es indirekt heimgezahlt, mit etwas, wovon man niemals geglaubt hätte, dass es einem selbst, der eigenen Familie passieren könnte. Sie fügen einem Leid zu, indem sie dem Leid zufügen, was man liebt, es einem wegnehmen, zerstören.
Justin war also aus dem Hof zurück zu der dunklen Grünfläche gelaufen und sang nervös vor sich hin. Zwischen den Bäumen scharten sich Leute zusammen, mit dicken Jacken und lässigem Gang. Sie lauerten auf Beute, waren metallbewehrt. In den Taschen ihrer Jeans steckten Klappmesser. Sie waren aufs äußerste angespannt, standen auf der letzten Klippe ihrer Menschlichkeit. Justin glaubte, jemanden aus der Gruppe zu erkennen, und hielt darauf zu, doch beim Näherkommen witterte er Gefahr, machte kehrt, fing an zu rennen, und als die Zeit reif war, setzten sie ihm nach, in großen Sprüngen, zückten ihre silbernen Spielzeuge, »Schnappt ihn euch!«, riefen sie, während die Köche im Hähnchengrill mehr Öl in die Fritteuse gossen, für Hähnchennachschub sorgten, und es roch verbrannt, weil im hinteren Teil des Lokals kurz zuvor ein kleines Feuer ausgebrochen war, ein Funken war plötzlich aufgeflammt, wie aus dem Nichts. Sie hatten das Feuer rechtzeitig gelöscht, und jetzt grillten sie weiter Hähnchen. Beide trugen Kappen mit der Aufschrift »TM-Hähnchengrill« und rote Polohemden. »Ganz schön ruhig heute Abend«, sagte der eine zum anderen. »Ja, dienstags ist nie viel los«, sagte der andere. Aadesh sagte, er sei froh, am nächsten Tag nicht arbeiten zu müssen; mittwochs hatte er frei. »Und was hast du vor?«, fragte Hakim, während er mit der langen Gabel in ein Hähnchen stach. »Ich fahr mit Lakshmi raus«, sagte er. »Ach ja? Hab gehört, morgen soll’s regnen.« »Mist«, sagte Aadesh. Da hörten sie ein lautes Rufen. Sie blickten zur Tür. Eine Gestalt überquerte die Straße, lief stolpernd, gehetzt, wie wahnsinnig, als würde sie es nicht bis zur anderen Seite schaffen. Ein Auto musste ausweichen und hupte. Die Gestalt kam näher. Hielt sich mit der einen Hand die Seite und reckte die andere in die Luft. Justins Herz raste schneller als je zuvor in seinem Leben. Er lebte genau in diesem einen Moment, und in diesem Moment tauchten Erinnerungen auf, Bilder, seine Mutter war dort in diesem einen Moment. Sie wartete in der Wohnung auf ihn, und er wollte zu ihr zurückkehren, in sein Ursprungsland, zu seiner Mutter, die sein Ursprungsland war, und er wollte sie auf ihrem Weg begleiten bis ans Ende ihres Lebens, solange er nur konnte. Noch nie hatte er sich das so stark gewünscht wie in diesem einen Moment. Er stolperte. Er strauchelte. Er sah die rote Leuchtreklame des Hähnchengrills. Er sah den seltsam schimmernden Schleier über der Straße, das finale Gold, alles war von Glanz überzogen. Er wollte nicht sterben. Er weinte, weil es so wehtat und weil er nicht sterben wollte.
Und da war neben seiner Mutter noch etwas anderes, das ihn in Beschlag nahm: Schmerz. Sie hatten ihn gefunden, sie hatten ihn sich geschnappt, ihn, Ethans Bruder. Sie hatten ihn zwischen den Bäumen umzingelt, und die Auserwählte war mit ihrer kleinen Mädchenhand auf ihn losgegangen. Die Klinge knirschte durch seine Wirbelsäule. Schmerz setzte ein. Er breitete sich in ihm aus wie ein Orkan, wie lodernde Flammen. Er fuhr in heißen, reißenden Stichen mitten durch ihn hindurch. Es tat so weh, dass er es sehen konnte, das breite goldene Schimmern, das Rot, die fernen Sterne. Er blickte auf, als er die Straßenbiegung erreichte, und genau in diesem Moment stand Pauline in ihrem Wohnzimmer auf und sah in die Nacht hinaus, ein unerträglicher Gedanke, ein aussetzender Herzschlag, sie fasste sich an den Bauch, lief aus dem Zimmer, durch den Flur und zur Tür, riss sie auf.
Bis zu seinem Tod bestand Hoffnung. Die Hoffnung stirbt zuletzt. Justin stolperte über den Gehweg auf die rote Tür des Hähnchengrills zu. Er klammerte sich am Türrahmen fest und zog sich mit letzter Kraft vorwärts. »Hilfe«, flüsterte er (er fühlte sich vollkommen ruhig, als ob er träumte). »Ach du Scheiße«, sagte Aadesh. »Scheiße«, sagte Hakim. »O Gott.« Sie stürzten zu ihm, genau in dem Moment, als er auf dem Boden zusammenbrach, halb im Imbiss, halb draußen vor der Tür. Er blutete so stark, dass es wie ein Meer aus ihm herausströmte und sich über den ganzen Gehweg ergoss. Sein gelbes T-Shirt war blutdurchtränkt, ebenso die Jacke darüber. Sein letzter Gedanke, gleich nach dem an seine Mutter, seine letzte Empfindung war, dass er furchtbar fror, obwohl der Ort, an den er sich gerade eintreten spürte, voller Hitze war. Dort stand eine Tür offen. Er ging hindurch, und die Tür schloss sich hinter ihm. Jetzt war es für alles zu spät. Selbst für Pauline, die über die Paradise Row herbeigerannt kam und ihn auf dem nassen, blutroten Boden in die Arme schloss.
Das Blut sickerte in die Fugen zwischen den Gehwegplatten vor dem Hähnchengrill. Es ging nie wieder ganz ab, trotzte jedem Wetter. Es war da, wenn man wusste, dass es da war.
»Hallo?«
»Hallo, ich bin’s.«
»Wer ich?«
»Michael.«
»Michael … Oh, Michael, was …?« Eine schläfrige Pause. »Weißt du, wie spät es ist?«
Es war 2.15 Uhr nachts, und Michael wohnte seit mittlerweile dreieinhalb Wochen im Queen’s Hotel in Crystal Palace. Es war ein riesiges cremefarbenes Gebäude im Kolonialstil, lag ein Stück abseits der Crystal Palace Parade an der Straße Richtung Croydon, zwischen dem Beulah Tower zu seiner Rechten und dem Crystal Tower zu seiner Linken. Auf dem Dach des Hotels wehten verschiedene Landesflaggen, ein rot gepflasterter Weg führte auf den Eingang zu, doch das Innere des Gebäudes war weniger prachtvoll. Die Rezeption vermittelte eher den Eindruck eines Motels oder eines Flughafenhotels. Ein trübes Aquarium stand in der Lounge, wo Leute auf einem an der Wand montierten Bildschirm Musikvideos guckten. Der einheitliche, marineblau-beige gemusterte Teppich hatte sich von den Fußleisten gelöst und rollte sich auf, gelegentliche Wogen aus Körpergeruch und Waschmittel drifteten vorbei. Es war nicht die Art Unterkunft, zu der man gern heimkehrte, aber das Hotel lag nicht allzu weit weg von den Kindern und ermöglichte ihm, den Fragen seiner Eltern aus dem Weg zu gehen.
Sein Zimmer, in dem er gerade ausgestreckt auf dem Teppich lag, befand sich auf der Vorderseite des Hotels im vierten Stock. Um dorthin zu gelangen, musste er einen kleinen Fahrstuhl nehmen, auch dort dieser widersprüchliche Geruch, durch eine Reihe von Fluren laufen, weiter durch eine Tür in ein Treppenhaus und ein paar Stufen hinauf bis zu einem abgeschiedenen Treppenabsatz. Er hatte jedes Mal das Gefühl, durch ein Labyrinth zu irren, bis er durch die Tür trat und dahinter sein Zimmer zum Vorschein kam. Es war groß und tagsüber hell, aber traurig und düster bei Nacht. Zwei enorme Fenster boten einen Ausblick auf die Crystal Hills und den Park, in dem sich der Palast befunden hatte (man konnte gerade den Rand der steinernen Plattform erkennen, auf dem einst das Querschiff gestanden hatte). In der Ecke des Zimmers befand sich ein eingesunkener Sessel, auf den er seinen Mantel und seine Tasche warf, und es gab zwei Betten, ein Doppelbett im Queen-Size-Format und ein Einzelbett. Er schlief auf der Queen und benutzte das Einzelbett als Sofa, stellte sich nachts aber vor, es wäre Rias Bett und ein Hauch von ihr, eine Vorstellung von ihr, schliefe dort in der Dunkelheit neben ihm; er vermisste sie so sehr, dass er sie fast atmen hörte. Ihm behagte es nicht, während der Schlafenszeit seiner Kinder abwesend zu sein. Es löste in ihm das Gefühl aus, als wäre er auch innerlich abwesend, nicht bei sich. Er wollte Blake morgens nach unten tragen, mit ihm zum Frühstück die Stufen hinuntersteigen. Er wollte Melissas beiläufige Gegenwart in der Nähe spüren, während sie sich frisierte, ihren Hemingway las. Er musste unbedingt jemandem sein Leid klagen, seine Einsamkeit zum Ausdruck bringen. An diesem Abend hatte er beide Betten ausprobiert, aber keins davon hatte den gewünschten Effekt erzielt; er konnte nicht einschlafen und hatte daher beschlossen, es mit dem Fußboden zu versuchen. Doch auch das hatte nicht funktioniert. Eine Stunde lang hatte er gegen den Drang angekämpft, Rachel anzurufen. Ob es ihr etwas ausmachen würde? War es zu spät? Oder lag sie vielleicht ebenfalls in ihrem Bett und konnte nicht schlafen, hoffte vielleicht sogar, dass er anrief?
»Entschuldige. Habe ich dich geweckt?«
»Ja.«
»Das tut mir leid. Vergiss es einfach, leg dich wieder schlafen.«
»Was ist denn los? Was willst du?«
Ihr scharfer Ton traf ihn. Er hatte nicht mit Verärgerung gerechnet, nur mit Mitgefühl. Am liebsten hätte er aufgelegt, aber dafür war es zu spät.
»Ich kann nicht schlafen«, erklärte er. »Ich dachte, ich rufe dich mal an, um etwas zu plaudern …«
»Zu plaudern …«
»Ja.«
Sie seufzte. »Ich muss morgen arbeiten.«
Es kam ihm nicht zum ersten Mal in den Sinn, Rachel anzurufen. Schon als er gerade erst ins Hotel gezogen war, dachte er daran, nachdem er sein Zimmer mit Chlorreiniger desinfiziert und seine Sachen ausgepackt hatte. Er hätte hier ganze Nächte mit ihr verbringen können. Er hätte ganz mit ihr zusammen sein, sich mit ihr auf der Queen rekeln können. Sie hätten eine herrliche Zeit miteinander haben können, vor diesen Fenstern, dem weiten, offenen Himmel, doch aus Loyalität gegenüber Melissa hatte er sich dagegen entschieden. Es schien von Bedeutung zu sein, nicht zuletzt für sein Gewissen. Stattdessen war er nach unten in die Hotelbar gegangen und hatte sich einen Whisky und dazu Cola bestellt. Der Drink war ihm eiskalt und kupferrot die Kehle hinuntergeglitten, bis in die Nähe seines Herzens, bis zu seinem Bumerang-Leuchten. Er hatte einen weiteren bestellt und danach das Hotel verlassen, um etwas durch die Gegend zu laufen, war von der Schnellstraße in eine der angrenzenden steilen Straßen abgebogen, den Biegungen gefolgt, bis er die ruhigen, begrünten Wohnstraßen erreicht hatte. Inzwischen war es zu einer Gewohnheit geworden, sein abendlicher Whisky-Rundgang, rechts in die Fox Hill, links in die Tudor Road, an der Cintra Park wieder links, um die Straßenbiegungen, durch die Lichtpfützen der Laternen. An einem dieser Abende war er zu einem kleinen Park in der Nähe des Hotels gelaufen und hatte sich dort auf eine Bank gesetzt, leicht berauscht und mit dem Verlangen nach einem weiteren Whisky. Auf der Bank nebenan tranken zwei rotgesichtige Alkoholiker Asda-Bier aus Dosen. Sie sahen ihn an. Ihre Mäntel waren schmutzig. Es war ein schmaler Grat. Ein sehr schmaler Grat.
»Du kannst mich nicht einfach mitten in der Nacht anrufen«, sagte Rachel. »Das ist nicht in Ordnung, okay?«
Sie hatte recht. Es war nicht in Ordnung. Es gibt nur sehr wenige Menschen, die man zu dieser Stunde anrufen kann. Gegen vier Uhr morgens schlief er ein.
»Kannst du mir erklären, wie ich den Eintopf mit Eba zubereite?«, bat Melissa ihre Mutter, mit der sie gerade telefonierte. Es war später Nachmittag.
»Das habe ich dir doch schon gesagt.«
»Ich weiß, aber sag es mir noch mal, ich habe es vergessen.«
Sie hatte einen Stift und einen Zettel parat.
»Nimm einen Brühwürfel«, sagte Alice, »tu ihn rein und rühr um. Dann Bitterspinat. Zum Schluss das Huhn.«
»Das Huhn zuletzt? Und wann tue ich Maggie dazu?«
»Wann du willst. Ist egal. Aber du musst Eba richtig stampfen. Mit Wasser.«
»Okay.«
Vermutlich würde es ein weiterer Reinfall werden, aber sie hatte gestern Lust auf Eba bekommen, als sie auf der Hauptstraße an dem Geschäft vorbeigekommen war, wo man drei Kochbananen für ein Pfund bekam. Der feiste Kerl hinter der Fleischtheke hatte sie in eine blaue Plastiktüte gesteckt, dann hatte sie spontan noch Yamswurzel, Hühnerfleisch und Okraschoten gekauft, Gari hatte sie noch zu Hause. Ihr Vorhaben, so schien ihr, würde etwas Tröstliches haben, würde die Möglichkeit bergen, woanders zu sein. Sie wollte diesen düsteren britischen Straßen entfliehen, den abgespannten, geknechteten Gesichtern, ihrer Boshaftigkeit und Bedrohung, der erdrückenden Luft.
»Ist Michael wieder zu Hause?«, fragte Alice. In ihrer Stimme schwangen Besorgnis und Entschlossenheit mit.
»Nein.«
Es folgte der mit traditioneller nigerianischer Empörung vorgebrachte Sermon über die unabdingbare Anwesenheit des Mannes im Elternhaus.
»Du schaffst es nicht allein. Du musst ihn nach Hause lassen. Was ist mit den Kindern? Du weißt, Männer müssen zu Hause bei der Familie sein. Lass ihn nicht wegbleiben. Sonst trinkt er und, und, und raucht und geht in Nachtclubs. Das machen Männer!«
»Mum …«
»Frauen schaffen es nicht allein. Ich bin bei eurem Daddy geblieben, die ganze Zeit, für euch Kinder, ich habe es nicht allein geschafft. Ich musste aushalten, aushalten, aushalten. Eltern müssen zusammenbleiben, bis die Kinder groß sind. Sag Michael, er soll am Freitag nach Hause kommen. Ich finde es nicht gut, dass er woanders wohnt. Es macht mir Sorgen.«
»Schon gut, Mum«, sagte Melissa. »Ich werde jetzt den Eba zubereiten.«
»Hör zu!«
»Ich höre dir zu.«
»Wasser langsam dazutun und richtig stampfen.«
»Okay.«
»Sag Michael, er soll nach Hause kommen«, wiederholte sie.
Alle paar Tage kam er in der Tat vorbei, um die Kinder zu sehen und sie ins Bett zu bringen. Danach ging er zurück ins Hotel. Manchmal aß er mit ihnen zu Abend. Heute Abend würde er wieder vorbeikommen, und während sie den Brühwürfel einrührte, beschloss Melissa, dass er ebenfalls von dem Eintopf mit Eba essen sollte. Michael hatte recht dünn ausgesehen.
Seit gestern waren am Eingang zum Park zahlreiche Blumen für Justin abgelegt worden, und in den kommenden Tagen und Wochen würden es noch mehr werden. Es gab Luftballons und Blumensträuße. Fotos und Kerzen schmückten den Gehweg, während der Verkehr am Hähnchengrill vorbeirauschte. Abends versammelten sich seine Schulfreunde dort, saßen beisammen und weinten. Der Ort wurde zu einer hübschen Gedenkstätte für einen verfrühten Tod – und nicht nur für diesen einen. Es gab dort noch weitere Blumen, für andere Kinder, die zu früh gestorben waren, sie waren um die Laternen und das Geländer am Straßenrand gewickelt. Die Blumen würden immer wieder erneuert werden, vor allem von den Müttern, doch mit der Zeit würden immer weniger farbenfroh leuchten, bis selbst die Mütter sie eines Tages sterben lassen und sich von diesem Schauplatz zurückziehen würden, um die Liebe und all ihre Erinnerungen nur noch in sich zu tragen.
»Hast du gehört, was passiert ist?«, fragte Melissa, als Michael eintraf.
»Was denn?«
»Dad-dy, Dad-dy, Dad-dy!«, erklang der Freudengesang.
»Ich bin gleich bei dir, Liebes«, verströstete er seine Tochter. »Was ist passiert?«
»Schon wieder eine Messerstecherei«, sagte Melissa leise, damit Ria es nicht hörte. »Unten bei der Bibliothek.«
Sie hatte einen einzelnen Ausschnitt davon zu sehen bekommen, einen Baustein des geplanten Todes, obwohl sie es in jenem Moment nicht gewusst hatte. Ethan war in der Dämmerung über die Paradise Row in Richtung Park gelaufen, doch er war dort nie angekommen. Bevor er unten an der Straße angelangt war, hörte Melissa, wie draußen ein Auto quietschend zum Stehen kam, und sah aus dem Fenster des großen Schlafzimmers, wo sie gerade Blake wickelte. Zwei Männer mit Schlagstöcken stiegen aus dem Auto. Sie zerrten den Jungen mit der Kappe hinein. Dann stiegen sie wieder ein, und der Wagen schoss davon, mit dem Teufel darin. Melissa war ein Schauder über den Rücken gelaufen. Ihr Magen hatte sich zusammengekrampft, denn es war eindeutig zu erkennen gewesen – direkt dort draußen auf der Straße, während sie mit ihrem Baby auf dieser Seite des Fensters stand, der Teufel auf der anderen –, dass heute Nacht ein Junge sterben würde und dass man nichts dagegen tun konnte. Sie hatte sich vom Fenster zurückgezogen, ins Innere des Hauses.
»Nein!«, sagte Michael, seine Schultern sackten herab. »Schon wieder?«
»Schon wieder.«
Er wirkte ernüchtert, erschöpft. Sein schwarzer Mantel schlackerte ihm um die Schultern, und er stand leicht vorgeneigt, eine angedeutete Verbeugung, ein Salut an das Alter. Schwermut schlich sich in sein Gesicht, veränderte deutlich seine Miene, was von außen betrachtet beängstigend und auch in seinem Innern spürbar war.
»Du wirkst ziemlich kaputt«, sagte sie, während er sich aus dem Mantel befreite.
»Danke.«
»Ich meinte damit nicht, dass du schrecklich aussiehst.«
»Ich habe letzte Nacht schlecht geschlafen.«
»Wie kommt’s?«
»Bleibst du heute Nacht hier, Daddy?«, fragte Ria. Er fehlte ihr so, besonders nachts und am frühen Morgen.
Beide Fragen beantwortete er, ohne sie wirklich zu beantworten. Er blickte mit warmer, ernster Intensität in die Gesichter seiner Kinder, betrachtete ihre Nasen, ihr Kinn. Melissa beobachtete sie aus der Küche, während sie Eba stampfte. Es fühlte sich überaus richtig an, dass er da war, dass sie auf diese Weise zu viert unter einem Dach waren. Sie hatte dieses Gefühl bei jedem seiner Besuche wahrgenommen, und es hatte sich falsch angefühlt, wenn er wieder gegangen war. Sie alle wurden einer Sache beraubt, die zu ihnen gehörte, eines zentralen Bestandteils ihres Zuhauses.
»Erinnerst du dich an den Jungen, der in Rias Schule gesungen hat?«, fragte sie. Michael hatte die Küche betreten. Nina Simone besang mit ihrer Baritonstimme gerade ihren Freund Mr Bojangles. »Justin, so hieß er. Wir waren alle froh, als es vorbei war, erinnerst du dich? Jetzt ist er wirklich für immer verstummt.«
»Ihn haben sie erstochen?«, fragte Michael.
»Ja.«
»Herrgott. Das ist so krank. Er war doch nur eine halbe Portion.«
»Ich weiß.«
Der Eba war klumpig. Melissa fuhr mit dem Stampfen fort, so wie ihre Mutter gesagt hatte, und gab etwas Wasser hinzu. Der Eintopf köchelte auf dem Herd, in einer kleineren Pfanne daneben die Okraschoten, die ihn sämiger machen sollten. Michael goss sich etwas zu trinken ein, er kannte sich in dieser Küche immer noch aus, bewegte sich ganz selbstverständlich darin. Von Zeit zu Zeit schob er sich an ihr vorbei und strich ihr dabei behutsam, fast unbewusst, über den unteren Rücken. Sie merkte, wie sehr ihr seine Berührungen fehlten, allein die Möglichkeit solcher Gesten.
»Ich habe gehört, es soll eine Art Aufnahmeprüfung gewesen sein, um in die Gang aufgenommen zu werden, eine Mutprobe. Das hat irgendjemand gesagt.«
»Wo hast du das gehört?«
»Irgendwo unterwegs. Anscheinend hat ein Mädchen es getan.«
»Ein Mädchen?«
»Vierzehn Jahre alt.«
Michael versuchte, diese Information zu verdauen. Er musste sich hinsetzen, auf die Paprika-Stufe, und schüttelte den Kopf. Ihm entfuhr ein langer, resignierter Seufzer. »Was ist bloß in diesem Land los, Mann?«
Er kam auf der Hauptstraße oft an diesen Jugendlichen vorbei; sie lungerten vor den Hähnchengrills herum, rauchten am Eingang zum Park, blickten abweisend in die Welt hinaus. Jedes Mal verspürte er den Impuls, etwas zu ihnen zu sagen, ihnen zu erklären, wie groß das Potenzial jedes Einzelnen ist, im Leben etwas zu erreichen, dass wir alle ein wesentlicher Bestandteil der Mechanismen dieser Welt sind und dass die Welt so aus den Fugen geraten ist, weil es uns an der entscheidenden Kombination aus Macht und Hoffnung mangelt. Am liebsten hätte er sie geohrfeigt und ihnen gesagt, dass die Welt ihnen nichts schuldete, dass man sie das nur glauben lassen wollte, damit die Welt sie ihrer Macht berauben konnte, und während sie rumhingen und auf eine Wiedergutmachung hofften, einen Trost für diesen Diebstahl, entsagten sie fortlaufend ihrer eigenen Macht. Ja, es war ungerecht, aber so war es nun einmal.
»Ich liebe dich«, sagte er.
Melissa hielt inne, ihre Hände schwebten auf Taillenhöhe. Sie formte den Eba zu dicken Fladen und stellte die Schüsseln für den Eintopf bereit. Es war tröstlich, ihr zuzusehen, ihre kleinsten Gesten und Bewegungen mitzubekommen, die auf gewisse Weise in ihm selbst stattzufinden schienen, mit ihm verbunden waren. Trotz seiner Frustration und Betroffenheit empfand er ein tiefes Gefühl körperlicher Ausgeglichenheit, während er ihr zusah.
»Ich dich auch«, sagte sie leise, ohne ihn anzusehen.
Sie setzten ihre Unterhaltung fort. Sie erzählte ihm von dem Auto und den Männern mit den Schlagstöcken draußen, die den Jungen ins Auto gezerrt hatten. »Diesmal meine ich es ernst. Wir müssen hier wegziehen. Es ist nicht nur das Haus, sondern die ganze Gegend. Es ist hier nicht sicher. Ich möchte, dass die Kinder an einem sicheren Ort aufwachsen.«
»Ja, ich weiß«, sagte er und freute sich, dass sie »wir« gesagt hatte, als wäre dieses »Wir« unangefochten. »Aber wohin willst du?«
»Ich weiß es nicht – vielleicht nach Sussex? Kent? Irgendwo in die Nähe der Küste?«
»Wie – du meinst, aus London weg?«
Vor Michaels innerem Auge tauchten Bilder von den Kindern auf, wie sie bei Schmuddelwetter an einem verlassenen Strand spielten, im Hintergrund jede Menge weißer Leute.
»Wir könnten …«
»Ich gehe nicht aus Londinium weg«, sagte er bestimmt. »Ich brauche andere schwarze Leute um mich herum.«
Als Reaktion auf diese Bemerkung überkam Melissa das bekannte Gefühl, sie spürte, wie sich ihr Gesicht anspannte, die kalte Hand, die sich um ihren Mund krallte. Michaels Abhängigkeit von Menschen der gleichen Hautfarbe war ein Gefängnis, in das er nicht nur sich selbst einkerkerte, sondern auch sie. Er versagte sich dadurch andere Möglichkeiten, unbekannte Himmel und ferne Lavendelfelder. Er wollte nicht nach Frankreich, weil sein persönlicher Rassismus-Seismograph hohe Werte an Rechtsextremismus anzeigte. Auch nach China oder Australien wollte er nicht – zu rückständig, zu weiß. Aber was war mit den Sonnenuntergängen dort oder den Bergen, den Canyons, dem besonderen Licht und weiteren Naturwundern? Bei ihm stand die Hautfarbe allen anderen Farben im Weg. Sie hatte ihm ein festes Drehbuch fürs Leben beschert oder aufgezwungen, und er fühlte sich verpflichtet, es zu befolgen. Wer wäre er ohne dieses Drehbuch?
»London ist nicht der einzige Ort auf der Welt«, sagte sie, während sie den Eintopf in die vier Schüsseln verteilte. Anschließend gab sie die Okraschoten hinzu. »Ria und Blake sind wichtiger als unsere eigenen Bedürfnisse. Es geht darum, was sie brauchen. Ich will nicht, dass sie irgendwann unterwegs von einem Streifschuss getötet werden, bloß weil wir irgendwo Zahnpasta kaufen gehen.«
»Das wird nicht passieren, du übertreibst. Du klingst schon genau wie Stephanie. Die Kinder brauchen auch andere schwarze Menschen um sich herum. Es geht nicht nur um meine Bedürfnisse. Wenn jeder seine Siebensachen packen würde, sobald so etwas passiert, gäbe es hier bald niemanden mehr von unserer Sorte.«
»Aber schwarz sein ist das, was sie ausmacht. Es ist in ihnen. Es ist ein Teil von ihnen. Gott, warum reden wir überhaupt darüber? Das ist so banal.«
Sie schob sich mit zwei Tellern an ihm vorbei. Blake krabbelte vom Fernseher durchs Zimmer auf Michael zu und klammerte sich an seinem Rücken fest, um sich in den Stand aufzurichten. Es war dasselbe Dilemma wie eh und je. Michael verstand nicht, wer sie war. Er würde es nie verstehen, weil sie verschiedene Wesen waren. Wenn Melissa versuchte, die Welt durch Michaels Augen zu betrachten, sah sie nur einen Teil davon. Sie war ihr zur Hälfte verschlossen. Doch als sie sich jetzt erneut auf der Schwelle an ihm vorbeischob – seine breiten Schultern füllten fast den gesamten Türrahmen aus, und Blake grub seine speckigen Babyfinger hinein –, konnte sie sich immer noch ein Zuhause an seiner Seite vorstellen, einen Ort, den sie zu ihrem machen, an dem sie sich zurücklehnen konnte. Sie spürte, wie sie gleichzeitig von ihm abgestoßen und von ihm angezogen wurde.
Er fuhr fort, beharrte auf seiner Sichtweise: »Ich möchte, dass meine Kinder schwarze Leute um sich herum sehen, dass sie ihr Schwarzsein nicht allein in sich drin spüren.« Diese Worte – Schwarzsein, schwarze Menschen, weiße Menschen – waren unreflektiert, ansteckend. Die Kinder würden sich mit diesem Übel infizieren, mit dieser gewaltigen Besorgnis, und ebenfalls in diesem Gefängnis landen, ebenfalls ihrer Liebe für Canyons und besonderes Licht beraubt werden. »Je seltener sie es um sich herum sehen«, sagte er, »desto weniger spüren sie es in sich drin.«
»Nein, desto stärker spüren sie es.«
»Ja, aber auf negative Weise.«
Es folgte eine kurze Stille. Melissa sagte: »Aber für mich war es anders als für dich, Michael. Mir haben als Kind andere Dinge Sorgen bereitet.«
Sie aßen, alle vier gemeinsam, am Esstisch unter dem weißen Licht. Der Eba beruhigte, besänftigte sie. Sie aßen ihn mit dem Löffel, so wie Alice, tunkten ihn in den Eintopf, spießten mit der Gabel ein Stück Hühnerfleisch auf oder machten sich über die klebrige Okrasoße her. Blake aß mit den Fingern, Melissa half ihm dabei. Das Hühnchen war gut. Durch und durch schmackhaft. Der Hühnchenduft, der früher an Melissas Hals gehaftet hatte, hatte sich, so kam es Michael vor, weiter ausgebreitet, schien auch auf ihre Hände übergegangen zu sein, die das Hühnchen zubereitet, es zerkleinert, gewürzt und gekocht hatten. Wenn er ihr Hühnchen aß, dachte er immer noch jedes Mal an ihren Hals, an die Einbuchtungen ihrer Schlüsselbeine …
»Ich habe den Eba immer noch nicht richtig hinbekommen«, sagte sie. »Er ist zu körnig.«
»Ich finde ihn lecker«, sagte Ria, die sich mit den Feinheiten der Eba-Konsistenz noch nicht auskannte. Sie aß zwei weitere Portionen, hob sich einen Hähnchenflügel bis zum Schluss auf und zerteilte ihn mit den Händen.
»Gibt es in Sussex Gari zu kaufen? Kochbananen?«, scherzte Michael, als sie den Tisch abräumten. Dann rief Ria ihn zu sich ins Wohnzimmer, und sie tanzten zu zweit, so wie sie es gern mochte – er hielt sie fest, sie drehten sich langsam, und am Schluss bog er sie rückwärts über seinen Arm und blickte voller Bewunderung zu ihr hinunter. Melissa sah ihnen von der Küchentür aus zu. In Rias Bewegungen war immer noch ein leichtes Hinken erkennbar.
Danach ging Michael mit Blake die Treppe hoch, unter dem Dachfenster durch, vorbei an den Vögeln aus Tansania und den indigoblauen Tänzern an der Wand des großen Schlafzimmers. Er war froh, dass keine Zwiebeln und kein Knoblauch mehr herumhingen – sie hatte recht, es ging nicht nur um das Haus, es war mehr als das, und er war froh, dass sie es jetzt auch so sah. Während er vor dem Fenster stand, nahm er die Straße darunter wahr, die vor Vergeltung und Gewalt dräuende Dunkelheit. In Bell Green herrschte Aufruhr. Der Himmel war vom Geheul der Sirenen durchdrungen. Er sehnte sich danach, wieder auf der anderen Seite des Flusses zu wohnen, auf der anderen Seite dieser Trennlinie, dort, wo er die Leute besser kannte, sie besser verstand. Die Leute im Süden waren zu hitzig. Sie trieben die Dinge zu weit. Es lag mehr Gereiztheit in der Luft, mehr Gesetzlosigkeit.
»Vielleicht sollten wir zurück auf die andere Seite des Flusses ziehen«, sagte er.
Sie hörte, wie er die Treppe herunterkam, sein Gewicht auf dem Holz, das Poltern, als er schneller wurde. Auch das vermisste sie – seine polternden Schritte.
»Auf der anderen Seite passieren solche Dinge auch«, sagte sie. »Es ist überall. Die ganze Stadt ist infiziert.«
Von der Musikanlage erklang ein Stück von I Wayne, »Living In Love«, in dem er den Kampf seiner Brüder und Schwestern untereinander beklagte, das Blutvergießen. Sie mussten an Justin denken, an das Blut auf dem Bürgersteig, und an die Kinder auf der Nord- und Südseite der Stadt, die in diesem Krieg starben. Es schien ein endloser Krieg zu sein. Die Waffen wurden immer tödlicher. Die Kinder immer jünger.
»Weißt du, was das Schlimmste daran ist?«, fragte Michael. »Ich verstehe meine eigenen Leute nicht mehr. Ich verstehe nicht, was in ihrem Gehirn vor sich geht, was sie dazu bringt, solche Dinge zu tun. Ich kenne meine eigene Community nicht.«
Melissa konnte nicht weiter dagegen ankämpfen. Sie konnte das Verlangen, in der Geborgenheit seiner Umarmung zu sein, in diesem warmen Land, nicht länger unterdrücken. Ihr fiel etwas ein, das Carol neulich am Telefon zu ihr gesagt hatte: »Wenn es auf dieser Welt jemanden gibt, den man liebt und mit dem man sich ein gemeinsames Leben vorstellen kann, ist es wichtig, an diesem Menschen festzuhalten und alles dafür zu tun, dass die Beziehung stabil und gut bleibt.« Sie trat zwischen seine Beine, während er auf der Bank saß, schob sich zwischen seine Knie, zog seinen Kopf sanft an sich, seine Arme umschlangen sie. Oktopus.
»Du kennst mich«, sagte sie.
»Ja.« Er blickte zu ihr auf. »Ich kenne dich. Du bist meine Frau.«
Ihr gefiel der Klang, der Besitzanspruch in seiner Stimme. Es war sinnlich, dieselbe starke Sinnlichkeit, die sie anfangs zu ihm hingezogen hatte. Vielleicht bedeutet Liebe doch Besitz, dachte sie, als sie ihn küsste. All die Dinge, die sie gemieden hatte, seit sie denken konnte: Sicherheit, Sesshaftigkeit, Heim, Hingabe, die aufsässigen Forderungen des Selbst zum Wohl süßer Zweisamkeit zurückzustellen; eine Einschränkung, ja, aber auch ein Sichöffnen. War es denn wirklich so eine Schande, zu jemandem zu gehören? Vielleicht zeugte es nicht von Schwäche, sondern im Gegenteil von Stärke, dieses Risiko einzugehen.
Dieser Kuss war wie ein zweiter erster Kuss. Tatsächlich war es eine Weiterentwicklung jenes Kusses, aufgrund all der Dinge, die seitdem geschehen waren, all der Abwesenheit und Distanz während der letzten Wochen und Monate. Desdemona war da, mit voller Wucht. Ebenso Angelina. Und so wie damals, dreizehn Jahre zuvor an dem Waschbecken, glitten seine Hände in die Ärmelöffnungen ihres Kleids hinein, um über ihre Haut zu wandern.
»Wir gehören nach London«, sagte er, während draußen eine weitere Sirene losplärrte und der Nachthimmel blau aufleuchtete.
Er wusste, dass er eigentlich gehen sollte, zurück nach draußen, in dieses Blau, zurück zum Hotel. Er wollte nicht gehen, er wollte, dass sie ihm verzieh.
»Es tut mir alles so leid«, sagte er.
»Sag nicht, dass es dir leidtut. Bleib bei mir.«
»Bist du sicher?«
»Ja, ich bin sicher. Ich möchte nicht allein sein. Es ist nicht der richtige Zeitpunkt, um allein zu sein.«
Er hob sie hoch und trug sie zum Teppich, ihre Zierlichkeit in seiner Stattlichkeit, und dort lagen sie, vor dem Doppelfenster. Er musste einen Teil von ihr in seinem Mund spüren, in seinen Händen, an seinem Körper, ununterbrochen – das war alles, was er wusste. Sie zog ihm das Arbeitshemd aus, befreite ihn aus der Welt, die ihn gefangen hielt. Er verlor sich im Königreich ihres Körpers, und sie glitten in die Sicherheit des anderen hinein, bis sie in ihrem Strudel herumwirbelte, sich sanft wiegte, und als sie sich dieses Mal dem Gipfel des Bergs näherte, stürzte sie nicht kurz davor ab, sondern schoss darüber hinaus und fiel auf der anderen Seite, der richtigen Seite, hinunter. Dieses Mal wurde sie nicht ausgelöscht. Es kam etwas hinzu, vervollständigte sie, machte sie ganz. Jetzt schwebten sie, hoch über Bell Green, hoch über den Türmen, drifteten weg von der Stadt, weiter und weiter hinaus bis in Legends siebten Himmel.
»Ich hätte nicht gedacht, dass es noch so zwischen uns sein kann«, sagte sie danach.
Er lag immer noch auf ihr, sie hatten die Arme umeinandergeschlungen. Sein Gewicht wärmte sie.
»Lass uns zumindest verreisen. Ich muss hier raus. Ich muss von dieser Insel runter.«
»Einverstanden«, sagte er. »Wohin soll’s denn gehen?«
Sie dachte an Jamaika und daran, wie sehr es ihr dort gefallen hatte. Sie hatte sich wie zu Hause gefühlt, umgeben von der warmen Luft, den leuchtenden Farben, dem schwarzen Land, frei von inneren Zweifeln.
»An irgendeinen hübschen Ort«, sagte sie, »wo es ganz anders ist als hier. Irgendwohin, wo es keine Engländer gibt.«
»Ich bin dabei.«
»Und so bald wie möglich.«
Das Licht in Paulines Wohnzimmer am oberen Ende der Paradise Row blieb ausgeschaltet. Sie lauschte dem Atem eines Menschen nach, der kürzlich in die Geschichte eingegangen war.