Nicht nach Chile, nicht nach Peru. Nicht nach Jamaika, Brasilien oder Madagaskar, nicht einmal an die ursprüngliche, raue Küste im Südosten Korfus. Nicht nach Sizilien, nicht in die Toskana. Keine Obstplantagen, keine Olivenhaine, kein hübsches, abgelegenes Dorf, vom Tourismus dankenswerterweise unberührt. Nicht einmal nach Marokko oder Tunesien oder an die Küste eines anderen Kontinents mit dunkelhäutigeren Einwohnern, der ihnen das Gefühl gegeben hätte, wirklich verreist zu sein. Sie flogen an die Costa del Sol. Spanischer Massentourismus. Ein zweistündiger Flug mit easyJet. Haufenweise Briten. Ein kleiner Ort bei Torremolinos inmitten von Buchten, Dünen, Klippen und Flussmündungen in der weiten Ebene zwischen den beiden Bergketten der Betischen Kordillere. In dem Einkaufszentrum am Strand gab es ein indisches Restaurant und einen Irish Pub. Über der Disco wurde Bingo gespielt. Fast jeder sprach Englisch, und die Paellas waren weit davon entfernt, spanisch zu sein.
Kein kleines Häuschen in der von hohen Gräsern umsäumten Wildnis oder in Waldnähe. Keine Scheune mit ursprünglichen Merkmalen und rustikalem Charme oder eine Hütte am Fluss, kein Leuchtturm, keine Rundhütte oder irgendein anderes Bauwerk mit kurvigen Formen. Ihr Ferienhaus war rechteckig. Die Zimmer folgten scharfen rechten Winkeln, das Dach war eine flache, viereckige Asphaltschicht, die sich immerhin für das morgendliche Gruppenyoga anbot, das Melissa initiiert hatte. Die Böden waren von kühlen, gemaserten Fliesen bedeckt, der einzige Teppich lag unter dem orientalischen Wohnzimmertisch, auf dem die vorherigen Thomson-Holiday-Pauschalurlauber kreisförmige Ränder von Gläsern hinterlassen hatten. Eine nackte Treppe führte vom Flur zu den Räumen im Obergeschoss: vier Schlafzimmer und zwei Bäder; ein fünftes Schlafzimmer mit eigenem Bad befand sich unten neben dem Wohnzimmer. Zwei römisch anmutende Säulen aus Terrakotta flankierten in gewissem Abstand das größte Sofa, und ein bogenförmiger Durchgang führte zur Küche. Ansonsten war alles quadratisch oder zumindest rechteckig, und die vorherrschende Farbe war Cremeweiß, abgesehen von vereinzelten Farbakzenten in den wenigen Gemälden – Amateur-Landschaftszeichnungen der Betischen Kordillere, von denen eine mit Q. Bertonell signiert war – und dem hässlichen Braungelb der Vorhänge, hinter denen Stephanie bei ihrer Ankunft eine Libelle entdeckt, ihrem Entsetzen darüber aber keinen Ausdruck verliehen hatte, um den Kindern mit gutem Beispiel voranzugehen. Michael fand ein weiteres Insekt von beachtlichen Ausmaßen, eine Kakerlake, die leblos auf dem Rücken im Schwimmbecken trieb. Er fischte sie mit einem Netz heraus und schmiss sie in die knorrig trockenen Büsche, die den Garten einfassten, in der Hoffnung, vor Melissa als Held dazustehen.
Sie waren mit Damian und Stephanie in diesem Urlaubsdomizil sowie mit ihren jeweiligen Kindern, außerdem hatten sich Hazel und Pete hinzugesellt, die sich noch in der frühen leidenschaftlichen Phase ihrer neuen Liebe befanden und die Hände nicht voneinander lassen konnten. Sie knutschen, betatschten und liebkosten sich ununterbrochen, hockten aufeinander, massierten sich gegenseitig die Füße und rieben sich den Rücken mit Sonnencreme ein. Pete war ein athletischer, eins achtzig großer Prachtkerl mit einem beachtlichen Sixpack, bronzefarbener Haut, dunklem, akkurat gestutztem Dreitagebart auf dem kräftigen, markanten Kinn, einem Diamantstecker im Ohr, verführerischem Blick und sinnlichem Lächeln. In seiner Gegenwart verblassten die meisten anderen Männer angesichts ästhetischer Unzulänglichkeit, und er wusste das, Hazel wusste es, Michael und Damian wussten es, aber sie alle gaben sich redlich Mühe, diesen Umstand zu ignorieren und nicht eifersüchtig zu sein. Die Idee zu dem gemeinsamen Urlaub war wie folgt entstanden: Hazel hatte weiterhin auf ihrem Vierertreffen beharrt und Melissa vorgeschlagen, eine Woche mit ihren Männern nach Spanien zu fliegen – ein Freund von ihr arbeitete bei Thomson Holidays und konnte ihnen ein günstiges Angebot machen. Melissa wollte so dringend verreisen, dass sie zugestimmt hatte, unter der Bedingung, dass die Kinder mitkamen, wogegen Hazel, in der sich ständig Muttergefühle regten, nichts einzuwenden hatte, aber dann hatte Michael noch Damian eingeladen, teilweise als moralische Unterstützung, und irgendwie war aus dem Vierer ein Sechser geworden, plus der fünf Kinder, in einem großen Ferienhaus für eine Woche im Mai. Sie würden sich alle gegenseitig kennenlernen. Sie würden ausgelassenen, lärmenden Spaß miteinander haben, lange aufbleiben, sich betrinken, in die Wellen hüpfen, Spiele machen. Sie hatten sich mitten in der Nacht am Flughafen London-Stansted getroffen und easyJet ihr Leben anvertraut. Bei Morgengrauen waren sie zu Füßen der Betischen Kordillere gelandet, und schon beim Aussteigen knallte ihnen die Sonne entgegen. Die Eltern machten Taxis ausfindig und überprüften die Sitzgurte der Kinder, fühlten sich alt und langweilig, während Hazel und Pete, kampferprobt von einer kürzlichen Rucksacktour durch Mittelamerika, beschlossen, einen Bus zu nehmen. »Einen Bus?«, fragte Stephanie. »Ja, einen Bus«, sagte Hazel, »du weißt schon, eins von diesen Gefährten, die Leute günstig befördern?« Und sie blickten den zwei Frischverliebten nach, taten so, als würden sie gar nichts mitbekommen, als würde es ihnen keinen Stich versetzen, wie die beiden Arm in Arm in ihren Flip-Flops an den Flughafenpalmen entlangschlappten, während Hazel das Haar über den Rücken wallte, und wie sie ein Stück weiter ihren Daumen in die Gesäßtasche von Petes Khaki-Shorts einhakte und ihre Hand auf seiner rechten Pobacke ruhen ließ. Dann waren sie verschwunden.
Jetzt saßen sie zusammen im Garten, nach dem Yoga, bei dem außer Stephanie alle Erwachsenen mitgemacht hatten. Damian hatte sich mit den Gleichgewichtsübungen der ersten Ashtanga-Serie besonders schwergetan, war zweimal fast umgefallen, als er versucht hatte, mit über dem Kopf zusammengelegten Handflächen auf einem Bein zu stehen. Michael wiederum hatte sich zu Melissas Überraschung als ziemlich gelenkig erwiesen; in ihm schlummerte ein Buddha. Jetzt saß er auf der Veranda auf einem weißen Plastikstuhl an einem weißen Plastiktisch. Dort standen noch die Reste des späten Frühstücks – Nutella, der typische Urlaubsbrotaufstrich, ein mit Schokoladencreme überzogenes Messer auf dem umgedrehten Deckel, Hefegebäck, Croissantkrümel und eine Tüte Orangensaft – und klebten im Schatten eines schmutzigen Heineken-Sonnenschirms vor sich hin. Melissa saß auf einem Liegestuhl in der Nähe, sonnte sich und las dabei Das Teerpüppchen von Joel Chandler Harris, während Blake neben ihr im Gras spielte und zu Justin Timberlake nickte, der aus den Lautsprechern schallte. Auf einer Sonnenliege daneben lagen Hazel und Pete zärtlich ineinander verschlungen. Hazel trug einen orangefarbenen Bikini und kicherte anhaltend, während Pete sie auf den Bauch tippte, ihr neckisches Spielchen nervte. Alle anderen waren im Schwimmbecken, die Kinder platschten durchs Wasser, machten Handstand, sprangen, tauchten, überschlugen sich oder ließen sich auf schwimmenden Unterlagen treiben. Ria balancierte im Schneidersitz auf einer Schaumstoffinsel, schwebte von der Sonne geküsst dahin, mit aufrechtem Rücken, die Arme in Siegerpose. Seit ihrer Ankunft hier humpelte sie nicht mehr, und ihre Hände waren nicht mehr trocken. Avril beobachtete sie vom Rand des Beckens, hatte offenbar Angst hineinzuspringen. Stephanie redete ihr gut zu.
»Komm schon, Liebes«, sagte sie und reckte die Arme in die Luft; sie waren dick und nicht von der Ashtanga-Yoga-Serie gestählt, wie Damian unweigerlich auffiel. »Ich fang dich auf, komm schon!«
»Ich will nicht«, beharrte Avril.
»Spring einfach!«
Stephanie legte großen Wert darauf, dass ihre Kinder keine Angst hatten. Avril hatte vor allen möglichen Dingen Angst, und Stephanie wusste nicht so recht, wie sie damit umgehen sollte. Sie näherte sich dem Beckenrand und ergriff ihre Hände.
»Nun komm schon.«
»Nein.«
Damian sagte: »Warum soll sie springen, wenn sie nicht will?« Er saß am Beckenrand, ließ die Beine ins Wasser baumeln und beobachtete sie. »Lass sie einfach in Frieden, Mann.«
»Kannst du mal aufhören, in Gegenwart der Kinder ständig ›Mann‹ zu sagen? Ich habe dir das schon tausendmal gesagt, aber es scheint irgendwie nicht bis zu dir durchzudringen.«
Sie versuchte nicht einmal, diesen Vorwurf diskret anzubringen, und Damian war peinlich berührt. Leise sagte er: »Ich muss meine Art zu reden nicht ändern.«
»Doch. Das musst du. Du musst dich ändern.« Auch Stephanie sprach jetzt leiser. »Du bist egoistisch.«
Diese Kabbeleien waren im Hause Hope mittlerweile an der Tagesordnung und wurden hier an der Costa del Sol fortgeführt. Am Flughafen Stansted hatten sie sich darüber gestritten, wie viele Gepäckstücke sie aufgeben sollten. Im Taxi hatten sie sich wegen Jerrys vergessenem Asthma-Spray gestritten (»Du hast gesagt, du würdest es einpacken, also bin ich davon ausgegangen, dass du es eingepackt hast!«). Noch vor dem ersten gemeinsamen Abendessen hatten sie sich in der Küche beim Kochen gestritten. Mittlerweile ging es nicht mehr nur um Damian und seinen Vater. Die Sache war aus dem Ruder gelaufen, und jetzt schienen sie einfach nicht mehr miteinander klarzukommen. Die Gegenwart der anderen verschlimmerte die Lage noch, insbesondere Hazels und Petes Dauergeknutsche sowie die scheinbare Harmonie zwischen Melissa und Michael, die mit ihrer Leidenschaft diskreter umgingen, aber gelegentlich Händchen hielten, einander immer noch liebevoll zugewandt waren. Damian hatte gedacht, dass die Entwicklung vielleicht umgekehrt verlaufen würde, dass sich Stephanie und er in der Sonne und abseits vom Alltag wieder näherkommen würden. Bei Michaels Einladung hatte er aufgrund der Aussicht, mehr Zeit mit Melissa zu verbringen, zugegebenermaßen ein Kribbeln im Bauch verspürt, aber natürlich hatte er nicht deswegen zugesagt.
Avril sprang nicht. Stattdessen ging sie zu Blake, um mit ihm zu spielen, denn sie mochte ihn. Damian schlenderte zur Veranda, tauschte auf dem Weg dorthin einen kurzen Blick mit Melissa und stocherte in dem Hefegebäck herum.
»Mann, ist das heiß«, sagte Michael und sah ihn aus zusammengekniffenen Augen an.
»Hmm.«
»Alles gut?«
»Ja, alles gut.«
»Gut.«
»Hallo! Hallo!« Eine Frau betrat durch den Seiteneingang den Garten, streckte einen mageren gebräunten Arm in die Luft und steuerte auf die Veranda zu. Unter ihrem anderen Arm klemmte ein Aktenordner. Es war die Thomson-Holiday-Reiseleiterin, die mittags vorbeikommen wollte, um ihnen Urlaubstipps zu geben und nachzufragen, ob sie mit der Unterkunft zufrieden waren.
»Oh, hallo«, rief Hazel und sprang auf. »Sind Sie die Reiseleiterin? Ich wollte fragen, ob Sie vielleicht noch andere Matratzen haben? Mein Bett ist so hart.« (Hazel und Pete schliefen in dem Zimmer im Erdgeschoss.) »Und haben Sie auch eine Salatschleuder?«
»Eine Salatschleuder? Ähm, ich glaube nicht, dass wir eine Salatschleuder haben«, sagte die Reisleiterin. Sie hieß Debbie. Ihre Haare waren mehr oder weniger erfolgreich blondiert, ihre Ellenbogen runzlig, ihr Hals von der andalusischen Sonne faltig. Ihrem Akzent nach zu urteilen stammte sie vermutlich aus Billericay oder Bermondsey und gehörte zu jener Kategorie britischer Expats, die der Auffassung sind, dass Arbeit auf ein Minimum reduziert werden und nicht den geringsten Stress verursachen sollte. »Im Supermercado auf der Hauptstraße bekommen Sie alles, was das Herz begehrt, no?«, sagte sie mit spanischem Singsang am Satzende. »Aber Matratzen gibt es dort nicht. Wir können die Matratze nicht austauschen. Die Qualität der Matratzen ist angemessen.«
Avril fand, dass Debbie eine Hexe war, und Heimweh überkam sie.
»Waren Sie schon am Strand? Haben Sie die Informationsmappe gesehen, die in der Küche für Sie bereitliegt? Darin finden Sie alles, was Sie brauchen, no? Wo der Supermercado ist, wo man Geld wechseln kann und so weiter.« Sie erwähnte eine Burg, die sie besichtigen konnten, sowie ein paar Ausflugsfahrten, die in ihrem Ordner angeboten wurden.
»Wir hatten um ein Kinderbett gebeten«, sagte Melissa, »aber es ist keins da. Wir mussten das Baby heute Nacht bei uns im Bett schlafen lassen.«
»Oh.« Debbie blickte wieder in ihren Ordner. »Es müsste aber eins da sein, wenn Sie es bei der Buchung mit angegeben haben, no? Haben Sie im Schrank nachgesehen? Manchmal stellen sie es in den Schrank.« Michael ging nachsehen. »Dann werde ich veranlassen, dass man Ihnen eins vorbeibringt«, sagte sie, als er zurückkehrte, und bevor jemand sie noch um etwas anderes bitten konnte (Schwarze waren immer so fordernd, fand sie), machte sie sich aus dem Staub.
»Ausgesprochen hilfsbereit, die Dame«, sagte Hazel.
»Ich kann Reiseleiter nicht ausstehen«, sagte Melissa und sehnte sich wieder an einen Ort, der mehr wie Jamaika war.
»Blöd, das mit der Matratze. Aber immerhin sind die Bettlaken sauber, und hart ist ja nicht unbedingt schlecht«, sagte Hazel und warf Pete einen zuckersüßen, durchtriebenen Blick zu, dann setzte sie sich wieder auf ihre gemeinsame Sonnenliege.
»Ich freue mich schon darauf, den Grill anzufeuern«, sagte Pete. Der Diamantstecker an seinem Ohr blitzte auf, und er stützte das Kinn auf ihre Schulter. Der Grill war verrostet und verkohlt und befand sich in einer von Laubwerk umwucherten Einbuchtung im hinteren Teil des Gartens. Hazel schmunzelte über Petes Kommentar und strich ihm übers Bein.
»Mein Feuer kannst du jederzeit entfachen, Süßer.«
Nach dem Mittagessen erboten sich Melissa und Stephanie, zum Supermercado zu fahren, um einen Großeinkauf zu machen. Stephanie wollte sicherstellen, dass ausreichend gesunde Lebensmittel für die Kinder dabei wären, neben den Unmengen an Bier, Wein und Haribo, die sie mitbringen sollten, und Melissa hatte Lust auf eine Fahrt ins Blaue. Sie hatten für ein paar Tage ein Auto gemietet, einen grünen Fiat. Also rauschten sie über die vor Hitze flirrende Schnellstraße davon, während die Männer mit den Kindern zu Hause blieben und Hazel und Pete in ihrem Zimmer am frühen Nachmittag ein »Nickerchen« hielten.
»Herrlich, das ist genau das, was ich brauchte«, rief Stephanie, während ihre Haare im Wind wehten und die Sonne auf ihren Augenlidern Salsa tanzte. »Manchmal muss man einfach mal raus, ganz egal, wo man ist.«
»Das stimmt«, sagte Melissa.
Zwischen ihnen stellte sich ein Gefühl von Leichtigkeit und Offenheit ein, während sich um sie herum die Landschaft entfaltete. Ohne ihre Kinder sandte Stephanie andere Schwingungen aus. Normalerweise führte ihr überkorrektes Verhalten und Beharren auf Konventionen dazu, dass sich Melissa unbehaglich fühlte, aber jetzt, da sie mit ihr allein war, wirkte sie lockerer, weniger bevormundend, weniger angespannt. Sie breitete die Karte auf ihrem Schoß aus und beäugte sie ohne großen Enthusiasmus.
»Glaubst du manchmal auch, dass Männer und Frauen nicht dafür bestimmt sind, zusammenzuleben oder gemeinsam Kinder großzuziehen?«, fragte sie. »Dass sie eigentlich in verschiedenen Dörfern wohnen und sich nur ab und zu besuchen sollten?«
»Sprechen wir hier rein zufällig von Damian?«
»O Gott. Manchmal würde ich ihn am liebsten umbringen. Manchmal möchte ich ihm den Kopf abreißen und ihn ins Meer schmeißen. Er bringt mich in letzter Zeit einfach zur Weißglut. Ich weiß nicht, wie lange ich das noch aushalte. Ich überlege ernsthaft, ihm zu sagen, dass er gehen soll.«
»Ist es wirklich so schlimm?« Melissa war überrascht, dass Stephanie ihren Frust so bei ihr herausließ. Normalerweise sprachen sie nicht offen miteinander über ihre Beziehungen. Sie fragte sich, ob sie über Michaels kürzlichen Treuebruch und seine vorübergehende Abwesenheit aus Paradise im Bilde war. Ob Damian ihr davon erzählt hatte?
»So schlimm war es noch nie«, sagte Stephanie. »Wir sind in nichts mehr einer Meinung. Er unterstützt mich nicht. Du hast es ja vorhin gesehen, als ich versucht habe, Avril zu ermutigen, ins Schwimmbecken zu springen. Egal, was ich tue, er grätscht dazwischen und macht alles nur schlimmer, noch dazu vor den Kindern. Er weigert sich, mit mir an einem Strang zu ziehen. Ich will Avril bloß helfen, diese Angst zu überwinden. Ich verstehe gar nicht, wo die überhaupt herkommt. Früher hatte sie keine Angst. Sie hat Wasser geliebt, und jetzt fürchtet sie sich auf einmal davor.«
»Gab es einen bestimmten Vorfall, der ihre Angst vor Wasser ausgelöst haben könnte?«
»Nein. Nicht dass ich wüsste.«
»Ria hat Angst vor Toiletten. Vielleicht wirkt Wasser irgendwie beängstigend auf Kinder; wie es anschwillt und überläuft …«
»Hm, vielleicht.« Stephanie lehnte den Kopf zurück an die Lehne und blickte zum Fenster hinaus, auf den grenzenlosen, heißen blauen Himmel, die Dünen aus elfenbeinfarbenem Sand und das Meer, das im Vorbeifahren auftauchte und wieder verschwand. Ihr schwirrte der Kopf von all den Dingen, die sie zu Damian sagen wollte, die ihr aber nicht mehr einfallen würden, sobald sie vor ihm stünde und damit zu kämpfen hätte, wieder in seiner Gegenwart zu sein. Darüber vergaß sie ganz, auf die Karte zu schauen.
»Sag mal, müssen wir nicht bald abbiegen?«, fragte Melissa.
»Ach, Mist! Tut mir leid!«
Letztlich landeten sie bei einem anderen Supermercado als dem ursprünglich angepeilten, im nächsten Ort. Dort wimmelte es vor lachsfarbenen Briten in Shorts. Sie liefen durch die Gänge mit mediterranem Obst, mit von der Wärme gereiften Äpfeln und italienischer Salami. Die beiden Frauen entwickelten ein System, das wunderbar funktionierte; Stephanie schob den Einkaufswagen, und Melissa holte die Sachen aus den Regalen: Würstchen, Hamburger, Müsli, Bier, Wodka. An ihrem letzten Urlaubsabend wollten sie grillen. Eigentlich planten sie, dafür einen Teil der alkoholischen Getränke aufzusparen, aber vermutlich würden sie ihre Vorräte noch einmal aufstocken müssen – Hazel und Pete soffen wie nichts Gutes.
»Ich glaube, ich sehe das genauso wie du, das mit den verschiedenen Dörfern«, sagte Melissa auf der Rückfahrt. Stephanie hatte wieder über Damian geredet, diesmal ruhiger, resignierter. Sie fand es interessant, dass Melissa eine ähnliche Phase durchlebt hatte, und war überrascht, dass es zu einer echten, wenn auch nur vorübergehenden Trennung zwischen den beiden gekommen war.
»Läuft es denn jetzt besser zwischen euch, nachdem ihr etwas Abstand hattet? Ihr wirkt glücklich. So wie immer.«
»Bitte sag jetzt nicht, wie eine Schokokugel.«
»Was?«
»So nennt Hazel uns immer.«
»Oh. Nein, das wollte ich nicht sagen.«
»Es läuft etwas besser, denke ich«, sagte Melissa. »Andererseits hat sich kaum was verändert. Dieselben Probleme. Das Leben zehrt an uns. Es frisst uns auf, und wir vergessen einander. Manchmal glaube ich, wir passen einfach von Grund auf nicht zusammen – er ist zu viel für mich, und ich bin nicht genug für ihn, oder umgekehrt, ich weiß es nicht. Wahrscheinlich ist es so, wie du gesagt hast: Beziehungen und Kinder gehören einfach nicht an denselben Ort.«
»Es liegt daran, dass wir Frauen die Dinge auf unsere Weise tun wollen, so wie wir es für richtig halten«, sagte Stephanie. »Und nicht wollen, dass ein großer haariger Kerl daherkommt und alles durcheinanderbringt.« Sie lachten. »Und Damian ist extrem behaart«, fügte Stephanie hinzu. »Man muss damit leben, man nimmt diese Dinge in Kauf. Wozu?«
»Aber nehmen wir an, es gäbe diese beiden getrennten Dörfer wirklich«, sagte Melissa, während sie langsam auf einen Kreisverkehr zufuhr, »wäre es nicht ein bisschen unfair, wenn die Kinder bei den Frauen blieben? Warum sollten sie nicht bei den Männern wohnen? Warum sollte die ganze Arbeit an uns hängenbleiben?«
»Weil sie zu uns gehören. Sie sind aus uns entstanden.«
»Du klingst wie meine Mutter. Das hat man uns nur so beigebracht …«
»Nein, es ist die Wahrheit.«
»Wir alle, Frauen und Männer, haben dieses alte Drehbuch vorgesetzt bekommen und wissen nicht, wie wir uns davon befreien sollen. Als wäre es unzerstörbar. Wir stecken fest. Wir stecken alle fest. In mancherlei Hinsicht haben wir uns überhaupt nicht weiterentwickelt. Die Gesellschaft macht aus anständigen Männern Patriarchen.«
»Oh, hör sich einer diese Susan Sontag oder Germaine Greer an oder wie auch immer du heißt. Bist du sicher, dass du nicht einem neuen Drehbuch folgst? Ich habe immer einen großen Bogen um Feministinnen gemacht, weil sie sich über alles echauffieren, anstatt einfach mit ihrem Leben weiterzumachen und zu leben, weißt du? Auf lange Sicht mögen wir Frauen dem Feminismus viel verdanken, aber ich glaube, er hat uns auch etwas Wesentliches weggenommen, oder es uns zumindest streitig gemacht: unvoreingenommen unserem Instinkt zu folgen. Sie reden davon, dass man freie Wahl haben sollte, sehen aber gleichzeitig auf die Frauen herab, die sich dafür entscheiden, ihre Kinder in den Mittelpunkt zu stellen, als hätte man sie dazu gezwungen. Ich fühle mich nicht unterdrückt. Meine Kinder unterdrücken mich nicht. Sie befreien mich. Der Mann ist das Problem.«
Melissa sah die Sache anders, aber ihr imponierte, wie entschieden Stephanie für ihre Überzeugung eintrat, ihre große innere Freiheit. Sie bewunderte ihre Fähigkeit, sich von äußeren Erwartungen frei zu machen. Ihr war es egal, was die anderen dachten. Sie folgte ihrer eigenen aufrichtigen Bestimmung und fand darin Zufriedenheit und Sicherheit. Sie war ein solides, aufrechtes Haus – nicht im mindesten schief, es würde nicht zusammenfallen.
»Ich will damit nur sagen«, fuhr sie fort, »dass die Dinge nicht unbedingt so sein müssen, wie sie uns vorgegeben worden sind.«
»Schon gut, Gloria Steinem. Abgesehen davon bekommen auch Männer eine bestimmte Rolle übergestülpt. Nicht nur wir sind davon betroffen.«
»Ja, aber es ist leichter, sich mit der dominanten Position abzufinden als mit der unterlegenen.«
Den Rest des Wegs legten sie schweigend zurück, lauschten dem spanischen Radio. Es war ein einträchtiges, wohlwollendes Schweigen, mit gegenseitigem Verständnis und einem Gefühl der Verbundenheit.
Als sie wieder beim Ferienhaus ankamen, hatte sich die Aktivität im Garten vom Sonnenbaden hin zu Liegestützen und Sit-ups auf dem Rasen verlagert, eine Art testosteronbefeuertes Kräftemessen, bei dem Pete in Führung lag und Damian und Michael hinterherhechelten. Damian rann der Schweiß in Strömen herunter, die Haare klebten ihm an seinen kurzen Beinen fest, denn er war noch nie ein großer Freund von körperlicher Ertüchtigung gewesen. Er machte nur deshalb mit, weil er den Drang verspürte, sich mit Pete zu messen, auch wenn dieses alberne Vorhaben von vornherein zum Scheitern verurteilt war. Als er Stephanie und Melissa mit den Einkäufen in den Garten kommen sah, legte er sich bei seinem neunzehnten Liegestütz erst recht ins Zeug, während Michael weniger darauf aus war, die Frauen zu beeindrucken, und auf dem niedrigsten Punkt des Liegestützes zusammensackte, sich auf den Rücken rollte und um Atem rang. Von der vermeintlichen körperlichen Unterlegenheit seines Freundes angespornt, kämpfte Damian weiter, bis zum vierzigsten peinigenden Liegestütz, bei dem die Frauen bereits in der Küche verschwunden waren.
Damian hatte seit der Schneenacht keinen Kontakt mehr mit Melissa gehabt, sie erst wieder bei ihrem frühmorgendlichen Treffen in Stansted gesehen. Er war mit überirdischen Erinnerungen an ihren weißen Schneekokon nach Dorking zurückgekehrt, an ihre geheimen Stunden mit Millie Jackson und Susana Baca, an ihr vertrauliches Rauchen im Garten neben dem schwarzen Baum und an das Bild von ihr frühmorgens am Fuß der Treppe, das hatte sich ihm besonders nachhaltig eingeprägt, so wild und hinreißend war sie ihm erschienen, noch schlaftrunken. Wochenlang hatte er neben Stephanie gelegen und beim Einschlafen an Melissa gedacht, nicht auf die offensichtliche Weise, sondern auf unschuldigere, tiefgründigere Weise; er wollte ihr helfen, ihren verlorenen Engel wiederzufinden. Jeden Tag spielte er mit dem Gedanken, alles hinter sich zu lassen und allein zu leben, seinen eigenen verlorenen Engel zu suchen, und einmal war er drauf und dran gewesen zu gehen. An einem Mittwoch mitten in der Nacht, er hatte einen Koffer aus dem Verschlag unter der Treppe hervorgeholt und angefangen zu packen. Er hatte sogar schon einen Abschiedsbrief an Stephanie angefangen, den er auf dem Nachttisch zurücklassen wollte, doch dann war Avril aufgewacht und aus ihrem Zimmer gekommen, hatte ihn gefragt, was er da tat, und ihr Anblick, ihr zerknautschter Schlafanzug, ihr düsterer Gesichtsausdruck, als fürchtete sie, gleich verletzt zu werden, hatte ihn zurückgehalten. Der Gedanke daran, dass seine Kinder ihn brauchten, dass er ihre verlässliche Normalität zerstören würde, zu der er als fester Bestandteil gehörte. Er hatte alles wieder ausgepackt und den angefangenen Brief weggeworfen. Danach nahm das Leben seinen gewohnten Gang: zur Arbeit und zurück, zur Arbeit und zurück, die langen, erstickenden Wochenenden, beim Einschlafen an Melissa denken, die in seiner Vorstellung fast zu einem Geistwesen geworden war, gewaltig und gleißend hell, mit besonderen Kräften ausgestattet, die sie in der Luft schweben und herumwirbeln ließen.
Er tat sich schwer mit dieser plötzlichen häuslichen Nähe zu ihr; morgens, abends, nachmittags und besonders nachts, da sie auf dem Flur direkt gegenüber schlief, in ihrem gestreiften Schlafanzug, bestehend aus einem kurzen Top und Shorts, in dem er sie gestern aus dem Badezimmer hatte kommen sehen. Michaels und Stephanies Anwesenheit erschwerte die Sache noch, denn sie sollten sein Unbehagen nicht wittern, durften nicht die leiseste Ahnung davon haben. Er musste Melissa mit umgänglicher, natürlicher Leichtigkeit begegnen. Er durfte nicht den Eindruck erwecken, dass sie für ihn etwas Besonderes war. Wenn er mit ihr redete, bemühte er sich immer um das exakt richtige Maß an Blickkontakt – nicht so wenig, dass es zurückweisend wirkte (er wollte schließlich die verschneite Nähe zwischen ihnen wahren), aber auch nicht so viel, dass es bedeutsam wirkte, was es für ihn natürlich war und wodurch Blickkontakt zu einer äußerst kniffligen Angelegenheit wurde. Er gab sein Bestes, um sich an dem allgemeinen fröhlichen Geplänkel zu beteiligen, an den ständigen Späßen und flotten Sprüchen (Pete und Michael waren auf Anhieb bestens miteinander ausgekommen), und sich in die Männerriege einzugliedern, zumal sich gleich nach ihrer Ankunft stillschweigend zwei Geschlechterteams gebildet hatten. Die Männer verbrachten die Siesta mit Fußballgucken vor dem Fernseher, nachdem die Einkäufe von den Frauen eingeräumt worden waren, und der Nachmittag plätscherte ruhig dahin. Sie starrten auf den Bildschirm, Pete, Michael und er, als rollte dort der wichtigste Ball der Welt, und tranken Bier. Wie sehr er sich wünschte, ein Vorkämpfer zu sein, ein anderer Mann. Hazel guckte sich das Spiel zugegebenermaßen ebenfalls an, und irgendwann erhob sich Melissa von ihrer Sonnenliege, kam ins Haus und stellte sich hinter das Sofa, legte die Hände auf die Polster, auf sein Polster, berührte fast seinen Kopf.
»Ah«, sagte sie nach einer Weile, während sie den kleinen langstrümpfigen Männern dabei zusah, wie sie über den Rasen rannten. »Jetzt verstehe ich, warum Männer Fußball mögen. Da besteht eine sexuelle Analogie. Es geht darum, einen Treffer zu landen, und um die Hindernisse auf dem Weg dorthin. Eigentlich geht es nur um Penisse.«
Michael war empört. »Nein, tut es nicht!«, rief er. Damian lachte, oder, besser gesagt, er kicherte.
»Doch«, sagte sie. »Ihr versucht, den Ball ins Netz zu kriegen. Das Netz ist die Vagina. Der Ball, also, im übertragenen Sinn, das sind die Eier und natürlich der Penis. Eine eindeutigere Metapher für Sex gibt es nicht. Kaum zu glauben, dass mir das erst jetzt klar wird. Kein Wunder, dass Männer so versessen darauf sind.«
»Und Frauen«, sagte Pete.
»Das stimmt«, bestätigte Hazel.
»Ich will damit nicht sagen, dass nur Männer Fußball lieben, höchstens, dass sie einen größeren Hang dazu haben.«
Sie alle sahen dem Spiel weiterhin zu, mit leicht verändertem Blick, abgesehen von Michael, der diese eindimensionale, unprofessionelle Herabwürdigung des Spiels schon kannte. Hazel sagte: »Sie hat aber nicht ganz unrecht, wenn man es genau bedenkt. Tatsächlich geht es bei fast allen Spielen darum, einen Treffer zu landen, etwas über das Netz zu schleudern, ins Tor zu schießen, das Loch zu treffen. Golf, Cricket.«
»Jetzt wirst du obszön, Hazel.«
»Na, das sagt die Richtige. Wer hat denn damit angefangen?«
»Ja, aber du kannst immer nur an das eine denken.«
Hazel schleuderte ihren Flip-Flop nach Melissas Kopf.
»Es geht um Technik, Mann«, sagte Michael. »Es steckt eine Strategie dahinter. Es ist sowohl geistig als auch körperlich anspruchsvoll.«
»Recht hat er«, sagte Pete und stützte sich auf seine stattlichen Gladiatorenknie. »Die Spieltaktik gibt vor, wohin die Spieler laufen, wem sie den Ball zupassen, wie sie ihn passen, Moment …« Ein Tosen ging durch die Reihen, dann verstummte es. Fast hätte es ein Tor gegeben. Die Experten schimpften auf die Schuldigen. »Jetzt mach schon, du musst weiter vordringen!«, brüllte Pete.
»Da habt ihr’s«, sagte Melissa. »Genau das meinte ich.«
Drüben am Esstisch, auf der anderen Seite der linken Säule, saß Stephanie mit Summer, die ihre Hausaufgaben machte. Summer schrieb, Stephanie sah ihr zu, die Hände im Schoß, signalisierte zu helfen, wenn es sein musste, aber gleichzeitig, nur dann um Hilfe zu bitten, wenn es wirklich nötig war. Damian wünschte, sie wäre nicht da. Ihre Gegenwart machte ihn befangen, und es fiel ihm schwerer, sich am Gespräch der anderen Männer zu beteiligen. Seit ihrer Auseinandersetzung morgens am Schwimmbecken hatte Stephanie kaum ein Wort mit ihm gewechselt.
Ihm waren zufällige Begegnungen mit Melissa lieber, wenn er sich beispielsweise davongestohlen hatte, um eine Weile zu lesen, wonach ihm recht häufig der Sinn stand, denn das ständige Zusammenglucken war ihm zu viel. Kurz vor dem Abendessen saß er auf dem Treppenabsatz, auf der oberen Stufe, und las Tolstoi – er war gerade bei der Stelle angelangt, wo Pierre und Fürst Andrej ihre lange Unterredung führen, nachdem Andrej aus dem Krieg zurückgekehrt ist –, da kam Melissa nach dem Schwimmen die Treppe heraufgehüpft und summte zu »Always On Time« von Ja Rule.
»Oh, hallo, Damian«, sagte sie. »Wieder am Lesen, wie ich sehe.«
»Ja«, sagte er schüchtern. Sie roch nach Schwimmbad, trug einen Wickelrock und dazu ein dünnes weißes Baumwolltop, das von ihrem Badeanzug darunter feucht war. Es entstand eine Pause, eine angenehme Pause, die zum Verweilen und Plaudern einlud.
»Was liest du denn?« Er hielt ihr den Buchdeckel hin, und sie warf einen Blick darauf. »Krieg und Frieden. O Gott, das musste ich während des Studiums lesen. Habe es nicht bis zu Ende geschafft. Es ist so endlos lang. Warum ist es nur so lang? Bei Seite siebenhundert habe ich aufgegeben, glaube ich. Es stand für mich einfach in keinem Verhältnis mehr, wie viel Zeit ich mit dem Lesen dieses einen Buches verbracht habe, weißt du, was ich meine?«
»Ja, es ist wirklich lang«, sagte er. »Aber mir gefällt es. Ich finde Pierre sympathisch.«
»Ist das der Dicke?«
»Ist er dick? Keine Ahnung …«
»Ich glaube schon. Das ist etwas, was von dem Buch bei mir hängengeblieben ist. Es vermittelt einem eine sehr anschauliche Vorstellung von den Figuren. Man weiß genau, wie sie aussehen.«
»Und auch, was sie fühlen«, sagte Damian. »Darum gefällt es mir. Es dringt bis zu ihren Herzen vor, deshalb versteht man ihre Gedanken, ihre Reaktionen auf Dinge und die Beweggründe für ihre Handlungen. Ein Beispiel dafür ist die Szene, in der Natascha um ein Haar mit Anatol durchbrennt und danach krank wird, weil sie so beschämt ist. Ich finde auch, dass es manchmal zu langatmig wird, wenn er sich in seinen Predigten, oder sagen wir Abhandlungen, ewig über Krieg, Moral, Philosophie und so weiter ergeht. Ich nehme an, das kommt daher, dass es damals noch keine richtigen Lektoren gab. Sonst wäre eine Menge gestrichen worden. Aber es gefällt mir, dass er die Regeln nicht sklavisch befolgt, mit der Form spielt. Wer sagt, dass ein Roman nicht zugleich eine Abhandlung, eine Predigt, eine philosophische Schrift oder was auch immer sein kann?«
Melissa blickte geduldig zu ihm hinunter. »Ja, da bin ich ganz deiner Meinung«, sagte sie, doch er spürte, dass er zu viel geredet und sie das Interesse verloren hatte. »Wo wir gerade beim Thema sind«, sagte sie und versetzte ihm einen leichten, vorwurfsvollen Klaps auf die Schulter, »wie läuft es denn mit deinem Roman? Du hast ihn mir immer noch nicht gemailt.«
»Ähm, ich habe ihn mir noch mal angesehen …« Das hatte er und dabei festgestellt, dass der Roman, so wie er befürchtet hatte, grottenschlecht war, dass es keinen schwafelnderen, selbstmitleidigeren und bei allem Geschwafel auch noch gestelzteren, erdrückenderen und qualvolleren Erguss männlicher Mittzwanziger-Existenzangst gab als diesen Haufen literarischer Scheiße, und diese Feststellung hatte ihn in eine erneute Depression gestürzt, die rund fünf Wochen angedauert und vor etwa sechs Tagen geendet hatte, sofern eine Depression enden kann.
»Und?«, sagte sie.
»Und … nun ja, er ist … verbesserungswürdig.«
»Okay, ja, das ist gut. Positiv. Denk daran, worüber wir geredet haben, Damian, immer positiv denken. Nur unsere innere Einstellung hält uns zurück.«
»Ja, ja.«
»Ich habe Thich Nhat Hanh gelesen«, erzählte sie.
»Thich Nhat was?«
»Er ist ein buddhistischer Mönch. Meine Schwester hat mir von ihm erzählt. Er schreibt viel darüber, wie wichtig Meditation und das achtsame Wahrnehmen der Gegenwart sind. Du solltest wirklich einmal versuchen zu meditieren, mir hat es geholfen, besser mit Stress umzugehen und insgesamt gelassener zu sein. Ich meditiere jetzt jeden Tag oder versuche es zumindest, ich versuche, jeden Moment achtsam wahrzunehmen, und es verhilft mir wirklich zu mehr innerer Ruhe.«
»Ich spiele mit dem Gedanken«, kehrte Damian auf das Thema seines schlechten Romans zurück (jetzt, da er diese stinkende Dose des Versagens geöffnet hatte, forderte sie mehr von ihrer Aufmerksamkeit), »etwas ganz Neues zu schreiben« (er versuchte, irgendwie den Bogen zu Thich Nhat Hanh zu spannen, damit es nicht so wirkte, als wollte er das Thema abtun oder nur über sich reden), »darüber, in der Gegenwart zu leben und Dinge aus der Vergangenheit loszulassen. Ich überlege, den Roman vielleicht ganz ad acta zu legen und etwas anderes zu schreiben, in einer anderen Form. Vielleicht ein Drehbuch oder dergleichen.«
»Klingt gut«, sagte sie, in ihrer stets fröhlichen und aufmunternden Art. »Folg einfach deinem Gefühl. Vertrau dir selbst.« In dem Moment kam Michael mit Blake vorbei. Er war auf seinem Arm eingeschlafen. »Oh, schläft er etwa? Aber was wird dann aus unserem Abend? Wie lange schläft er schon?«
»Noch nicht lange«, sagte Michael, was bedeutete, kurz bevor sie schwimmen gegangen war. Er hatte mit Pete unter dem Sonnenschirm ein Red Stripe getrunken und über Boxen geredet – und es war so behaglich gewesen, wie Blake auf seinem Schoß immer schwerer geworden war, es wäre grausam gewesen, ihn in diesem Moment aufzuwecken, wo die Sonne so pfirsichfarben unterging, die Luft so warm und seidig war und ihm das Bier so kühl und nass die Kehle herunterrann.
»Tja, dann musst du ihn wohl aufwecken«, sagte Melissa in verändertem Tonfall und ging duschen.
Am nächsten Tag machten sie sich alle gemeinsam zu Fuß zum Strand auf, wie ein Exodus, ausgerüstet mit Flip-Flops, Strandtüchern, Badesachen und Sonnencreme sowie Eimern und Schaufeln, die sie unterwegs an der Einkaufsmeile erstanden. Das kühlblaue Meer vor der Bucht. Briten brutzelten an dem Sandkieselstrand in der Sonne. Die Hitze hing hoch und mächtig über ihnen. Die Damen lagen ausgebreitet da, während ihre Haut eine tiefere Tönung annahm, salziger Schweiß sickerte in die Hautfalten ihrer Oberschenkel, und Männer mit riesigen Bäuchen schmorten in Rückenlage, die Zehen gen Himmel gereckt, umgehauen von der Kombination aus Bier, Sonne und Windstille – denn heute wehte kein Lüftchen, nur draußen auf dem Meer, wo die Schwimmer in der stärkeren Strömung Zuflucht suchten. Braune Köpfe wippten zwischen den Bojen. Die Wellen waren ungestüm, besaßen einen geheimen Rhythmus, eine pulsierende Triebkraft, die ihre weißgesäumten Ränder sanft zum Brechen brachte. Stephanie hätte sich am liebsten sofort in die Wellen gestürzt, und nachdem sie ihr Strandtuch ausgebreitet, die Kinder eingecremt und sie mit dem Bauen von Sandburgen beauftragt hatte, sagte sie: »Ich gehe schwimmen«, und stürmte in ihrem geblümten Tankini an den Körpern, Liegen und Sonnenschirmen vorbei aufs Meer zu, lief direkt hinein. Melissa schloss sich ihr an, und sie wurden zu zwei weiteren wippenden braunen Köpfen zwischen den Bojen, sehr weit draußen, so weit, dass Blake zu weinen begann und Michael an die Zeit in Montego Bay zurückdenken musste, als sie hinter dem Ozean aus dem Blickfeld verschwunden und lachend zurückgekehrt war, was sie auch jetzt wieder tat, diesmal zusammen mit Stephanie, die Gesichter beseelt vom Bad im Meer, und beide ließen sich auf ihre Handtücher plumpsen. Ein Mann verkaufte donutartiges Gebäck, bahnte sich mit seinem Korb gezuckerter Waren den Weg zwischen den Handtüchern hindurch und rief »Rosquillas!«. Sie waren warm und ohne Marmeladenfüllung, hatten ein Loch in der Mitte und fanden reißenden Absatz; und nun saßen sie im Lichthof der Hitze, kauten an den süßen weichen Ringen – erst die Kinder und Pete, der gern naschte, schließlich auch die anderen –, während der Nachmittag weiterbrannte und das Meer glitzerte.
Hazel und Pete verbrachten wie üblich den Großteil der Zeit damit, sich mit ineinander verschlungenen Gliedmaßen herumzurekeln, die Körper glänzend vom gegenseitigen Eincremen, die Ohren auf Tuchfühlung und die Lippen stets feucht von jungen und erhabenen Desdemonas. Auf Petes Gesicht lag ein glückseliger, entspannter Ausdruck, und er stieß einen langen, wohligen Seufzer aus. »Aaah, was will man mehr!«, und Michael spürte unweigerlich Neid in sich aufwallen. Melissas Liebe schien irgendwo in den Lüften zwischen Stansted und der Betischen Kordillere hängengeblieben zu sein. Hoch oben auf einer unerreichbaren weichen Wolke lagen sie einander vielleicht immer noch in den Armen, waren ihre eigene Mythologie, Figuren aus einem Traum, die sich in John Legends siebtem Himmel weiterhin anschmachteten, doch hier unten auf der Erde hatte sich ihre Verbindung schrittweise gelöst. Ihre Gefühle für ihn schienen abgekühlt wie der Abend nach einem Tag, sie war zurückgewichen, ausgestiegen. Sie hatte ihm ihre Leidenschaft wieder entzogen, ihre Meinung geändert, suchte seine Nähe nicht, anders als Hazel, die zu Pete ging und ihre Wange an das Polster seiner Schulter schmiegte. Hier an der Costa del Sol gab es keine echte Desdemona, nur erzwungene, unzulängliche Verwandte, ein flüchtiger Kuss heute Morgen auf der Veranda oder eine Liebkosung in den versöhnlichen Schwingen der Morgendämmerung. Er wollte, dass sie ihm genauso über den Kopf strich, wie Hazel es bei Pete tat, dass sie ihm ebenso zärtlich den Rücken eincremte, ihn so behandelte, wie sie es getan hatte, nachdem er wieder zu Hause eingezogen war, als sie sich nachts an ihn gekuschelt, sein Gesicht an ihre Brust gedrückt hatte, als wollte sie es zerquetschen. Seit ihrer Wiedervereinigung hatte er sich wirklich bemüht, die Dinge zwischen ihnen geradezurücken, ein guter, treuer, aufmerksamer, kein Telefonnummern sammelnder Lebenspartner, Vater und potenzieller Ehemann zu sein, und eine Zeit lang war alles gut gelaufen. Doch Schritt für Schritt hatte die Realität sie wieder eingeholt, die Kinder, die Stunden, die sie mit ihnen und ohne sie verbrachten, die erdrückende Häuslichkeit; seine Bemühungen erschienen ihm zunehmend beschwerlich, fast vergebens. Er lag neben ihr auf dem Strandhandtuch und spürte den Dunst der kühlen Wassertropfen aus dem Meer auf ihrer Haut, sehnte sich so sehr danach, ihr wieder näherzukommen, an ihren besonderen Ort zurückzukehren. »Hallo«, sagte er und berührte ihren feuchten unteren Rücken, wollte, dass sie sich erinnerte, daran zurückdachte, »wie war das Wasser, Meerjungfrau?« Sie sah zu ihm hinunter, hielt ihr Lächeln ein Stück weit zurück. »Großartig«, sagte sie, dann wandte sie sich ab und blickte Richtung Meer.
Sie sah zu einer Frau hinüber, die weiter unten dicht am Wasser in einem schwarzen Badeanzug auf einem Strandtuch lag. Sie war mittleren Alters, um die vierzig, neben ihr saßen ein etwa gleichaltriger Mann und zwei Mädchen im Teenageralter. Sie sahen alle gleich aus. Alle hatten glatte braune Haare und rosarote Lippen und eine ähnliche Körpersprache, so wie es nur in Familien vorkommt. Nach einer Weile standen der Mann und die beiden Mädchen auf und gingen zum Wasser, um zu schwimmen. Die Frau blieb liegen und sah ihnen nach – dem Mann mit seinem robusten Gang und dem verdickten, behaarten Bauchnabel und den beiden schmalhüftigen Mädchen mit ihren vorstehenden Zähnen. Melissa beobachtete, wie die Frau ihre Familie beobachtete, und spürte, dass ein Gefühl der Traurigkeit, der Mutlosigkeit von dem gestrandeten Körper der Frau ausging, während sie ihre Familie aus der Ferne betrachtete, aus dem Gehege, in dem sie lebte. In gewisser Weise war es, als würde sich Melissa selbst von außen betrachten, in einer anderen Erscheinungsform, sie würde dem nie entkommen, dem Quell ihrer Liebe genauso wenig wie dem Quell ihrer Einengung. Melissa sah in dieser Frau einen Teil ihrer eigenen Zukunft, einer Zukunft, die aus Erschöpfung, Leere und Eingesperrtsein bestand, und diese Vorstellung war ihr zuwider. Sie wollte wieder am Anfang von etwas stehen statt am Ende. Hier draußen, inmitten ihres zusammengewürfelten Sechsers, fühlte es sich an, als wäre Michael, als wären sie und Michael ein vertrauter, sicherer Ort, als würden sie, so hoch sie sich auch hinauswagten und auf welcher Wolke sie auch schwebten, immer wieder am selben sicheren und staubigen Ort landen, wo es nichts mehr zu entdecken gab, wo die Zukunft das Gewand der Vergangenheit trug.
»Findet ihr das nicht auch großartig?«, fragte Hazel vom Handtuch nebenan in die Runde. »Ich finde es großartig, dass wir das hier tun können, wisst ihr, dass wir einfach hierherkommen können. Das sollten wir unbedingt wiederholen. Und wer weiß – vielleicht haben wir beim nächsten Mal selbst einen kleinen Knirps dabei, was meinst du, Süßer?«
Pete murmelte irgendetwas zur Antwort, öffnete ein Auge und machte es wieder zu, was Hazel als Zustimmung wertete. Am Abend zuvor hatte sie Melissa im Badezimmer zugeflüstert: »Ist er nicht perfekt? Ich glaube wirklich, er könnte der Richtige sein. Das glaube ich wirklich.«
Die Kinder betätigten sich als Architekten. Burgen wurden gebaut. Gräben wurden ausgehoben und vom Meerwasser durchspült, wenn die Wellen vorbeikamen. Als die Flut einsetzte, stürzten die Burgen zusammen und wurden weggeschwemmt. Sie bauten neue, weiter vom Wasser entfernt, hockten dort mit ihren Werkzeugen beisammen, klopften Dächer fest, konstruierten Zugbrücken aus Sandkörnchen, während ihre Haut in der Hitze dunkler wurde. Erst als die Dämmerung sich blau und still über die Berge legte und die Abendvögel umherflogen, machten sie sich auf den Rückweg. Die Kinder hatten schließlich eingewilligt und ließen sich vom Strand zu dem rechteckigen weißen Haus mit den kühlen Fliesen führen, zu einem späten Abendessen um den langen Esstisch herum; danach die dunkle spanische Nacht nah und fremd vor den Fenstern, während sie schliefen.
Am nächsten Abend brachten sie die Kinder früh ins Bett, da Stephanie zumindest einen gewissen Anschein von Ordnung und Normalität wahren wollte, inmitten all der Trinkgelage und Musik zu später Stunde, bei denen die Mädchen, aufgeputscht vom Zucker der Donuts und von Petes nie versiegendem Haribo-Quell, sie häufig vom oberen Treppenabsatz beobachteten und belauschten. Sie hatten die Gespräche über das Wiederaufflammen des Faschismus in den westlichen Ländern mitbekommen. Sie hatten die Diskussion darüber belauscht, welche Rapperin besser sei – Foxy Brown oder Lil’ Kim. Sie hatten gehört, wie Hazel verkündete, sie stehe darauf, wenn man ihr beim Sex am großen Zeh sauge, und seitdem waren alle angewiesen worden, leise zu sprechen, da es zwischen der Treppe und dem Wohnzimmer keine Tür gab. Jetzt war es nach elf, auf dem Wohnzimmertisch stand eine Wodka-Flasche, an der sie sich gewissenhaft abarbeiteten, Damian war im Garten und rauchte, die anderen fläzten sich auf dem Sofa und den Sesseln, Michael war mit seinem Handy beschäftigt, Melissa und Hazel spielten eine Partie Blackjack. Stephanie legte gerade eine Wein- und Kartenspiel-Pause ein und guckte einen schlechten spanischen Film im Fernsehen, als auf der Treppe plötzlich hektische Aktivität ausbrach, ein Wirbelwind aus Schlafanzügen und Nachthemden kam heruntergestürmt, erst Summer, dann Ria mit Avril an der Hand. Avril wirkte verstört.
»Mum, Avril ist irgendwie komisch«, sagte Summer. »Sie sagt die ganze Zeit, dass sie nach Hause will.«
Stephanie stand auf und musterte sie. Sofort krallte sich Avril an ihr fest, zerknautschte den Stoff ihres Kleids. »Was ist denn los, Schätzchen?«
»Bitte, ich will, dass wir nach Hause fahren! Bitte, Mummy!«
Ihre Stimme klang schrill und panisch, als würde sie gehetzt. Stephanie drückte sie an sich und strich ihr über den Rücken. »Aber wir können jetzt nicht nach Hause fahren, Liebes, es ist zu spät. Wir fliegen am Samstag zurück. Warum willst du denn auf einmal unbedingt nach Hause?«
»Ich will es einfach.« Sie brach in Tränen aus, und in dem Moment kam Damian aus dem Garten herein und fragte, was los sei.
»Herrje, du zitterst ja«, sagte Stephanie. »Ist ja gut, ist ja gut.« Sie strich Avril weiterhin über den Rücken und fuhr ihr über die Arme, hockte sich vor sie, doch das schien nicht zu helfen. Sie hatte nach wie vor diesen gehetzten, starren Blick, und ihr Atem ging immer schneller.
»Was ist nur mit ihr los?«, fragte Stephanie Damian, und ihre Stimme wurde lauter.
Er kam zu ihnen herüber und nahm Avrils Hände in seine. Avril sah durch ihn hindurch und atmete hektisch. Ihr Gesichtsausdruck erinnerte ihn an jene Nacht, in der sie ihn dabei erwischt hatte, wie er sich davonstehlen wollte. Er trug sie zum Sessel, setzte sie darauf ab und sagte: »Hör zu, Avril. Das Flugzeug, das uns nach Hause bringt, ist erst am Samstag so weit. Dann können wir nach Hause fliegen. Das Flugzeug kann jetzt noch nicht losfliegen, verstehst du? Deshalb bleiben wir solange hier und machen uns noch eine schöne Zeit, ja?«
»Aber Mummy, Mummy, ich kriege – ich kriege keine Luft!«
Das versetzte Stephanie in Panik. Sie packte ihre Tochter und zog sie an sich. »Holt ein Glas Wasser!«, rief sie. »O Gott, was passiert hier? Was ist denn los mit ihr? Was ist mit meinem Mädchen los?«
»Ich glaube, sie hat eine Panikattacke«, sagte Hazel. »Das ist mir als Kind auch öfter passiert.«
Stephanie stammte aus einer Familie, in der starke Gefühle üblicherweise nicht zum Ausdruck gebracht wurden, daher kamen Panikattacken in ihrem Elternrepertoire nicht vor. Sie wusste, welche Tabletten bei Heuschnupfen am besten wirkten, wie man Warzen mit einem Bazuka-Stift zu Leibe rückte und was bei Windpocken zu tun war, aber sie wusste nicht, was man bei panischem Zittern unternahm oder wie man jemanden dazu brachte, wieder ruhig zu atmen, und ihre Hilflosigkeit in diesem Szenario erschreckte sie. Sie ließ es an Damian aus: »Das ist deine Schuld. So war sie früher nicht. Du hast sie, wir haben beide, wir haben …«
»Steph…«
»Nein, das ist die Wahrheit, ich weiß es. Kinder spüren, wenn Spannung in der Luft liegt, es jagt ihnen Angst ein … nicht wahr? Ach, Schätzchen, schon gut, schon gut, alles in Ordnung, alles kommt wieder in Ordnung, schschscht, komm her …«
Stephanie war ganz offensichtlich nicht die geeignete Person, um Avril zu beruhigen, aber sie ließ nicht von ihr ab. Damian ging ein Glas Wasser holen. Dann stand er nutzlos da und sah zu, wie Stephanie ihr über den Kopf strich, sie wiegte, gleichzeitig sich selbst zu beruhigen versuchte. Hazel schob auf dem Sofa ein paar Kissen zurecht und sagte: »Lasst sie sich einfach hinsetzen. Sie beruhigt sich schon wieder. Sie muss sich bloß sicher fühlen. Wenn wir uns alle ruhig verhalten, beruhigt sie sich auch. Zeig ihr die Yoga-Atmung, Lis.«
Und es schien tatsächlich leichter für Avril zu sein, still dazusitzen und sich auf das Ein- und Ausatmen zu konzentrieren, aus der Bauchmitte heraus. Schließlich kam sie zur Ruhe. Es fühlte sich an, als würde eine Welle, die sich in ihr aufgetürmt hatte und zu brechen drohte, ihre Meinung ändern und sich langsam zurückbilden. Vielleicht würde sie doch nicht davon mitgerissen werden. Vielleicht war sie in Sicherheit, und die Sandburg würde nicht weggespült werden. Sie legte den Kopf auf die Armlehne des Sofas, spürte, wie ihre Mutter ihr übers Haar strich, was sie schläfrig machte, und hörte sie flüstern: »Schscht, schscht, schscht.«
Nachdem Avril sich beruhigt hatte und ihr die Augen zugefallen waren, trug Damian sie zurück nach oben. Melissa sah ihm nach und empfand Mitleid für ihn, da war die Niedergeschlagenheit und Traurigkeit seiner Schultern und auf der anderen Seite die väterliche Stärke, die ungebrochen schien.
Dieser Anblick stand ihr noch vor Augen, als sie in den frühen Morgenstunden jener Nacht schlaflos neben Michael lag. Sie war mehrmals kurz eingenickt und wieder aufgewacht. Sie hatte einen seltsamen, kurzen Traum gehabt, fast nur ein Bild: Damian hatte sich in der Dunkelheit über sie gebeugt, mit seinem breiten Oberkörper, und sie irgendwie auf seinen großen Händen getragen, während überall um sie herum Wasser gewesen war. Das Wasser selbst hatte sich sehr kalt angefühlt, aber ihnen beiden war darin warm gewesen, und die Wärme war von seinem Körper ausgegangen. Es war ein derart eindringliches, unmittelbares Bild, dass sie zunächst verwirrt war, als sie sich umdrehte und neben sich Michaels nackten Rücken sah, der sich beim Atmen hob und senkte. Von unten hörte sie ein Geräusch, als hätte jemand einen Stuhl verrückt, und fragte sich, ob es Damian war.
Doch als sie ins Erdgeschoss ging, traf sie dort auf Stephanie, die im Morgenmantel am Küchentisch saß und schwarzen Kaffee trank. Melissa war enttäuscht. Sie hatte sich ausgemalt, in der stillen nächtlichen Dunkelheit noch einmal mit ihm reden zu können, bloß sie beide. Sie wollte ihm etwas erzählen, etwas, das außer ihm niemand verstehen würde.
»Kaffee? Zu dieser Uhrzeit?«
»Er hilft mir einzuschlafen. Ich reagiere auf alles falsch. Grundsätzlich.«
»Wie meinst du das?«
Stephanie schüttelte den Kopf, stützte das Kinn auf die Hände. Sie machte sich immer noch Vorwürfe wegen Avril. »Ich habe mich vorhin vollkommen falsch verhalten. Ich habe mich lächerlich benommen. Schlechter hätte ich mit der Sache nicht umgehen können, oder?«
»Jetzt übertreib nicht, du warst einfach überfordert.«
»Aber ich hätte wissen müssen, was zu tun ist. Ich wusste einfach nicht, was ich tun sollte.«
»Stephanie.« Melissa tunkte einen Beutel Kamillentee in ihre Tasse und setzte sich zu ihr an den Tisch. »Man kann nicht immer die perfekte Mutter sein, in jeder Situation, bei allem, was passiert. Das ist unmöglich. Nimm mich zum Beispiel: Ich erinnere mich noch, dass ich irgendwann nicht einmal wusste, was ich tun sollte, als Ria Fieber hatte. Ich habe ihr immer mehr Kleider übergezogen, weil ich dachte, ihr wäre kalt.«
»Im Ernst?« Sie lachte leicht verächtlich. Zwischen ihnen entstand ein kurzer eisiger Moment. Dann begann Stephanie, in zurückhaltendem, verletzlicherem Ton zu erzählen: »Die Kinder sind alles, was ich mir jemals gewünscht habe, weißt du? Ich wollte für sie da sein, sie anständig erziehen, dafür sorgen, dass sie in dieser entsetzlichen Welt, in die wir sie gesetzt haben, ihr Leuchten entfalten und sie zu einem besseren Ort machen. Ich weiß noch, wie unsicher sich alles angefühlt hat, als sie noch ganz klein waren. Alles ist neu. Du bist verängstigt. Du denkst an nichts anderes, als sie am Leben zu erhalten und dafür zu sorgen, dass sie gesund sind und gedeihen. Doch mit der Zeit ändert sich das. Es wird komplizierter, wenn sie ihre eigene unabhängige Persönlichkeit herausbilden und man sie nicht mehr vor allem beschützen kann. Das finde ich noch beängstigender. Ich kann ihnen nicht mehr immer das geben, was sie brauchen. Ich kann ihnen nicht helfen … Ich weiß, du hältst mich für schrecklich antiquiert, nicht wahr?«
Melissa zuckte mit den Schultern. »So bist du eben.«
»Ja, aber es ist so beängstigend.«
»Hm, und dann wäre da noch die Frage, was später passiert, wenn die Kinder erwachsen sind, wenn sie ihren Platz in der Welt eingenommen haben und dich wirklich kaum noch brauchen.«
Etwas an Stephanies völligem Aufgehen in der Mutterrolle beunruhigte Melissa, auch wenn sie deren klare Ausrichtung und Überzeugung bewundernswert fand. Es schien auf eine Unzulänglichkeit in ihr hinzudeuten, dass es da ein Potenzial gab, das sie nicht ausschöpfte. Ein Teil von ihr wollte dieses Etwas in Stephanie töten. Wollte ihr stabiles Haus in Stücke schlagen, es entzweibrechen und sie hinauszerren, damit alles, was darin verwurzelt war, in die Luft geschleudert wurde und anderswo landete, sodass neue Möglichkeiten zu leben entstanden, neue Möglichkeiten zur Weiterentwicklung. »Wer wirst du später sein«, fragte sie Stephanie, »wenn deine ganze Erziehungsarbeit abgeschlossen ist? Wirst du dich daran erinnern, wer du selbst bist, wieder zu dir zurückfinden? Wie viel von dir wird dann noch übrig sein?«
Nun musterte Stephanie Melissa, so wie eine Großmutter ihre Enkelin ansehen mochte, der sie im späteren Leben größere Weisheit wünscht sowie die Fähigkeit, etwas in sich loszulassen, an das sie sich viel zu stark klammerte. Doch zugleich fragte sie sich, wo ihr eigenes Selbst geblieben war, das sie losgelassen hatte, schon vor so langer Zeit, und sie versuchte, es aufzuspüren, obwohl sie wusste, dass es unmöglich war, unnötig. »Wer weiß das alles schon?«, sagte sie. »Dann suche ich mir eben eine andere Identität.« Sie lachte wieder. »Du hältst mich wirklich für antiquiert.«
»Um ehrlich zu sein, beneide ich dich auf gewisse Weise ein bisschen.«
»Warum?«
»Weil du mit mehr Geduld an dein Leben rangehst. Du versuchst nicht, alles gleichzeitig zu sein.«
»Ich muss aber auch noch eine Ehefrau sein.«
Melissa nahm ihre Tasse hoch, wartete jedoch, bevor sie daraus trank. Eigentlich hatte sie es ihm, Damian, erzählen wollen, doch nun verließen die Worte wie von selbst ihren Mund. Sobald sie sie ausgesprochen hatte, bereute sie es.
»Michael möchte, dass wir heiraten.«
»Ach ja?« Stephanie lächelte. »Hat er dich gefragt?«
»Wir haben darüber geredet. Er meinte, es sei höchste Zeit. Er sagte, wir hätten einen Punkt erreicht, an dem wir entweder heiraten oder uns trennen.«
»Hm. Verstehe.«
»Und?«
»Du willst meine Meinung hören?«
»Ich bin mir nicht sicher.«
Und jetzt war es Stephanie, die umgekehrt dieses Etwas in Melissa töten wollte, dieses Ding, das sich an etwas Vagem festklammerte, etwas Ungreifbarem, einer Eventualität. Sei standhaft, eine ganze Frau als Hälfte einer Gesamtheit. Leg dich fest, verankere dich, binde dich an etwas Solides.
»Trau dich«, sagte sie laut. »Schließ den Bund fürs Leben. Akzeptiere das Gesamtpaket mit allen Vor- und Nachteilen. Dann kannst du einfach glücklich sein, statt ständig innerlich gegen etwas anzukämpfen und die Sache zu hinterfragen. Mach schon, erlöse ihn von seinem Leid.«
Die nächsten zwei Tage regnete es. Der Regen fiel fast ununterbrochen, dazwischen guckte kurz die schwache Sonne hervor, hatte aber nicht genug Kraft, um Regenbogen zu zaubern; ein sanftes Nieseln segelte herab und erfüllte die Luft mit einem beruhigenden Raunen, auf das der Boden mit einem Wispern antwortete. Der Strand war feucht und verlassen, die Bojen einsam. Der Pool wirkte nasser, kälter, doch Ria und Jerry durchbrachen wagemutig immer mal wieder die Wasseroberfläche, verstanden nicht, wie man sich vom Regen abschrecken lassen konnte, der um einen herum fiel, während man eingetaucht und sowieso vollständig von Wasser umgeben war. Am dritten Tag, als sich die Sonne wieder zeigte, zeichnete sich schließlich ein spektakulärer Regenbogen ab, und nicht nur einer, sondern gleich zwei, ein Doppelbogen mit kunterbunten Fahrspuren vor dem blauen Hintergrund, die Sonne erstrahlte in apricotfarbenem Glanz, wie ein riesiger Ohrstecker, der verlorengegangen war und nun aus der Düsternis hervorleuchtete. Die Kinder rannten nach draußen, um sie willkommen zu heißen. Langsam schlürfte die Hitze das Wasser aus dem Gras, trocknete den gelben Stoff des Heineken-Sonnenschirms, und der Grill wurde unter dem schützenden Buschwerk hervorgezogen, bereit für ihre finale Fiesta am Freitagabend.
Für dieses Urlaubs-Highlight kauften sie haufenweise Fleisch, Kebab-Spieße und Maiskolben. Kartoffeln und Salat als Beilage. Hamburger-Brötchen, Hotdog-Brötchen und natürlich reichlich Alkohol. Ihre Vorräte waren während der regnerischen Nächte zur Neige gegangen, über den langen Partien Blackjack und einem anderen Kartenspiel namens Shithead. Michael und Pete hatten die Nacht auf Freitag durchgemacht und bis zum Mittagessen geschlafen, waren verkatert und mit hängenden Gesichtern aufgetaucht. Mehr Bier, mehr Rum, mehr Whisky und alkoholfreie Getränke zum Nachspülen. »Wer soll denn den ganzen Alkohol trinken?«, rief Stephanie. »Keine Sorge, es wird sich schon eine Öffnung dafür finden«, sagte Hazel, während sie in der Küche die Getränke auspackte und im Kühlschrank verstaute oder vorübergehend im Eisfach parkte, damit sie schneller kalt wurden. Sie fingen früh mit dem Trinken an, während die Hühnerkeulen auf dem Grill schmorten, die Kohle glomm, salziger Saft aus den Schweinebauchstreifen sickerte, der gefrorene Fisch langsam in seiner Folie garte. Gegen Abend schlich die Sonne über das in einen dunkelgrünen Umhang gehüllte Gras davon, ließ es gestärkt zurück. Michael und Pete bekämpften ihren Kater mit Bier, Pete wachte über den Grill, und Michael assistierte ihm, sie wirkten verschwörerisch, jungenhaft, rissen einen Witz nach dem anderen. Damian fühlte sich ausgeschlossen, vergessen. Fehlte ihm der Sinn für Humor? Waren Michael und er vielleicht doch nicht so gute Freunde, wie er dachte? Ein Grund mehr, Melissas Gegenwart, während sie die Treppe herunterkam, wohin er sich wieder einmal mit Tolstoi zurückgezogen hatte, als noch unkomplizierter und hinreißender zu empfinden. Sie hatte ein gepunktetes gelbes Kleid mit weißem Kragen an. Die Haare trug sie offen, keine Ohrringe.
»Hübsch siehst du aus«, sagte er.
»Danke!«
»Das Kleid steht dir.«
»Danke!«
Er schien nichts dagegen tun zu können, dass ihm die Gedanken aus dem Mund purzelten. Vielleicht war Petes Bowle daran schuld, an der er bereits seit drei Uhr nachmittags nippte. Sie schmeckte wie Himbeersirup mit einem Schuss Benzin. In seinem vollmundigen, fruchtigen Rausch hielt Damian seine Gefühle für Melissa nicht mehr für ein flüchtiges Verliebtsein. Nein, es war mehr als das. All die Male, die sie am Strand gewesen waren, hatte er sich große Mühe gegeben, Stephanie nicht mit Melissa zu vergleichen – ihre Geschmeidigkeit, ihre hübschen Füße, ihren yogagestählten Körper, ihre Art, einen Donut zu essen, so als würde sie keinen Donut essen, während es bei Stefanie exakt so aussah, als würde sie einen Donut essen. Im Laufe der Woche, in der ihn nachts nur der Flur von ihr getrennt hatte, war in seinem Geist eine neue Dimension von ihr entstanden. Das Wasser aus der Dusche klang nach Melissa. Auf der Treppe hörte er Melissa-Schritte, ihre Formen verbargen sich in den Schatten, ihre Stimme erfüllte die Luft wie eine sanft singende Brise.
»Ich fühle mich ein bisschen seltsam darin«, sagte sie. »Sonst trage ich fast nie Kleider. Aber ich dachte, für unseren letzten Abend hier mache ich mich hübsch.« Sie berührte ihr nacktes Ohrläppchen, ein Meer aus silbernen Armbändern umwogte ihr erhobenes Handgelenk. »Blake schläft Gott sei Dank, also kann ich in Ruhe feiern. Der Plan ist, alle Kinder so früh wie möglich ins Bett zu kriegen, damit wir freie Bahn für unser Gelage haben. Bist du so weit?«
»Ich ziehe mir nur noch ein anderes Hemd an.«
»Mach das, aber solltest du vorhaben, noch weiterzulesen – ich glaube nicht, dass dir Hazel das heute Abend durchgehen lässt. Tolstoi et al. stehen nicht auf der Gästeliste.«
Sie tätschelte ihm liebevoll den Kopf, glitt an ihm vorbei, umgeben von einem Hauch Bodyspray, und tauchte in das Nirvana-Geschrei ein, das aus Michaels iPod erklang. Neben einer der Säulen war bereits eine Minidisco in Gang. Summer brachte Hazel und Avril eine Hip-Hop-Choreographie bei (Avril wirkte jetzt fröhlicher, war inzwischen mit der Costa del Sol warmgeworden), machte ihnen aufeinanderfolgende Sequenzen von Tanzbewegungen vor, die die anderen beiden nachahmten. Hähnchenknochen lagen verstreut auf Tellern herum. Der Grill war noch an, die Glut schimmerte sanft. »Ich will die ganze Nacht wach bleiben!«, rief Ria. »Dürfen wir?« »Nein, dürft ihr nicht«, sagte Stephanie bestimmt. Doch die Kinder zogen sich erst um kurz vor elf von der obersten Stufe zurück, gelangweilt von dem weitschweifigen Gerede betrunkener Erwachsener, das durchs Haus heraufdrang, über ungezogene Kinder, Tratsch über uninteressante Stars, wie teuer es war, in London zu leben, und irgendwelche Erwachsenenfilme. Erschöpft fielen sie schließlich in ihre Betten, träumten vom Rückflug nach England, wo ihre eigenen Betten still und leer darauf warteten, dass ihr Flieger im Sinkflug aus den Wolken auftauchte und sie nach Hause brachte.
»Wisst ihr, worauf ich Lust habe?«, fragte Hazel. »Ich würde jetzt gern schwimmen.«
»Du? Du kannst nicht schwimmen«, sagte Melissa.
»Ich kann einfach ein bisschen im Wasser planschen. Jetzt sei nicht so, komm mit.«
»Nein«, wehrte Melissa ab. »Mir ist gerade nicht nach Schwimmen zumute. Ich möchte hier ganz gemütlich auf diesem warmen, trockenen Stuhl sitzen.«
»Ihr dürft sie nicht allein schwimmen gehen lassen – sie ist betrunken, am Ende ertrinkt sie noch.« Auch Stephanie hatte ihr übliches Limit überschritten. Sie hatte Lust zu tanzen. Ein Song von Michael Jackson setzte ein, und sie sprang auf und hüpfte mit ihrem Glas Wein in der Hand hinter dem Sofa herum. Die beiden großen schwarz-weißen Tischleuchten auf der Anrichte verströmten kupferfarbenes Licht. Die Tür zum Garten jenseits des bogenförmigen Durchgangs stand offen. Zum federnden Klang von »P.Y. T.« verlagerte sich das Gespräch auf Michael Jackson und auf seine bevorstehende Tour, die fünfzig Konzerte umfassen sollte.
»Er packt das nicht, alle fünfzig Konzerte zu geben«, sagte Hazel, »nie im Leben. Er kann nicht einmal mehr singen, habe ich gehört. Wie soll er da fünfzig Konzerte durchstehen?«
»Warum nicht«, sagte Pete. »Das Geld kann er bestimmt gut brauchen.«
Michael sagte: »Das Ganze ist ein Marketing-Trick, um ihn wieder ins Rampenlicht zu rücken. Wen interessiert es, ob er singen kann? Die Leute wollen ihn sehen, einfach weil er es ist.«
Hazel füllte ihren Drink auf und sagte: »Also, ich habe gehört, er soll total durchgeknallt sein. Eine Freundin von mir arbeitet bei ihm im Management. Sie hat mir erzählt, dass sie ihn einmal zu Hause besucht hat, und als er ihr die Tür geöffnet hat, war sein ganzes Gesicht mit Lippenstift verschmiert.«
»Meinst du etwa Neverland?«, fragte Damian.
»Genau.«
»Deine Freundin war auf Neverland?«
»Sieht ganz so aus.«
»Wow. Und wie war es?«
»Ich weiß es nicht, aber ich kann sie gern fragen, wenn du willst«, sagte Hazel mit einer Spur Sarkasmus. Sie mochte Damian nicht besonders. Sie fand ihn zu angestrengt und irgendwie seltsam.
Währenddessen kreischte Michael Jackson aus den Lautsprechern. Er rief »shamone« und »woo-hoo«. Es lief »Wanna Be Startin’ Somethin’«, das erste Stück des Thriller-Albums. Köpfe nickten, Schultern wippten. »Geht jemand von euch zu seinem Konzert? Wie teuer sind die Eintrittskarten?«
»Einen Hunderter oder zwei wird man wohl hinlegen müssen. Pete geht mit mir hin.«
»Ein Freund von mir nimmt mich mit.«
»Glückliches Miststück!«
Stephanie hockte sich auf die Armlehne des Sofas, am entgegengesetzten Ende von Damian, und kippte ihren Wein hinunter. Seit dem Vorfall mit Avril waren sie höflich miteinander umgegangen, hatten weitere beschämende Auseinandersetzungen vermieden, um Avril nicht erneut zu beunruhigen. Sie benahmen sich wie zwei Bekannte auf einer Party. »Der arme Mann«, sagte sie. »Mir tut er leid. Glaubt ihr, er hat das wirklich getan, diese Kinder missbraucht?«
»Jedes Gerücht enthält ein Fünkchen Wahrheit«, sagte Hazel, während Jackson seufzte, gurrte und keuchte, während er kreischte, jauchzte, »Hee-hee« quiekte und hörbar herumhüpfte. »Ow!«, machte er. Melissa sagte: »Hört ihn euch an, Mann. Es gibt einfach keinen wie ihn. Niemand kreischt auf diese Weise.« Sie stand auf, um zu tanzen. »Ich liebe dieses Lied.« Sie klatschte in die Hände, machte schlitternde Tanzschritte. »Was genau singt er eigentlich an dieser Stelle? ›You are a vegetable?‹ Das habe ich mich schon immer gefragt …«
Damian beobachtete sie verstohlen, den kupferfarbenen Schimmer auf ihrem Hals und ihre wirbelnde Pünktchentaille. Er hatte sich ein gutes Hemd angezogen, kurzärmelig und gemustert, das sein Muskeltraining während dieser letzten Woche hoffentlich vorteilhaft hervorhob. Jetzt stand er ebenfalls auf und federte zum Rhythmus der Musik, schwang die Hüften dazu. Die Musik war eine Droge, Jackson tanzte gemeinsam mit ihnen in seinem schimmernden weißen Anzug. »Shamone! Ow!« Er befand sich hier im Zimmer, seine blitzschnellen Beine, den Moonwalk in den Füßen, mit seinem einen leuchtend weißen Handschuh. Die Musik war einzigartig, voller Bilder, von überschäumender Energie und Elektrizität, eine Stimme, die sie alle kannten, aus einer Zeit, die sie alle kannten.
»Eine Sache hat mich bei Michael Jackson immer gewundert: Mit seinen Zähnen schien er vollkommen zufrieden zu sein«, sagte Michael. »Sie waren anscheinend das Einzige, was er nicht an sich ändern wollte.«
»Woher weißt du, dass er nie etwas daran hat machen lassen?«, rief Hazel über den Lärm hinweg. »Er hat sie sich bestimmt machen lassen. Er ist Amerikaner. Alle Amerikaner lassen sich die Zähne machen. Erst recht, wenn sie berühmt sind.«
»Warum redet ihr in der Vergangenheit über ihn?«, fragte Damian, woraufhin Melissa unter dem Einfluss des Alkohols – oh, du fröhlichste aller Drogen – erörterte: »Irgendwie passt es aber. Er ist seine eigene Vergangenheit. Er ist nicht mehr der Mensch, als der er einmal geboren wurde.«
Stephanie, die in Seelenangelegenheiten eine nüchterne Sichtweise vertrat, sagte: »Sind wir das nicht alle? Keiner von uns ist noch der Mensch, als der er geboren wurde. Zumindest hoffe ich das.« Sie glaubte an Reife, an das Konzept des Erwachsenseins, nicht an das innere Kind. Melissa sah das anders. »Sind wir nicht alle noch genauso wie früher? Mein inneres Alter ist fünfzehn. Mit fünfzehn habe ich beschlossen, nicht mehr älter zu werden, also habe ich mich daran gehalten. Ich glaube, in unserem Inneren sind wir unveränderlich. Und wenn wir von unserem unveränderlichen Zustand abweichen, führt das zu Leid und Anspannung …«
»Wir müssen alle irgendwann erwachsen werden«, sagte Michael, worüber Melissa sich ärgerte, weil es ihr vorkam, als spräche er speziell von ihr, was tatsächlich der Fall war.
»Ja«, sagte Pete, »als Teenager wird geflirtet, in den Zwanzigern wird gevögelt, in den Dreißigern wird geheiratet, in den Vierzigern wird …«
»Ich werde niemals heiraten«, verkündete Melissa. »Ich will nicht irgendjemandes Braut sein. Was ist das überhaupt für ein furchtbares Wort? Findet ihr nicht, dass ›Bräutigam‹ viel schöner klingt als ›Braut‹?«
»Was passiert in unseren Vierzigern, Pete?«, fragte Hazel. »Lis, du redest manchmal wirklich Blödsinn. Beachte sie gar nicht, Michael.« Er hatte Melissa einen kurzen düsteren Blick zugeworfen, ein verletztes Zucken in den Augen, dann war es vorbei. Er nippte an seinem Drink. Er hatte es ernst gemeint, es war höchste Zeit, entweder sie würden heiraten oder sich trennen. Sie mochte die Sache ins Lächerliche ziehen, aber ihm war es damit bitterernst.
»In den Vierzigern wird man alt. Und dann fängt alles von vorn an …«
»… nachdem man sich hat scheiden lassen«, beendete Michael Petes Satz.
Jetzt setzte der Titelsong »Thriller« ein. Alle sprangen auf, außer Michael, dem nicht nach Tanzen zumute war, und Melissa tanzte mit Damian, wenngleich nicht von Angesicht zu Angesicht. Vielmehr thrillerten sie umeinander herum, während eine Woge aus Wärme an ihnen vorbeidriftete. Er tanzte gut. Tatsächlich harmonierte er beim Tanzen besser mit ihr als Michael, mit seiner angenehm mittelgroßen Statur, fast auf Augenhöhe, dem massigen Bauch, dem hungrigen Blick, den großen, vom Beat beherrschten Händen. Ihr fiel der lebhafte Traum wieder ein, in dem er über ihr gewesen war, sie getragen hatte, so wie er Avril die Treppe hochgetragen hatte, und sie spürte das starke Verlangen, von ihm umschlungen zu werden, umhüllt zu sein von seiner unvertrauten Wärme. Wie würde sich das anfühlen? Wie würden sich diese Hände anfühlen? Hazel und Pete tanzten ebenfalls miteinander. Stephanie wiegte sich immer noch neben der Säule, nickte ein wenig zum Takt, die Zimmerdecke schwang vor und zurück. Sie schwankten alle, tanzten im Two Step und stampften. Hazel lachte sich kaputt, während sie versuchte, die Bewegungen aus dem »Thriller«-Video nachzuahmen.
»Woher kennst du die ganzen Schritte?«, fragte sie Pete.
»Hör mal, jeder kennt doch die ›Thriller‹-Performance.«
Sie stampften wie die Zombies vorwärts. Sie verschmolzen zu einem Durcheinander aus Füßen, die sich nach links bewegten, und Armen, die sich nach rechts bewegten, wie an der Stelle im Musikvideo, an der Jackson und die Zombies in eine einheitliche Tanzroutine verfallen. Hazel hatte genug und ließ sich aufs Sofa plumpsen. Melissa, Damian und Pete machten weiter, Pete zog Michael auf die Füße, der eine Weile verhalten herumhüpfte. Er hatte weder mitbekommen, wie Melissa kurz zuvor aus Damians Augen Funken furchtbaren Verlangens entgegensprüht waren, noch, wie Damian in dem Moment, als sich die Tonlage während des Breaks in die Höhe schraubte, jegliche Skrupel verlor, jegliche Bedenken in Bezug auf Anstand und die Konsequenzen. Sie tanzten immer ungehemmter, Pete bewegte sich mit weit aufgerissenen Augen und starrem Blick, Melissa schüttelte wie wild den Kopf, Damian sprang um sie herum. Als das Stück vorbei war, ließen sie sich schweißüberströmt auf die Stühle fallen, außer Stephanie, die verkündete, sie werde ins Bett gehen.
»Nein!«, rief Hazel. »Niemand darf heute früh ins Bett gehen!«
»Es ist nicht früh, es ist fast zwei!«
»Genau, früh!«
»Für dich vielleicht, Miss Trinkt-alle-unter-den-Tisch, aber ich fühle mich wie ein Zombie, ihr versteht?«
»Ha, ha, ha!«
»Außerdem ist mir schlecht. Ich glaube, ich muss …« Sie hielt sich den Bauch und rannte die Treppe hoch zum Badezimmer.
»Manche Leute vertragen auch gar nichts«, sagte Hazel.
»O Gott, ich bin so was von betrunken«, stöhnte Melissa.
»Ich habe die Idee – wir spielen ein Spiel!«, sagte Hazel.
»Kommt sie eigentlich nie an den Punkt, wo sie genug hat?«, fragte Michael Pete.
»Was für ein Spiel?«, fragte Pete.
Hazel hatte sich Wodka nachgeschenkt. Ihre Beine lagen quer über Petes Schoß. Die beiden hatten mittlerweile auch einen Spitznamen verpasst bekommen: HP Sauce. Hazel trank den Wodka auf ex, ohne mit etwas Leichterem nachzuspülen. »Wie wär’s, wenn wir das Spiel spielen, bei dem jeder einen Teil von einer Geschichte erzählt – weißt du noch, Lis? Das haben wir früher immer gespielt, wenn wir die Schule geschwänzt haben.«
»Och nein, mir liegen solche Spiele nicht«, sagte Michael, der die Hand besitzergreifend auf Melissas Oberschenkel gelegt hatte.
»Das macht nichts, versuchen wir’s einfach. Ich fange an.«
Alle warteten halbherzig darauf, dass Hazel anfing. Die Musik lief immer noch, aber gedämpfter, draußen umgab die dichte, milde Nacht ihr Ferienhaus. Auf dem Wohnzimmertisch lag eine Packung Cool Original Doritos, bessere Chips gab es nicht, da waren sie sich alle einig.
»Also gut, los geht’s«, setzte sie an. »Eines Tages lief ein kleiner Junge durch die Wälder von Papua Neuguinea, stolperte über einen Stein und verletzte sich am Fuß … Mach du weiter, Pete.«
»Okay«, sagte Pete und fuhr in selbstsicherem Erzählton fort: »›Pardauz, das tat weh!‹, rief er.« (Sie kicherten über das Wort.) »Der Junge hieß … Johannes, und er hatte kein Verbandszeug dabei.«
Hazel lachte und umklammerte Petes Bizeps. »Du bist dran, Damian.«
»Ähm, also, um die Blutung zu stoppen, riss er ein Stück Stoff aus seinem T-Shirt, was ihm in der Seele wehtat, weil es sein geliebtes Ben 10-T-Shirt war, und wickelte es um die Wunde.«
»Doch, ach!«, rief Michael dramatisch. »Die Wunde blutete so stark, dass der fadenscheinige Stoff innerhalb weniger Sekunden blutdurchtränkt war, und Johannes bemerkte, kurz bevor ihm der Fuß abfiel, dass er stärker verletzt war, als er zunächst geglaubt hatte.«
Alle lachten. »Das war gar nicht schlecht, Mann«, sagte Pete. »Ein typisches Beispiel dafür, dass einem etwas besonders gut gelingt, weil man denkt, dass man die Sache verkackt, und sich deshalb so richtig ins Zeug legt.« Als Nächstes war Melissa an der Reihe. Sie fuhr fort: »Johannes, der arme Tropf, war so betrübt darüber, nur noch einen Fuß zu haben, dass er sich weinend zu Boden warf … Da vernahm er eine Stimme.«
»›Höre!‹, ertönte die Stimme in der Luft des Waldes«, sagte Hazel nach einem langgezogenen Gähnen. »›Weine nicht, denn ich bin eine gute Insektenfee und gekommen, um dich zu retten.‹ Mach du weiter, Schätzchen.«
»›Wirklich?‹, fragte Johannes. ›Oh, das ist ja famos! Nach dem unglückseligen Vorfall in Mendoza, Argentinien, als mir die Nase abgefallen ist, dachte ich, ich hätte keinen Wunsch mehr frei. Ich dachte schon, ich müsste mit erhobenem Stumpf auf einem Bein zum nächsten Krankenhaus hüpfen. Das wäre vielleicht mühselig gewesen! Also, was muss ich tun?‹«, beendete Pete.
Damian war an der Reihe, danach ließ Michael die Fee ihren Zauberstab schwenken und schickte Johannes zurück nach Leytonstone. Damian kicherte, während Melissa berichtete, wie froh Johannes war, wieder zurück in seinem Vorstadtviertel zu sein, als Preis für seine Freiheit allerdings fortan zwei linke Füße hatte und humpelte. Michaels Arm ruhte lässig hinter Melissa auf der Sofalehne, sie lehnte sich an ihn, warf Damian aber immer wieder vielsagende Blicke zu, zumindest fasste er es so auf, weshalb es ihm unmöglich war, nach oben zu gehen und die beiden Paare ihrem privaten Liebesspiel zu überlassen. Sie schien mit den Augen zu ihm zu sprechen, schien ihn etwas zu fragen.
»Wisst ihr, was er daraufhin tat?«, fragte Hazel und gähnte wieder, denn sie wollte jetzt in ihr Zimmer verschwinden und Pete vernaschen.
»Was?«, fragten die anderen.
»Oh, ich kann nicht mehr denken … Also gut, er hinkte mit seinen zwei linken Füßen in den nächsten Friseursalon und verkündete, dass er Arbeit suche. Der Manager gab ihm einen Job – er durfte die Böden und die Kundentoiletten putzen. Johannes’ Eltern machten sich währenddessen große Sorgen.«
»Und wie!«, rief Michael. »Denn sie hatten ihren Sohn seit sechs Monaten nicht mehr gesehen und schenkten der rassistischen Standarderklärung der Polizei keinen Glauben, der zufolge er von zu Hause weggelaufen sein musste, um sich vor einem wichtigen Fußballspiel am nächsten Tag zu drücken.«
»Und so …«, setzte Melissa an.
»Komm, Schätzchen«, sagte Hazel, »lass uns ins Bett gehen, es ist Zeit, sich in die Waagerechte zu begeben.«
»Ah, verstehe. Jetzt hast du also genug. Du darfst nicht ins Bett gehen, bevor die Party vorbei ist. Deine eigene Regel.«
»Wer sagt denn, dass die Party vorbei ist?« Hazel war aufgestanden, hielt Petes Hand in der einen, ihren Drink in der anderen Hand. »Komm, Süßer, wir verziehen uns.« Pete ließ sich von ihr hochziehen und folgte ihr. Mit verschleiertem, verheißungsvollem Blick taumelten sie davon. Er legte den Arm um sie, und sie stützten sich gegenseitig, während sie den anderen eine gute Nacht wünschten. Beide sahen so üppig und jung aus, als könnte ihnen die Schwerkraft nichts anhaben, selbst wenn sie es versuchte, wie barocke Engel, von den Sorgen der Sterblichen unberührt, und Michael erinnerte sich, dass Liebe so etwas mit einem anstellen konnte. Er fragte Melissa, ob sie mit nach oben komme.
»Ich glaube, ich trinke erst noch einen Kamillentee«, sagte sie. In Wahrheit hatte sie Lust auf eine Zigarette. Sie wollte mit Damian eine Zigarette rauchen, wie in dem Kokon aus Schnee.
»Okay, gute Nacht«, sagte Michael und verabschiedete sich mit einem Faustgruß von Damian. Melissa würdigte er keines weiteren Blickes. Kurz darauf hörte sie oben in ihrem Zimmer seine Schritte, eine Stille, ein vertrautes Warten. Sie wollte nicht zu ihm hochgehen.
Draußen steckte sich Damian eine Marlboro Light an. Er würde nur diese eine Zigarette rauchen, ermahnte er sich, und danach ins Bett gehen. Das, was er vorhin beim Tanzen gedacht hatte, war nicht in Ordnung gewesen. Es durfte nicht passieren, nicht hier, nicht jetzt, niemals.
»Hast du auch eine für mich?«, fragte sie, als sie aus dem Haus kam und sich zu ihm gesellte. Er spürte ihre Gegenwart, noch bevor er sie sah. Die Sterne funkelten hell. Rein wie Silber, blinkend. Nächtliche Wolken zogen in einer sanften Brise über sie hinweg, doch als sie dann wieder zum Vorschein kamen, leuchteten sie heller als alles andere. »Danke«, sagte sie und blies den Rauch aus. Sie hakte sich bei ihm unter und lehnte den Kopf an seine Schulter. Sie sahen zum Himmel hinauf.
»Ich mag dich, Damian. Wir sind auf einer Wellenlänge.«
Er rührte sich nicht, sagte nichts, konzentrierte sich ganz darauf, seine Zigarette zu Ende zu rauchen und sich ins Gedächtnis zu rufen, was er danach tun sollte. Es gab zwei Melissas, wurde ihm klar. Es gab die eine, die in der Welt lebte, nach außen gewandt, die verwegen und spöttisch war und ein wenig skrupellos, und es gab diese andere Melissa, die ruhig und unsicher war, deutlich sanfter. Letztere mochte er lieber, wobei die eine nicht ohne die andere existieren konnte. Es war der Preis, den man dafür zahlte.
»Kann ich dir noch ein Geheimnis anvertrauen?«, fragte sie.
»Was denn?«
»Ich will nicht zurück nach Hause.«
»Ich auch nicht.«
»Zu Hause wartet das Böse.«
»Ich weiß.« Er legte den Arm um sie. Eine unschuldige Nähe, wie beim letzten Mal.
»Du verstehst mich immer«, sagte sie. »Du versuchst nicht, allem genau auf den Grund zu gehen. Ich kann nicht immer erklären, wie ich mich fühle oder warum ich mich so fühle oder was nicht stimmt, nur dass etwas nicht stimmt. Du bist offenbar der Einzige, der …« Sie blickte zum Pool hinüber, auf das Wasser, die Wellen auf der Oberfläche, die sich in der Brise bewegten. Es erinnerte sie an ihren Traum: Er trug sie, sie waren von Kälte umgeben, aber ihr war warm. Wie frei und selbstvergessen das Wasser aussah. »Ich möchte frei sein«, sagte sie seltsam murmelnd. »Ich wünschte, wir könnten einfach frei sein. Warum leben wir auf diese Weise?«
Sie offenbarte sich ihm und war gleichzeitig in ihren eigenen Gedanken gefangen, doch er verstand. Er verstand vollkommen. Er sagte: »Wie lange wollen wir unser Leben noch so leben, als würden wir …«
»… auf einem dünnen Seil balancieren«, beendete sie seinen Satz.
»Was? Hey, was hast du da gerade gesagt?«
Doch sie lief auf das Schwimmbecken zu. Das dunkle Wasser rief sie, sprach zu ihr. Sie blieb nicht stehen, auch nicht als er fragte, wohin sie wolle, was sie damit gemeint habe, woher sie wisse? Es fühlte sich an, als wäre sie in ihm, als wären sie miteinander verbunden, durch dieses dünne Seil, ein weißes, seidiges, starkes Band, selbst dann noch, als sie den Rand des Beckens erreichte und in ihrem hübschen Pünktchenkleid hineinglitt, das sich um sie herum aufbauschte. Beim Kontakt des kalten Wassers mit ihrer Haut sog sie die Luft ein, lachte, und selbst da war sie in ihm, ihr Mund weit geöffnet, selbst als ihr Gesicht untertauchte und wieder an die Oberfläche kam.
»Hey, sei vorsichtig. Ertrink mir nicht.« Er stand am Beckenrand. Seine Stimme klang, als käme sie anderswoher.
»Es ist herrlich. Es ist ei-eiskalt. Komm rein.«
Sie winkte ihn wie ein Kind mit beiden Armen zu sich, er stand unter ihrem Bann, setzte sich auf den Rand. Er brauchte länger, um einzutauchen, jeder Zentimeter ein eiskalter Schock, eine Qual, doch kurz darauf war er ganz im Wasser. Er schwamm, glitt hindurch, versuchte sich aufzuwärmen, fiel in ihr Lachen ein, und nichts stand mehr zwischen ihnen, nichts, das sagte, es sei falsch. Sie waren frei. Das Seil war zerrissen.
Er schwamm auf sie zu. Ein letztes Mal versuchte er, sich zurückzuhalten, doch schon küsste er sie, und sie bog sich in seinen Armen zurück, schwebte im Wasser, neugierig. Sie öffnete sich seinem Mund. Warum sich nicht auf die Suche nach einer Cousine von Desdemona begeben, nach einem fremden, lauernden Kuss, nach einer Schwester ihrer Freundin oder einer Freundin ihrer Schwester? Sie gab sich ihm hin, und er umschlang sie, so wie sie es gewollt hatte, seine kräftigen Hände glitten an ihr herab und folgten ihrer Haut, schnell und furchtsam. Es war wie ein wundervoller Traum, eine wahr gewordene Phantasie. Sie betraten einen Raum voll dunkler Möglichkeiten, und für kurze Zeit funkelte er noch, seine Wärme und Offenbarung, doch schließlich stellten sie fest, dass dort weniger zu finden war als erhofft. Dort in dem eiskalten Wasser, hungrig, hastig, verhieß er keine Freiheit und war sie keine Erlöserin. Seine Zunge war rau, unwissend, seine Bartstoppeln kratzten sie im Gesicht, und als er unter Wasser in ihr war, wollte sie, dass er aufhörte, wusste aber nicht, wie sie es ihm sagen sollte, sie war beschämt, es schien schon zu spät dafür, also ließ sie ihn gewähren und erstarrte. Währenddessen dachte sie an Simon zurück, an den Jungen vor all jenen Jahren, als sie noch jung war, und daran, dass Menschen, die sich wirklich gernhaben, nicht miteinander schlafen sollten, und wenn sie es doch taten, bedeutete es das Ende ihrer Gespräche. Und genau das passierte.