This is it

Manchmal gibt es im Leben ganz gewöhnlicher Menschen einen Moment des Innehaltens, der Offenbarung, der Veränderung. Es geschieht, wenn die Wolken der Depression tief hängen, nie, wenn man glücklich ist. Der Asphalt zerbröckelt dir unter den Füßen, und du humpelst, trägst Lumpen, ein grausamer Wind peitscht dir ins Gesicht. Es fühlt sich an, als wärst du schon sehr lange gewandert. Du verlierst die Hoffnung. Ein Gefühl der Sinnlosigkeit schleicht sich ein, und das Einzige, was dich vorantreibt, ist der störrische menschliche Instinkt weiterzumachen. Da siehst du plötzlich etwas, direkt vor dir, etwas Leuchtendes, das rein gar nichts mit deinem eigenen Leben zu tun hat. Es ist so hell, dass du kurz die Augen zusammenkneifst. Du siehst es. Du kneifst die Augen zusammen. Und du hältst inne.

Damian erlebte diesen Moment am Morgen des 25. Juni. Und zwar im Fernsehen. Ein schmächtiger Mann trat auf die Straße und blieb in der Mitte stehen. Er hatte schwarzes, schulterlanges Haar und ein blasses, unnatürliches Gesicht. Er trug eine hellblaue Glitzerhose, die kurz über seinen Knöcheln endete, weiße Socken und schwarze Tanzschuhe. Um seinen schmächtigen, knochenweißen Oberkörper schlackerte ein Jackett im passenden glitzernden Hellblau. Er stand dort, in Damians Weg, gleißend hell, der blaue Stoff schimmerte, die

 

An diesem Morgen des 25. Juni hatte er zum dritten Mal in einer Woche verschlafen. Das Haus war leer. Die Kinder waren in der Schule, Stephanie hatte sie hingebracht und war danach vermutlich woandershin gefahren, irgendwohin, wo er nicht war, so wie sie es in letzter Zeit immer tat. Wenn Damian im Wohnzimmer war, war Stephanie in der Küche. Wenn Damian im Schlafzimmer war, war Stephanie im Garten, fegte zu unpassenden Uhrzeiten die Terrasse, stutzte die Petunien zu unerträglicher Perfektion. Der Garten sah jetzt so gut aus, dass Damian das Gefühl hatte, sich nicht dort aufhalten zu dürfen und erst recht nicht dort zu rauchen, also rauchte er weiterhin in der Auffahrt, wie ein Vagabund, zu später Stunde, und Stephanie schien es egal zu sein. Am Esstisch vermied sie es, ihn direkt anzusehen, wobei sie seit Avrils Panikattacke besonders darauf bedacht war, dass die Kinder möglichst nichts von der Mauer mitbekamen, die sich zwischen ihnen erhoben hatte, und gelegentlich tat sie so, als sähe sie ihn an, doch statt in seine Iris blickte sie auf seine Augenbraue oder sein Augenlid. Sie sagte Sachen wie: »Summer, erzähl deinem Daddy von dem Experiment, das ihr heute gemacht habt.« Und Summer erzählte ihm davon, worauf ein Moment angespannter, gekünstelter Aufmerksamkeit entstand und Damian so tat, als würde er begeistert zuhören, und nachdem er seine Begeisterung mit einem Spruch wie »Das klingt wirklich spannend, ich wünschte, ich wäre dabei gewesen« bekundet hatte, konnte das Gespräch wieder in lebhaftere, fröhlichere Gefilde zurückkehren, worüber alle froh zu sein schienen. So kam es ihm jedenfalls vor. Er war ein Außenseiter, ein Gespenst, das neben dem Haus

Wusste sie Bescheid? Diese Frage schoss ihm morgens beim Aufwachen als Erstes durch den Kopf. Vorbei waren jene Augenblicke reinen, gedankenfreien Bewusstseins, die dem vollständigen Wachsein vorausgehen und die sicherlich jeder Mensch verdient hat. Nein, der Gedanke war augenblicklich da, jeden Tag – wusste sie Bescheid? Wartete sie auf sein Geständnis, und wurde sie, je länger dieses Geständnis ausblieb, immer wütender und anfälliger für Scheidungserwägungen? Oder wusste sie nichts und war wegen etwas anderem wütend? War sie ihn einfach leid und überlegte ohnehin, sich von ihm scheiden zu lassen? Scheidung. So ein schwerwiegendes, katastrophales Ereignis im Leben eines Menschen. Eine Scheidung erschien ihm nicht mehr so revolutionär und dynamisch wie vorher, war nichts für ihn. Und um seine beklemmende Reihe von Fragen weiterzuführen: Falls sie nicht Bescheid wusste, sollte er es ihr gestehen? Sollte er? Oder sollte er die Angelegenheit besser unter den Teppich kehren? Würde es sie überhaupt interessieren, falls er es ihr erzählte? War es überhaupt eine so große Sache? Er wusste nicht, was er tun sollte. Er steckte fest. Der Asphalt bröckelte. Er humpelte. Er trug Lumpen.

Genauer gesagt trug er alte Nike-Shorts und ein dreckiges weißes Unterhemd. Er schwitzte unter der Bettdecke. Draußen war es ungewöhnlich heiß, schon seit Tagen, eine fieberhafte, sengende Hitze, bei der das normale Leben wie ein lächerliches Unterfangen wirkte und man nichts tun konnte, außer sich hinzulegen und darin zu baden, dahinzutreiben und vom warmen blauen Meer zu träumen. (Was er im Übrigen nicht tat. Er hatte verstörende, furchtbare Träume, beispielsweise letzte Nacht, als ihm erst der Kopf abgehackt worden war und sich dann in Melissas Kopf verwandelt hatte.)

Die Zigaretten befanden sich im Erdgeschoss in dem Schrank mit den Vasen. Er wollte hier oben rauchen, bei zugezogenen Vorhängen, aber er hatte Angst, dass Stephanie ihn dabei erwischen würde. Sie könnte jeden Augenblick zurückkommen, oder sie würde es riechen, und das würde die Lage noch verschlimmern – sie hatte den Geruch von Zigarettenrauch schon immer gehasst. Wie Damian erst jetzt, da er aus der Aura ihrer Liebe und Zärtlichkeit verbannt worden war, begriff, hatten Stephanies Liebe, Zärtlichkeit und ihre Fähigkeit, Zufriedenheit auszustrahlen, seinem Leben eine Wärme beschert, die er brauchte. Er hatte das vergessen. Er hatte ihre Geborgenheit verschmäht. Sie war nach Laurence’ Tod für ihn da gewesen, offen und hingebungsvoll, und er hatte sich abgewandt, und jetzt zeigte sie sich verschlossen und harsch, und er war ein armes einsames Ding ohne etwas, woran er sich festklammern konnte. Im dichten Nebel seines

Die erste Zigarette ging zu schnell zur Neige, also rauchte er noch eine und dann noch eine. Der Krebs würde ihn einholen, das wusste er. Er würde an einem Dienstag kommen, denn Dienstage waren karzinogene Tage. Die Kehle voller Teer, ging er aus der Sonne zurück ins Haus und bemerkte, dass er hungrig war; er hatte Lust auf Toast und Kaffee. Er füllte Wasser in den Kessel, schob zwei Scheiben Brot in den Toaster und schlenderte ins Wohnzimmer, setzte sich auf das hellblaue Kattunsofa und schaltete den Fernseher ein. Da geschah es. Da war sie. Die Straße. Der schmächtige schillernde Mann. Eine weiße Hand, die Drehung eines Beins. Musik.

 

Michael Jackson lief auf allen Free-TV-Kanälen. Er bestimmte die Nachrichten, die Musik, die Fernsehfilme und die Anzeigen. Er wirbelte auf seinen flinken funkelnden Tanzschuhen um seine eigene Achse. Er tanzte in der Dämmerung

Perplex, bestürzt verfolgte Damian das Geschehen, während ein Lied, ein Video nach dem anderen lief, bereits Geschichte. Die apokalyptischen Himmel von »What About Us«. Das Öffnen der quietschenden Tür zum Auftakt von »Thriller«, die ganze Düsternis dieses Songs – sein Lieblingspart, das schwere Atmen im Takt der Musik, als Michael sich in den tanzenden Zombie verwandelt und die Choreographie beginnt. Michael Jackson verstand die Natur des Bösen, seine Allgegenwärtigkeit. Er verstand, dass wir Seite an Seite damit leben und deshalb lernen müssen, uns sein Gewand überzustreifen, es in uns selbst zu erkennen. Er wusste, dass ein Dämon in ihm hauste, und er wusste, dass er diese mitreißende, verlockende Energie war, die sich in ihm manifestierte, wenn er sang und tanzte. Die Musik verlieh ihm seinen Namen. Sie war größer als er. Und jetzt trat die Musik schließlich aus dem schrecklichen, lächerlichen Schatten ihres Schöpfers heraus. Sie war rein, laut, betörend, feierte allein. Neverland wurde von Trauernden umringt. Die Luft ohne Michael. Er stieg empor, dem Mond entgegen, für seinen letzten Auftritt, seine hypnotisierenden Füße, eine Ballerina mit Jazz im Blut. Und erst jetzt, endlich, angesichts dieses ganzen Feuerwerks

Zwei Stunden lang saß er dort und starrte auf den Bildschirm, verflogen war sein Bedürfnis nach Toast, jeder Gedanke an seinen Job vergessen. Er starrte auf den Bildschirm und schluchzte, während über Michael geredet wurde, sah Michaels tanzende Füße, und die Erinnerung kehrte zu ihm zurück, wie diese Lieder durch die düsteren Räume und Mietshausflure seiner Kindheit geströmt waren. Musik war neben Büchern die zweite Form von Bildung gewesen, die ihm sein Vater hatte angedeihen lassen. Gemeinsam hatten sie ihr gelauscht und während der Zeit mit Joyce dazu getanzt. Gemeinsam hatten sie Jacksons schrittweisen verstörenden Wandel verfolgt, wie er sich immer weiter von sich selbst entfernt und versucht hatte, ein neues Gesicht für sich zu erschaffen, das alte endlich loszuwerden. Je länger Damian hinsah, desto stärker hatte er den Eindruck, dass ihm vom Bildschirm Laurence’ Gesicht entgegenblickte. Er dachte daran, wie Laurence in seinen zerlumpten Kleidern über die Railton Road gelaufen war, wie er in jener letzten Nacht im Hospiz gelegen hatte, erinnerte sich an den verletzten, enttäuschten Ausdruck in seinen Augen. Während er an all diese Dinge dachte, kam ihm eine Idee. Sie war so eindringlich, klar und vollkommen, dass er dabei Freude in sich aufwallen spürte. Er musste diese Idee unverzüglich in die Tat umsetzen, bevor sie ihm entwischte. Er wusste genau, was er zu tun hatte, worin die nächste Handlung bestand. Er stand auf. Oder besser gesagt: Er erhob sich.

Er trug die Wanne vorsichtig mit beiden Händen nach unten ins Esszimmer und stellte sie auf dem Boden unter dem Schreibtisch ab. Er schaltete den Laptop ein und öffnete ein neues Word-Dokument, dann setzte er sich und stellte die Füße ins Wasser. Alles war genau so, wie er es mochte, seine Waden waren nackt, seine Füße kalt. Nachdem er sich in Position gebracht hatte, bereit war, starrte er einen Moment auf den Bildschirm, dann legte er die Hände auf die Tastatur. Als er zu tippen begann, fiel ihm wieder ein, dass er sich noch krankmelden musste.

Mercy war am Telefon. Um Damians Füße bildeten sich nasse Flecken auf dem Fußboden.

»Was fehlt dir denn?«, fragte sie mit einem Marshmallow im Mund.

»Jemand ist gestorben.«

 

Ria hatte direkt nach ihrer Rückkehr aus Spanien, nachdem sie über die dreizehnte Schwelle getreten war, wieder zu humpeln begonnen. Dasselbe linke Bein. Derselbe gekrümmte Gang. Erst tat ihr der linke Knöchel weh, dann wurden richtige Schmerzen daraus, die zwar zwischendurch nachließen, aber nie ganz verschwanden. Also humpelte sie, humpelte die Treppe hoch, über den Treppenabsatz, die Treppe hinunter. »Warum humpelst du so?«, fragte Melissa sie. »Weil es wehtut«, gab sie zurück. Und damit nicht genug, auch ihre Hände wurden wieder trocken und bleich. Sie waren wie von einer weißen pudrigen Schicht überzogen, mussten vier- bis fünfmal am Tag mit Sheabutter eingecremt werden.

Was das Haus selbst anging, so war während ihrer Abwesenheit irgendetwas damit passiert. Sein Zustand hatte sich verschlechtert. Entweder war es sehr schnell geschehen, im

»Warst du das?«, fragte sie Ria.

»Nein. Vielleicht Blake.«

»Er kommt nicht so weit hoch.«

Ria zuckte mit den Schultern und verschwand in ihrem Zimmer.

Noch etwas hatte sich während ihrer Abwesenheit ereignet: Mrs Jackson war nicht mehr da. Man hatte sie weggebracht, in ein Altenheim, erzählte ein Nachbar. Michael musste sie nicht mehr von der Straße auflesen und retten, wenn er von der Arbeit heimkam, nach der Rückfahrt mit dem 176er, wie üblich im Anzug; mittlerweile besaß er vier davon. Der

Seit der Rückkehr aus Spanien hatte Melissa versucht, alle Gedanken an Damian aus ihrem Kopf zu verbannen. Sie schämte sich. Sie befürchtete, jemand könnte sie beide im Pool gesehen haben, vielleicht eines der Kinder. Nachdem es passiert war, hatte sie im Ferienhaus auf dem Sofa geschlafen, das Zimmer war vom Alkohol geschwängert gewesen, und tags darauf hatte sie kaum jemandem in die Augen sehen können, erst recht nicht Michael. Sie hatte das Gefühl, ihm erklären zu müssen, was vorgefallen war, aber sie wusste, dass

In der Woche nach Michael Jacksons Tod traf sie sich in Waterloo mit der Chefredakteurin des Open-Magazins, Jean Fletcher. Sie saßen auf schwarzen Bänken und aßen mit schwarzen Stäbchen Dim Sum, die sie zur Vorspeise bestellt hatten. Jean war eine dunkle, korpulente Frau mit einem erstaunlich schlechten Kleidergeschmack für jemanden, der eine Modezeitschrift herausgab. Sie trug ausschließlich Grundfarben, in verschiedenen Kombinationen, was ihr unter den Kollegen den Spitznamen »Gebieterin der Grundfarben« beschert hatte. Heute trug sie einen roten Faltenrock, eine blaue ärmellose Bluse, riesige gelbe Ohrringe und gelbe Sandalen. Ihre Extensions waren von der Hitze feucht, einige Strähnen klebten ihr an den Schläfen.

»Und wie läuft es bei dir? Wie ist dein neues Leben mit deinem entzückenden Baby und deinem wunderbaren Mann?« Sie studierte die Speisekarte und bestellte dann einen Berg gefüllter Teigtaschen, die mit Hühnchen und die mit Rindfleisch. »Ich bin unmöglich«, sagte sie, nachdem der übellaunige Kellner verschwunden war, »ich starte mit so guten Vorsätzen in den Tag, aber mittags kann ich mich nicht mehr daran erinnern.«

»Ich spiele mit dem Gedanken zurückzukommen«, sagte sie, »wieder fest angestellt zu arbeiten. Mir fehlt das Büro.«

»Im Ernst?«, fragte Jean erstaunt. »Dir fehlt das Büro? Bist du sicher, Melissa? Du vermisst das Büro nicht, glaub mir. Die ganzen Vorschriften und das Gezicke – du hast all das bloß vergessen. Du konntest es doch kaum erwarten, von uns wegzukommen, weißt du das nicht mehr? Du hast gesagt, du hättest das Gefühl, dich in Belanglosigkeit aufzulösen. Das waren exakt deine Worte.« Sie stopfte sich ein Dim Sum in den Mund und kaute darauf herum. Jean aß in der Öffentlichkeit ohne jede Spur von Befangenheit – sie schlürfte aus Suppennudelschüsseln, aus Müslischalen beim Frühstücks-Meeting, aus allen erdenklichen Schüsseln.

»So schlimm war es nun auch wieder nicht«, sagte Melissa, obwohl die Erinnerungen daran langsam wieder zurückkehrten. Sie hatte es tatsächlich kaum erwarten können, von dort wegzukommen. Sie war damals tatsächlich an einen Punkt gelangt, an dem ihr alles unerträglich, nervtötend und zermürbend erschienen war, die Listen mit Partykleidern zu erstellen, die großspurigen Fotografen, die unterernährten Models, das Souterrain-Büro, in dem ausschließlich Frauen arbeiteten, abgesehen von dem künstlerischen Leiter. Bei den Foto-Shootings war sie gelegentlich Bruce Wiley über den Weg gelaufen, und einmal hatte sie sich sogar an seiner Schulter darüber

Jean sagte: »Wie dem auch sei, meine Liebe, bei uns läuft zurzeit wegen der Wirtschaftskrise alles auf äußerster Sparflamme. Es ist furchtbar. Wir mussten schon Leute entlassen. Malcolm verwaltet jetzt alle Konten allein. Wir haben die Mode-, Lifestyle- und Kultursektion zusammengelegt, um die Fixkosten einzudämmen, und viele unserer freien Mitarbeiter …«, sie streckte die Hand aus und legte sie auf Melissas, »es tut mir leid, aber wir müssen uns von einigen Leuten trennen. Wir müssen jetzt alles im Haus machen …«

Während der nachfolgenden Essenspause dämmerte es Melissa allmählich, und sie versuchte, sich ihre Bestürzung nicht anmerken zu lassen. Sie sah auf ihren Teller hinunter, auf die blassen Teigtaschen, warme, leblose Gehirne, deren Füllung sich unter der Haut beulte. Ein widerwärtiger Anblick.

»Ich habe mich für dich starkgemacht, wirklich«, sagte Jean. »Du bist eine unserer besten Kolumnistinnen … Aber nach Malcolms Kostenaufstellung können wir euch Freiberufler einfach nicht mehr bezahlen. Das Geld reicht gerade noch so für uns selbst.« Sie drückte wieder Melissas Hand, hinterließ einen Schnipsel Ingwer auf ihrem Fingerknöchel.

»Ich kann mich aber noch gut an das Gefühl erinnern«, sagte sie, nachdem sie die Rechnung bezahlt hatte (das Essen ging auf sie, war ihr Abschiedsgeschenk), »aus dem Haus kommen zu wollen. Mir ging es wie dir, als meine Kinder noch ganz klein waren. Man fühlt sich, als wäre man in den Untergrund abgetaucht …«

Die Kündigungsfrist betrug nur vier Wochen, und natürlich bekam sie keine Abfindung. Auf der Rückfahrt in der U-Bahn saßen die Leute in ihren Anzügen, Röcken oder ihren Arbeitsklamotten da, und Melissa erinnerte sich

 

Nach seiner Glanzzeit, als die Menschen von weit her angereist waren und sogar Ozeane überquert hatten, um die Tempel von Abu Simbel und das Felsengrab von Beni Hassan zu sehen, die ägyptischen Mumien, den Hanf, den walisischen Goldschmuck und den Rhabarbersekt, begann der lange und stete Niedergang des Crystal Palace. Joseph Paxton, der Vater des Palastes, war tot. Seine Gärten und Springbrunnen waren nicht mehr vom silbrigen Glanz der Flora und des Wassers erfüllt. Das enorme Glasdach des mit viel Gusseisen konstruierten Glasgebäudes funkelte nicht mehr verheißungsvoll,

Um den Staub zu beseitigen, putzte und saugte Melissa jeden Tag, weil sie immer noch glaubte, dass der Staub an Rias rissigen Händen schuld war. Sie attackierte die wirbelnden mikroskopischen Teilchen um den Fernseher. Sie ratterte mit Mr Miele die Stufen hoch, den sie jetzt als zänkischen alten Mann ansah, ein bisschen wie ihr Vater. Letzterem stattete sie einen Besuch ab und saugte auch bei ihm, entfernte die Armee aus Krümeln unter dem Linoleumboden in der Küche, die Asche um den Sessel. Cornelius rauchte währenddessen und beharrte darauf, er könne selbst staubsaugen, obwohl er das nicht konnte und ihm selbst das Wort »Staubsauger« kaum noch einfiel. Das alte Haus legte sich wie ein Leichentuch um sie, erfüllt von schlechten Erinnerungen und unterdrücktem Groll. »Du hast mich nicht darauf vorbereitet«, sagte sie leise zu ihrem Vater im Wohnzimmer, aber er verstand nicht, was sie meinte. Er bot den Kindern Gebäck und Limonade an. Danach fuhren sie weiter zu Alice, zu ihrer Wohnung in Kilburn, und aßen dort Eba. Ria wollte keinen Eba. Sie hatte den Geschmack daran verloren.

»Was stimmt nicht mit ihrem Bein?«, fragte Alice.

»Ich weiß es nicht«, sagte Melissa. »Ich glaube, das Haus ist schuld.«

»Hast du es versucht mit Zwiebel, Knoblauch und Pfeffer?«

»Ja, habe ich.«

Nachtwesen könnten manchmal von Menschen Besitz ergreifen, sagte Alice, und wenn das geschah, sollte man unbedingt eine Kochbanane unter das Kopfkissen legen. Es war das Einzige, was half. Das hatte auch geholfen, als Melissa als Kind geschlafwandelt war. Alice selbst hatte Cornelius aufgetragen, nach Harlesden zu fahren, um eine Kochbanane zu kaufen.

»Irgendwann hast du ein besseres Haus«, sagte sie. »Das Bad muss oben sein.«

Ria erzählte Melissa auf der Rückfahrt im Auto, dass sie von dem Palast geträumt hatte: Sie war in den Wald gegangen, und während sie hindurchspazierte, hatte sich ein Mädchen hinzugesellt, sie waren durch den Tunnel und den Irrgarten gelaufen und mit dem Boot über den See gefahren. »Es war echt komisch«, sagte sie. »Erst haben wir uns in dem Irrgarten nicht gefunden, dann sind wir plötzlich zusammengestoßen, und dann war sie weg.«

»Was für ein merkwürdiger Traum«, sagte Melissa.

Der Arzt sagte, das Humpeln werde mit der Zeit verschwinden – falls sie überhaupt humpelte. Im Behandlungsraum lief Ria ganz normal. Doch sobald sie nach Hause kamen, fing sie wieder an zu humpeln.

»Machst du das absichtlich?«, fragte Melissa sie im Flur.

»Was?«, fragte Ria, und in diesem Moment bemerkte Melissa einen weiteren schwarzen Strich an der Wand neben dem Treppenaufgang, diesmal auf der anderen Seite. Sie starrte darauf. »Ich war das nicht«, sagte Ria und begann zu weinen. »Hör auf, Mummy, du bringst mein Herz zum Tropfen.«

Sie hängte wieder Knoblauch an die Eingangstür, legte Zwiebelhälften auf die Fensterbänke der Schlafzimmer. Zusätzlich überzog sie die Fensterbänke und den Pfosten des Treppengeländers unter dem Dachfenster mit einer Schicht

Sie erzählte Michael nichts von der Karte und versteckte sie in einem Buch, allerdings wies sie ihn auf die geschlängelten Linien hin und pochte darauf, dass er die Sache ernst nahm. »Ich hab es dir ja gesagt. Jemand bemalt die Wände.« Michael sah es sich an, war noch im Anzug, schwitzte und sehnte sich nach einem genüsslichen Glas Rotwein. Im Flur stank es nach Knoblauch, und er hätte ihn ihr am liebsten ins Gesicht geschleudert. Jedes Mal wenn er die Zwiebelhälften von den Fensterbänken entfernte, legte sie sie wieder dorthin zurück, wenn er arbeiten war. Er bemühte sich vergeblich, dem weit hergeholten und, ja, verrückten Glauben an übernatürliche Vorkommnisse in ihrem Zuhause mit der gewünschten Offenheit zu begegnen. »Ich bin müde«, sagte er.

»Also, was sagst du dazu?«, fragte sie und überhörte seinen Kommentar. »Ria besteht darauf, dass sie es nicht war.«

»Dann war es wohl Blake.«

»Aber er kommt mit seinen Händen gar nicht hin! Er ist ein Jahr alt!«

»Gut, aber wer war es dann? Du? Bist du sicher, dass du nicht das Haus vollkrakelst, während du eigentlich arbeiten solltest?«

Es war als Witz gemeint, der aber nicht gut ankam, denn auf das Thema Arbeit reagierte Melissa empfindlich, nachdem sie ihre letzte Kolumne für Open abgegeben und auf ihre Bewerbung bei der Vogue eine Absage kassiert hatte; auch wenn sie

»Ja, ich bin sicher«, gab sie ohne den Anflug eines Lachens oder Lächelns zurück, während sie innerlich dachte: Ich weiß, wer es ist, es aber nicht laut aussprach, damit er sie nicht wieder auf diese vernichtende Art ansah, die sie noch kleiner machen würde.

»Vielleicht sollten wir die Ghostbusters rufen«, sagte er.

Die Melissa, die in dem Haus wohnte und nicht außerhalb davon, blieb weiter ungerührt. »Warum musst du immer alles ins Lächerliche ziehen? Kannst du gar nichts ernst nehmen? Du bist wie ein Kind. Weißt du, was ich glaube? Ich glaube, wir beide sind das Problem. Wir sind der Geist. Wir suchen einander heim. Wir funktionieren nicht mehr zusammen. Letzte Nacht habe ich geträumt, dass wir beide in einem Boot waren. Ich stand am Ruder, fuhr über die Themse. Ich war verrückt. Ich trug ein altes graues, sackartiges Kleid und habe hämisch gelacht wie eine Hexe, und du lagst in dem Boot auf dem Boden, tot, mausetot. Es war grauenhaft. Ist es das, was wir einander antun? Du stirbst, und ich werde verrückt?«

»Hat er das auch Hazel gesagt?«

»Woher soll ich das wissen?«

»Nun, das sollte er aber«, sagte Melissa. »Sie will ihn nämlich heiraten. Er sollte den Anstand besitzen, ihr zu sagen, dass er kein Mann zum Heiraten ist.«

»Ach, auf die gleiche Tour, wie du es mir gesagt hast? Als du gesagt hast, du wolltest niemals jemandes Braut sein? Oder weißt du das schon nicht mehr?«

»Ich war betrunken«, sagte sie und wandte den Blick ab. »Ich weiß kaum noch, was ich an dem Abend gesagt habe.«

»Du hast gesagt, ›Braut‹ wäre ein furchtbares Wort und dass du niemals heiraten würdest. Was glaubst du, wie ich mich dabei fühle? Meinst du nicht, dass mich das ein klitzekleines bisschen treffen könnte? Manchmal glaube ich, du hast gar keine Gefühle, Punkt. Nicht nur was mich angeht, sondern auch alle anderen. Vielleicht ist dein Traum ja wahr. Vielleicht ist es das, was mit uns passiert.«

Melissa hatte sich von ihm abgewandt und betrachtete wieder die schwarze Linie an der Wand. Letzte Woche war sie mit Blake im Supermarkt gewesen, im Reinigungsmittel-Gang, und er hatte geweint, weil er aus dem Kinderwagen rauswollte, sie ihn aber nicht ließ, und sie hätte am liebsten laut geschrien. In dem Moment war am anderen Ende des Gangs etwas zu Boden gefallen und zerborsten, einige Glühbirnen, ganz von allein, als hätten sie ihren Schrei in Szene gesetzt.

»Nichts ist unbelebt«, sagte sie abwesend. »In allem steckt Leben.«

Er brauchte jetzt unbedingt einen Wein und ging in die Küche, entkorkte die Flasche. Er hatte es den ganzen deprimierenden, glühend heißen Sommer so gehalten, sich ein Glas eingeschenkt, noch bevor er die Jacke ausgezogen hatte, ein Schlussstrich am Ende des Arbeitstages, ein Aperitif vor dem Abendessen, das zu einem unbestimmten Zeitpunkt stattfinden würde. Er wünschte sich nichts sehnlicher, als mit ihr zu schlafen, sich über all diese Reibereien zu erheben und zu dem zurückzukehren, was wirklich wichtig war. Doch Nacht für Nacht schliefen sie wie Soldaten in dem roten Raum, einander entfremdet. Der Morgen war eine kalte weiße Hand, packte sie an ihren Kleiderzipfeln und zerrte sie aus dem Bett, beide von Staub bedeckt. Der Schimmel in den Schränken nahm zu. Die Tänzer an der Wand verkümmerten. Die Stützbalken unter den Bodendielen rosteten.

Eines Morgens versuchte Michael, die Feindseligkeiten zu überbrücken. Als Melissa aus der Dusche kam, zog er sie an sich. Sie war so nass, braun und glänzend, und ihre Schenkel waren so prall, dass er nicht anders konnte. Er empfand immer noch tiefe, umfassende Liebe für sie, sie zerrüttete ihn, zerstörte ihn, und obwohl er das wusste, wollte er weitermachen, bis er den letzten Tropfen aus sich herausgequetscht hatte, auch wenn er wusste, dass es keinen letzten Tropfen gab, kein Ende, keinen Ausweg. Er schlang die Arme um sie, sein dunkleres Braun an ihrem Karamell. Sie erwiderte die Umarmung kraftlos, tätschelte ihm die Schultern, freundschaftlich, distanziert, schien keinerlei Erregung zu spüren, noch nicht einmal den Druck seines einsamen glühenden Geschlechts an ihrem Bein zu bemerken. Nach einem entsetzlichen leeren Augenblick machte sie sich von ihm los und trocknete sich mit dem Handtuch ab. Die Meerjungfrau war verschwunden,

Und Thich Nhat Hanh konnte nichts gegen all das tun. Sei in jedem Moment gegenwärtig, sagte er, schenke den Blumen und den kleinen Tieren Beachtung. Spüre die beruhigende Sicherheit deines Atems, der ein- und ausströmt, ein und aus. Es war zu schlicht. In Wahrheit brachte es sie zur Weißglut, und während ihrer mittäglichen Meditationssitzung schleuderte sie das Buch quer durchs Zimmer, traf das Bild mit den Tänzern in der Dämmerung, das daraufhin ungestüm zu Boden krachte, mit mehr Wucht, als angezeigt schien. Sie hängte das Bild wieder an die Wand, aber es hing schief. Jedes Mal wenn sie es zurechtzurücken versuchte, rutschte es auf einer Seite wieder Stück für Stück nach unten. Die Tänzer wirkten in dem Indigoblau so gedrängt, als wären auch sie in ihren Bewegungen gefangen. Ihre Arme waren steif und seltsam geformt. Ihre Füße waren zu klein. Nach einer Weile gab Melissa es auf, ihre Welt gerade rücken zu wollen. Sie akzeptierte, dass das Wesen, das in dem Haus lebte, wollte, dass alles schief und krumm war. Ganz besonders Ria.

Sie hinkte. Einen weißen Handschuh an der Michael-Jackson-Hand, die andere Hand weiß vor Trockenheit. Manchmal sprach sie leise mit sich selbst. Sie wurde tollpatschig. Im Spieleparadies stürzte sie und verletzte sich am Handgelenk. Im Park, auf der Spielwiese, im Schwimmbad, an allen Orten, die sie in diesem Sommer aufsuchten, um den Sumpf zu überleben, hatte sie denselben gekrümmten Gang, und es wurde jedes Mal schlimmer, sobald sie Paradise betraten. Die Frau, die in dem Haus wohnte, wartete in dem Spiegel im Hausflur darauf, dass Melissa hineinblickte, damit sie von

An einem Sonntagabend saß Michael nach dem Besuch seiner Eltern (er sehe müde aus, hatten sie gesagt) auf einem Stuhl vor dem Doppelfenster und bearbeitete seine Haare mit dem Trimmer. Aus Gewohnheit wartete er darauf, dass

»Entschuldige«, sagte sie. Drück fester, hörte sie eine Stimme in sich. Eine tiefe, grausame Stimme. Es war die andere Seite der Traurigkeit, die Stimme der Dunkelheit. Also drückte sie fester zu, und die Stimme forderte drängend noch mehr von ihrem Körper; dann rutschte Melissas Hand ab, und sie schnitt ihn, gleich hinter dem Ohr. Es blutete.

»Pass doch auf, verflucht!« Er schlug sich die Hand vors Ohr.

»Tut mir leid. Die Klinge ist stumpf«, sagte sie. Oben knarzten die Holzdielen. Sägemehl sickerte lautlos aus dem Riss in der Küchenwand.

 

Im August wurde Blake ebenfalls krank. Rote Flecken auf den Wangen. Fieber. Der Arzt sagte, sie sollten ihn im Haus behalten. Aber im Haus breiteten sich die Krankheiten aus. Melissa, die andere Melissa, stolperte, wurde ebenso tollpatschig wie Ria, stieß gegen Dinge, oder Sachen fielen auf sie drauf, der Deckel des holländischen Gusseisentopfs knallte ihr auf den Fuß, die Fotos von ihr, Michael und den Kindern landeten beim Staubwischen auf ihrem Kopf. Alle Sachen schienen

In der darauffolgenden Nacht konnte sie nicht schlafen. Sie hatte Angst vor weiteren Verletzungen. Michaels zusammengesackter Körper war dem Bambusrollo zugewandt. Früher am Abend hatte sie das Drehen des Korkens im Flaschenhals gehört, das Knarzen der Bodendielen, als er ins Bett kam, er roch nach Mundspülung mit einer Ahnung von Wein. Die Bodendielen waren mittlerweile so laut, dass sie ihr wie eine dämonische Präsenz vorkamen, wie etwas Greisenhaftes. Sie stieg aus dem Bett und versuchte, beim Verlassen des Zimmers keinen Lärm zu machen. Oberhalb der Zierleiste zog sich inzwischen eine weitere geschlängelte schwarze Linie entlang, diesmal vom oberen Ende der Treppe bis zu Rias Zimmer. Sie färbte ab, als Melissa sie mit dem Finger berührte. Und als sie die Tür zum zweiten Zimmer öffnete, sah sie Blake dort liegen, wie üblich auf dem Bauch, das Gesicht zur Wand, doch Rias Bett neben dem Fenster war leer, und das Fenster stand offen.

Sie ging die Treppe hinunter, an den schwarzen Schlangenlinien vorbei. Das Doppelfenster saß schweigsam und still in seinem Rahmen, bewegte sich nicht, war geschlossen. Der sakrale Bogen hing immer noch fest an der Decke, und der Paprika-Boden lag, wo er hingehörte, gehorchte der Schwerkraft. Sie hatte damit gerechnet, dass nichts mehr an seinem

»Was machst du da?«, fragte die andere Melissa.

»Oh, hallo, Mummy. Ich musste aufs Klo.«

Ihre Stimme klang nicht wie Rias. Sie war tiefer.

»Ich weiß, dass du das warst«, sagte Melissa, als sie oben an der Treppe angelangt waren. Ria war hinaufgehumpelt, ein Schritt, ein langsamerer Schritt, ein Schritt, ein langsamerer Schritt. Melissa hatte sich gescheut, ihre pudrige Hand zu ergreifen, um ihr zu helfen. »Sieh doch, die Farbe ist noch ganz frisch. Du hast das gerade eben getan.«

»Ich war das nicht, ich war das nicht, Mummy!«, beteuerte das kleine Mädchen.

Sie ließ zu, dass sich das Mädchen zum Schlafen in Rias Bett legte, gab ihm aber keinen Gutenachtkuss. Bevor sie das Zimmer verließ, entdeckte sie den Kasten mit den Bunt- und Filzstiften, nahm ihn an sich und verstaute ihn in ihrem Schlafzimmer unter dem Bett. Sie nahm sich vor, Ria am nächsten Morgen ein Bad mit heißem Salzwasser einzulassen, so wie Alice ihr geraten hatte, und zur Hauptstraße zu gehen, um Kochbananen zu kaufen, damit sie eine unter ihr Kissen legen konnte. Doch am nächsten Morgen stand Ria nicht auf. Sie verschlief Michaels Kuss, bevor er sich auf den Weg zur Arbeit machte. Sie verschlief Blakes Husten, das frühmorgendliche Sirenengeheul, das Frühstück. Um zehn Uhr ging Melissa nach oben und lauschte an der Tür. Sie hörte sie wieder flüstern. Als sie das Zimmer betrat, verstummte das Flüstern. Die Wände des Renaissance-Saals erzitterten. Die Böden des byzantinischen Saals bebten.

Sie sah zu ihr auf, mit ihren kugelrunden Augen, den rußigen Sonnenaufgängen, ihren unschuldigen, geröteten Wangen.

»Bleibst du eine Minute bei mir?«, fragte sie.

»Ja.«

»Eine lange Minute.«

»Mit wem hast du da gerade geflüstert?« Erleichtert setzte sich Melissa neben sie aufs Bett. Es war ein warmer, schöner Tag. Die Sonne schien zum Fenster herein. Ria hatte eine Erkältung, bloß eine Erkältung, und sie war sie selbst, ihr ungewöhnliches Kind mit den Zähnen, die abwechselnd kamen und gingen, und ihren Phantasiefreunden. »Ist es Coco? Ich dachte, du hättest keinen Kontakt mehr zu ihr. Ist sie zurückgekommen?«

Ria lächelte verschämt und zog sich die Bettdecke vor den Mund. »Nein«, sagte sie und fing an zu lachen. Sie wollte das Spiel spielen, bei dem Melissa raten musste, welcher von ihren unsichtbaren Freunden im Zimmer war, sie hatte so viele.

»Okay«, sagte Melissa. »Ist es George?«

Ria schüttelte den Kopf und kicherte.

»Ist es Taffy Bogul?«

»Nein.«

»Charlie R.?«

»Nein.«

»Nein.«

»Shanarna.«

»Nein«, Ria lachte.

»Ach, ich gebe auf«, sagte Melissa und hob die Hände in die Luft. »Wer ist es dann?«

»Du weißt, wer es ist.« Als sie das sagte, streckte sie zur Untermalung den Arm unter der Bettdecke hervor, den mit dem verletzten Handgelenk, und die Hand sah größer aus. Auch ihre Stimme hatte sich verändert, klang wieder tiefer, durchtrieben.

»Wer?«, fragte Melissa und bekam es mit der Angst zu tun.

»Es ist Lily.«

Melissa stand auf, wich einen Schritt vom Bett zurück. Ria sah lächelnd zu ihr hoch, als könnte sie kaum glauben, wie dumm Melissa war, nicht von selbst darauf zu kommen. Ihre Augen waren immer noch sehr groß, hatten aber eine andere Farbe. Sie enthielten eine Spur Grau, Staubgrau.

»Wer ist Lily?«, fragte sie langsam.

Aber Ria gab normalerweise keine Informationen über ihre Freunde preis, nur ihre Namen.

»Hat sie die Linien gemalt?«

Sie schüttelte den Kopf und verschränkte unnachgiebig die Arme vor der Brust.

»Ist sie – jetzt hier?«, fragte Melissa.

Auf Rias Gesicht spiegelte sich ein leichter Ausdruck der Besorgnis wider. Sie blickte nach rechts, zur Tür. Melissa folgte ihrem Blick.

»Ist sie jetzt hier? Du kannst es mir ruhig sagen. Ich verrate es auch niemandem.«

»Versprochen?«, flüsterte Ria.

»Versprochen.« Um den Schwur zu besiegeln, hakten sie die kleinen Finger ineinander.

Melissa blickte zur Tür, sah aber nichts. Sie hatte noch keine von Rias Phantasiefiguren gesehen, rechnete aber irgendwie damit, dieser hier leibhaftig zu begegnen. Diese war anders.

»Sie trägt eine Brotsche.«

»Eine Brotsche? … Meinst du eine Brosche?«

»Ja, eine Brosche.«

Und je länger sie hinsah, desto deutlicher nahm Melissa ein schwaches rundes Leuchten neben der Tür wahr, ungefähr auf Brusthöhe eines kleinen Mädchens. Sonst war da nichts, nur ein kleiner schwebender Leuchtkreis.

»Kannst du ihr sagen, dass ich heute nicht zum Palast gehen möchte?«, fragte Ria. »Ich finde es da nicht mehr schön, und ich habe Angst, dass ich im Zug feststecken bleibe, wenn wir hinfahren.«

»Im Zug? Wie meinst du das? Ich verstehe dich nicht.«

Die Stimme klang überhaupt nicht nach Ria, und sie wirkte benommen. Melissa ging auf sie zu, um noch einmal ihre Stirn zu befühlen, hielt dabei aber Abstand, war geradezu angewidert. Rias Haut glühte. Sie brauchte Medizin. Sie brauchte ein Bad in heißem Salzwasser. Doch um zu baden, müsste Ria durch die Tür gehen, und das wollte Melissa vermeiden, damit Lily nicht in sie hineinlief und ihren Körper ganz in Besitz nahm, so wie Brigitte Melissas Körper in Besitz genommen hatte. Sie hatte keine andere Option, als Ria im Zimmer zu lassen, während sie die Medizin holen ging – außerdem fiel ihr gerade wieder ein, dass sie Blake allein unten in seinem Kinderstuhl gelassen hatte. Sie lief los, riss die Tür weit auf, um die Brosche beim Verlassen des Zimmers nicht zu berühren (was dadurch erschwert wurde, dass man sie von Nahem nicht mehr sehen konnte).

»Du musst jetzt damit aufhören«, sagte sie zu dem Mädchen, das in Rias Bett lag. »Du machst mir Angst. Du bist hier nicht willkommen, hörst du? Verschwinde. Und zwar sofort. Ich werde ihr jetzt die Medizin geben.«

Ria hustete und hob den Kopf an. Sie schluckte zwei Löffel von dem Sirup und legte sich wieder hin. Essen wollte sie nichts. Aufstehen auch nicht, also ließ Melissa sie bis zum Nachmittag weiterschlafen, erleichtert, nicht in diese staubigen Augen blicken und ihre zu tiefe Stimme hören zu müssen. Um fünfzehn Uhr kam Ria die Treppe herunter. Sie aß eine halbe Scheibe Toastbrot, etwas Käse und einen Apfelschnitz, während Melissa das Badewasser einlaufen ließ. Ria machte ein paar Schritte in den brüllend heißen Garten hinaus, doch die Sonne war zu grell, kurz darauf wollte sie zurück in ihr Zimmer, sie weigerte sich vehement zu baden. Melissa gab sich geschlagen und verabreichte ihr noch etwas Medizin, weil sie nicht wusste, was sie sonst tun sollte, außerdem fürchtete sie sich genauso vor ihr wie damals Brigitte. Sie wartete händeringend darauf, dass Michael nach Hause kam, doch um acht Uhr abends war er immer noch nicht zurück.

Er lächelte trotzdem, konnte nicht anders, weil sie dieses Wirbeln in ihm erzeugte, allein dadurch, dass sie so vor ihm stand, er lächelte darüber, dass sie das immer noch bei ihm auslösen konnte, selbst jetzt noch, nach allem, was geschehen war. »Ich war in einer Bar«, sagte er, die Schultern regennass.

»Wo? Mit wem?«

»Mit Damian, in Brixton. Und danach haben wir noch bei einem Event vorbeigeschaut, das die Wiley-Brüder veranstaltet haben.«

Sie schnaufte, wirkte empört und erschreckt. »Und da konntest du nicht kurz anrufen, um mir Bescheid zu geben? Ich habe stundenlang versucht, dich zu erreichen. Hättest du vielleicht mal ans Telefon gehen können?«

»Der Akku ist leer!«, brüllte er.

»Schon gut, tut mir leid!« Er schwankte, und es schien, dass seine Zunge vom Alkohol gelöst war. »Herrgott noch mal, es ist Freitagabend, ich bin etwas trinken gegangen. Darf ich nicht mal mehr das?«

Sie schraubte ihr Zähnezischen in die höchstmögliche Tonlage hinauf, eine sehr hohe. Sie hatte die Kunst des Zähnezischens im Laufe der Jahre verfeinert und damit etwas von seiner jamaikanischen Art übernommen, wofür er sie besonders liebte. Sie war vollkommen von seinem Whisky-Rausch umhüllt, ihre Konturen, ihre Kurven, ihre Gesichtszüge. Mit sanftem Blick ging er auf sie zu.

»Jetzt sei nicht so«, sagte er und zog sie an sich, »komm her, meine Kaiserin. Komm einfach her zu mir und sag, dass du mich liebst.«

Seine Arme umschlangen sie, der Oktopus hielt sie umschlungen, der Geruch nach Alkohol und chemisch gereinigtem Anzug. Sie wehrte sich, aber er war stärker als sie. Ihm war nicht bewusst, wie viel Kraft er in diesem Moment anwandte. Die Stiere im assyrischen Saal stampften. Die Löwen im Alhambra-Saal brüllten.

»Lass mich los!«, schrie sie und stieß ihn mit solcher Wucht von sich, dass sich sein Griff lockerte. Er wurde von einer seltsamen Wut übermannt, die nicht wirklich zu ihm zu gehören schien, sondern zu einer anderen Version von ihm, einer Version, die unterdrückt worden war, von ihr, vom Leben nach ihrem Drehbuch, von der Außenwelt. Er packte sie wieder fester. »Du solltest meine Frau sein«, sagte er, »du solltest mir gehören, erinnerst du dich? Du spielst mit mir. Du solltest mich lieben, ist dir das nicht klar?«

»Ich bin nicht deine Frau. Ich bin niemandes Frau.«

»Hör zu, Mel«, sagte er und streckte die Arme nach ihr aus, »lass uns einfach …«

»Nenn mich nicht Mel! Ich hasse es, wenn du mich Mel nennst!« Sie schoss herum und blitzte ihn an. »In Ordnung«, sagte er knapp, hob beschwichtigend die Hände, dann drehte er sich um und ging zum Weinregal. Er brauchte mehr. Auch er wollte fliehen. Er nahm ein Glas heraus und goss sich ein, auf seinem Gesicht ein trübsinniger, erschöpfter Ausdruck, die ersten Spuren eines alten Mannes. Vom Trinken bekam er allmählich eine Wampe.

»Glaubst du nicht, du hattest genug? Du bist betrunken.«

»Ja, und ich habe auch allen Grund dazu, bei all diesem Scheiß hier.«

»All diesem Scheiß hier? Versuch mal, es den ganzen Tag über in all diesem Scheiß auszuhalten. Hast du auch nur die leiseste Ahnung, was ich heute durchgemacht habe? Ach nein, hast du nicht, du bist ja nicht ans Telefon gegangen. Aber wärst du ans Telefon gegangen, wüsstest du, dass Ria jetzt auch krank ist. Sie hat sich bei Blake angesteckt. Und irgendetwas geht hier vor sich … O Gott, du musst mir zuhören, Michael. Es passiert etwas Schreckliches. In diesem

»Wer? Was, wenn wer von Blake Besitz ergreift?« Michael blickte sie voller Hohn an, wie ein Arzt einen Patienten, den er bereits für verrückt erklärt hat.

Sie flüsterte: »Lily.«

Er wollte lachen. Doch er beherrschte sich, versuchte es zumindest, so gut er konnte, dennoch entwischte ihm ein kleines Lachen. Nicht dass er die Sache lustig gefunden hätte, vielmehr wusste er nicht, wie er darauf reagieren sollte. Er war sprachlos, als wäre sie in eine andere Welt übergesiedelt und als hätten sie ihre gemeinsame Sprache verloren. Nach dem kurzen Lachen nahm sein Gesicht einen ruhigeren Ausdruck an, eine Form von Güte, die sie ursprünglich an ihm geliebt hatte, aber mit einem harschen Zug.

»Gut«, sagte er in diesem ruhigeren, sachlichen Tonfall und schob die Weinflasche an den Rand der Arbeitsplatte. »Versteh das jetzt bitte nicht falsch, ja? Ich glaube, es geht dir nicht gut, Mel – entschuldige, Melissa –, und ich glaube, du brauchst professionelle Hilfe. Viele Frauen bekommen nach der Geburt eine postnatale Depression. Das ist weit verbreitet. Damian hat mir erzählt, Stephanie hätte nach Summers Geburt darunter gelitten. Es ist eine echte Krankheit. Ich habe im Internet darüber gelesen. Man kann Wahnvorstellungen davon bekommen, einen Nervenzusammenbruch. Ich mein’s ernst, Mann, du musst mit jemandem reden. Ich mache mir Sorgen, wenn ich dich so reden höre …«

»Was soll das heißen? Wovon redest du?«

Melissa funkelte ihn an, wartete darauf, dass es ihm dämmerte. Und dann traf die Erkenntnis ihn mitten ins Herz. Es war ein körperlicher Schmerz, der mitten durch das bumerangförmige Leuchten hindurchschoss und ihn in Flammen aufgehen ließ. Sie hatte ihm das Herz gebrochen, so wie er es vor all den Jahren in Montego Bay vorausgesagt hatte.

»Du?« Er schrumpfte bei dem Wort, es machte ihm Angst.

»Ja genau. Ich.«

»Mit Damian? Du meinst, du … und Damian?« Er lachte, aber nur ganz kurz. Er hatte Melissas Angewohnheit übernommen, als Reaktion auf etwas Negatives zu lachen. Mit einem Mal sah er eingefallen aus, seine Schultern und sein Oberkörper hingen schlaff in seinem Anzug. »Machst du Witze?«

»Nein, das ist kein Witz.«

Melissa spürte, wie Kälte über ihre Arme und ihre Brust kroch. Eine Angst, eine andere Art von Angst, bemächtigte

»Wann?«, fragte er.

Mit ruhigerer Stimme sagte sie: »In Spanien.«

»In Spanien? Wann in Spanien? Als wir alle zusammen dort waren?«

Er wollte alles wissen, jede Einzelheit, die genauen Umstände. Er zwang sie, es ihm zu erzählen, von dem Pool, ob es ihr gefallen hatte, in welcher Stellung, wie oft. Dann explodierte er und trat den Mülleimer um. Sägemehl rieselte aus dem Riss in der Wand auf den Paprika-Boden. Das Gewitter erschütterte das Haus mit einem weiteren Donnerschlag. Die Affen im Affenhaus kreischten. Die Papageien im Papageienkäfig zeterten. Die Mäuse unter der Badewanne geigten ekstatisch. »Und trotzdem hat er sich mit mir getroffen?«, sagte Michael. »Er hat sich heute Abend mit mir getroffen, mit mir getrunken, geplaudert, als wäre nichts passiert?«

»Worüber bist du so wütend?«, fragte Melissa. »Du hast doch das Gleiche gemacht, weißt du nicht mehr? Du hast damit angefangen. Und habe ich etwa so reagiert?«

»Ach, deshalb hast du es getan? Um es mir heimzuzahlen?«

»Nein!«

»Warum dann? Warum musste es ausgerechnet mit ihm sein? Mit meinem Freund. Wie kannst du nur so respektlos mir gegenüber sein?«

Melissa hörte wieder das Schlaflied, das von oben die Treppen herunterschwebte: If that mockingbird won’t sing, Mama’s … Sie blickte zum mittleren Treppenabsatz hinauf. Oben knarzte eine Bodendiele. »Es war … ich habe nicht …«, doch sie hatte vergessen, was sie sagen wollte.

»Ich sage dir, warum ich wütend bin«, sagte Michael. »Ich werde dir erklären, warum mich das derart trifft«, und während er das tat, hallten die Worte von John Legends »Used To Love U« in seinem Kopf wider: »Es liegt daran, dass ich dich liebe. Darum. Hast du gehört? Zumindest habe ich dich geliebt, denn ich bin mir nicht sicher, ob ich es immer noch tue. Ja, es verletzt mich, dass du deinen Körper mit jemand anderem geteilt hast. Er war mein Tempel, mein heiliger Ort – er hat mir gehört, verstehst du? Ich habe mich nach dir verzehrt, habe gewartet und gewartet, dass du mich reinlässt, aber du treibst es mit jemand anderem, ausgerechnet mit Damian, o Mann … Und willst du wissen, warum ich dir das überhaupt erklären muss? Warum du dir das verdammt noch mal nicht selbst zusammenreimen kannst, weshalb du anders reagiert hast als ich? Nun, es liegt daran, dass du mich nicht liebst. Das hast du nie getan, stimmt’s? Jetzt wird mir das klar. Ich glaube, ich habe es die ganze Zeit geahnt, hatte aber zu große Angst, es mir einzugestehen. Ich bin so dumm. Ich bin so saudumm …«

Er war Richtung Flur zurückgewichen, seine Umrisse füllten die verpfuschte Doppeltür aus, er stieß mit dem Kopf fast an den Rahmen. Tränen liefen ihm übers Gesicht, sein Mund war schlaff und verzogen. Er stand noch gekrümmter da, war eingeknickt, fast augenblicklich, wie eine Pflanze, die so blitzschnell verwelkt, dass die Bewegung für die Augen nicht nachvollziehbar ist. Sie sah ihn an, voller Mitgefühl, wünschte, sie hätte es ihm nicht erzählt. Für sie war es unbedeutend, was mit dem Körper passierte oder wem er gehörte. Es hatte

»Doch, ich liebe dich«, sagte sie, aber es kam ihr vor, als würde jemand anders diese Worte aussprechen, nicht ihr wahres Selbst, das sich irgendwo außerhalb dieser Wände befand. Er schüttelte abwehrend den Kopf.

»Nein, tust du nicht. Das kannst du gar nicht. Du lügst. Ich war dir nie gut genug. Ich war nie das, was du wolltest. Wetten, dass du glaubst, mit mir zusammen zu sein, war der größte Fehler deines Lebens …«

»Nein, nein, das stimmt nicht …«

»Du hältst mich für einen Versager. Du glaubst, ich hätte dich in einen Käfig gesperrt, so wie dein Dad es getan hat. Du glaubst, ich hätte dich gezwungen, ein solch eintöniges und gewöhnliches Leben zu führen, so wie alle anderen auch. Glaubst du etwa, ich hätte mir das gewünscht? Glaubst du, ich wollte …«

»Michael, Vorsicht!«

Hinter ihm fiel Erykah Badu in ihrem Rahmen von der Wand, haarscharf an seinem Kopf vorbei. Ihre himmelblauen Glitzerstiefel, ihre gereckte Faust, die schimmernden Dreadlocks – ihr gläsernes Heim zerbarst, sandte Bruchstücke aus Licht über den Paprika-Boden. Bevor das Bild von der Wand gefallen war, hatte Melissa gesehen, wie es langsam erst zur einen, dann zur anderen Seite gerutscht war, wie es sich, gleich den Tänzern zuvor, in Schieflage gebracht hatte, bevor eine unsichtbare Kraft es von hinten von seinem Nagel geschubst hatte. Und jetzt geschah mit Barack Obama das Gleiche, sein besonnenes, nachdenkliches Gesicht neigte sich erst zur einen, dann zur anderen Seite und zerbrach, als es auf dem Boden landete.

»Was geht hier vor?«, fragte Michael.

Der umgetretene Mülleimer rollte von allein über den Fußboden. Weiteres Sägemehl rieselte aus der Wand.

»Das ist der Wind. Es ist bloß der Wind«, sagte Michael und schloss das Fenster. »Hörst du, wie es draußen stürmt?«

»Komm mit.«

Sie streckte die Hand unter der Decke hervor, hielt sie ihm flehentlich hin, trat auf der Schwelle zur Küche von einem Fuß auf den anderen. Verschwunden war die Frau, die sie einmal für Michael gewesen war, das unbeschwerte Wesen, die bezaubernde Lichtgestalt. Er hatte sie endgültig verloren, die Frau, die vor ihm stand, kannte er nicht.

Direkt über ihrem Kopf hörte Melissa, die andere Melissa, sie wusste nicht mehr, welche davon welche war, wieder das Ächzen der Bodendielen, sie knarzten und bogen sich, hallten von einem fürchterlichen Druck wider. Sie kam die Treppe herunter. Sie fuhr mit ihrer weißen Hand über die geschlängelte schwarze Linie. Sie nahm die ersten drei Stufen, ein Schritt, ein schnellerer Schritt, ein Schritt, ein schnellerer Schritt. Es war fast zu spät. Melissa rannte zum Fuß der Treppe und blickte hinauf. Jetzt würde sie herunterkommen. Ja, dort war sie, bog auf den mittleren Treppenabsatz ein, mit ihrem schaurigen gekrümmten Gang, blieb unter dem Dachfenster stehen und sah auf sie hinunter – sie war es. Ria war fast vollständig verschwunden. Die pudrigen Hände. Das Schimmern der Brosche. Das Gesicht war zu schmal, kein Leuchten war darin, nur in der Brosche. Und sie war entsetzlich blass.

»O Gott«, sagte Melissa und drückte sich die Decke an die Brust. Michael stand jetzt hinter ihr.

»Daddy«, sagte das Mädchen mit zu tiefer Stimme und anderem Akzent – Deddy.

Das Mädchen streckte die weiße Hand nach seinem Vater aus und humpelte die Treppe hinunter auf ihn zu.

»Bleib stehen, Lily!«, schrie Melissa. Sie dachte, sie würde vielleicht auf sie hören, wenn sie den Mut aufbrachte, sie direkt und energisch anzusprechen. Michael drehte sich zu ihr um, sichtbar verärgert und verwirrt.

»Was ist denn in dich gefahren?«, fragte er.

»Sie hat von ihr Besitz ergriffen. Sie macht sie krank!«

»Was redest du da? Es ist Ria. Ria, deine Tochter.«

»Deddy«, rief Lily, »mir geht es nicht gut …«

»Lass sie in Frieden, lass meine Tochter in Frieden!« Melissa lief die Treppe hoch und packte Lily am Arm, ekelte sich vor ihrer widerwärtigen weißen Hand und zerrte an ihr, als wäre Lily ein Mantel, den sie Ria herunterreißen musste. Sie hörte Weinen, ein Weinen ganz aus der Nähe, zu tief, geisterhaft, und noch ein anderes, leiseres Weinen, ein Baby von weiter weg.

»Hey!«, brüllte Michael. Aber es war zu spät.

Lily schüttelte Ria von innen, während Melissa versuchte, sie von ihr herunterzureißen, und Ria stolperte. Sie stürzte die letzten sieben Stufen hinunter, zwischen den geschlängelten schwarzen Linien zu beiden Seiten hindurch, und landete zusammengerollt in Michaels Armen, mit glühender Haut und schweißdurchtränktem Schlafanzug.

Es folgte entsetztes Schweigen. Das Haus hielt den Atem an, und alles kam zum Stillstand, selbst der Sturm.

Schließlich sagte Michael mit hasserfülltem Blick: »Sieh dir an, was du getan hast.«

Und Melissa sah das zusammengesackte Mädchen unten an der Treppe. Sie zitterte. Ihr Gesicht war abgewandt. Ihr Nacken sah aus wie Rias Nacken, mit den flaumigen dunkelbraunen Haaren. »Oh«, machte Melissa und kam langsam die

»Ich muss hier raus!«, rief sie und lief zur Haustür. »Ich muss hier raus! Mir ist etwas – zugestoßen, ich habe etwas verloren …« Sie hob die Arme an und musterte sie, als begutachtete sie einen unbekannten Gegenstand. »Ich muss hier raus!«, rief sie wieder, während sich das Pulsieren immer weiter ausbreitete, immer stärker wurde, es war unter ihr, über ihr. Die Tänzer im großen Schlafzimmer stolperten. Die Vögel im Tansania-Rechteck zuckten. Die Bambusrollos vor den Fenstern zerbarsten. Draußen zerbrachen die Figuren in dem Spielhaus. Der gelbe Teddybär auf der roten Bank wackelte. Überall um sie herum rieselte Staub herunter, regnete herab. Sie riss die Haustür auf und lief auf die Straße, mit der Decke um die Schultern, aber barfuß, und während sie über den feuchten Bürgersteig rannte, spürte sie die Nässe kaum. Sie lief bis ans Ende der Paradise Row, auf der Suche nach ihrem Haus, sie lief zum Anfang der Paradise Row, auf der Suche nach sich selbst, an den Wohnblocks vorbei, in denen Paulines Licht immer noch nicht wieder brannte, um die

Und dort, im zentralen Querschiff, brach in jener Novembernacht 1936 das vernichtende Feuer aus. Es begann leise, wie es häufig der Fall ist, mit einer kleinen orangefarbenen Flamme. Sie sauste in ihrem rasanten roten Gewand durch das Querschiff, erfasste die Wendeltreppen, die Bogengewölbe, die Ulmen im Inneren des Gebäudes und die Glaswände. Das Feuer griff auf die Volieren über, ließ die Vögel in die Freiheit flattern. Die Fuß- und Handfesseln und der walisische Goldschmuck wurden vom Feuer verzehrt, die indische Seide und die Obelisken flammten auf, die Kanonen, die Spitze, der belgische Chiffon, allesamt verloren in dem Inferno aus geschmolzenem Glas und Gusseisen. Selbst vom südlichen Küstenstreifen des Ärmelkanals waren die Flammen zu erkennen, und als das Feuer am höchsten loderte, sah man eine Schar schwarzer Vögel darüber kreisen, die sich in die Höhe aufschwangen, höher und immer höher, bis in Pissarros sicheren Himmel hinauf.