Der Hither Green Cemetery erstreckt sich über einen weiten grünen Hügel am südlichsten Stadtrand von London, in der Nähe der Stadtteile Eltham und Lee, in denen viele Londoner noch nie gewesen sind. Reihen aus rundlichen grauen Grabsteinen ziehen sich über die weitläufigen Rundungen des Hügels; die Friedhofsblumen sind den Launen und Extremen des Wetters ausgesetzt, das heute kühl ist, frühwinterlich, das Gold und Rot des späten Oktobers fällt mit den Blättern zu Boden, ein Ostwind neckt sie während ihrer Reise Richtung Erde, und der Wind trägt einen fernen Geruch nach Kaminrauch mit sich, der vom Beginn der kalten Jahreszeit kündet. Durch das luftige bernsteinfarbene Laub spaziert an einem freien Tag Damian in Turnschuhen und einem schwarzen Parka, ein sorgfältig getrimmter Dreitagebart überzieht sein Kinn, und er hält nach einem ganz speziellen Grab Ausschau, das sich seinem Plan zufolge in der nordwestlichen Ecke der Totenstadt befinden soll, in der dritten Reihe von unten. Die Beerdigung scheint eine Ewigkeit her zu sein, dabei ist seitdem erst ein Jahr vergangen. Er kann sich nicht mehr erinnern, in welche Richtung der Leichenwagen damals gefahren ist oder wo genau er angehalten hat, nur wie der Sarg hinuntergelassen und das Grab mit Erde aufgefüllt wurde, wie viel Erde es zu sein schien, wie tief sie nach unten fiel. Beim Gehen erinnert er sich so deutlich an diese Dinge, als wäre er heute zum ersten Mal hier, ganz bewusst. Er hält einen Strauß Blumen in der Hand. Außerdem hat er eine Schnitzarbeit seines Vaters aus den Kisten in der Garage mitgebracht, einen alten gebeugten Mann, das Haar von weißen Strähnen durchzogen, die er bei seinem Vater lassen möchte, wo sie sich mit den Jahreszeiten verändern und verwittern kann.
Als er in der dritten Reihe der nordwestlichen Ecke ankommt, sieht er am Grab eine Frau stehen, die sich vorbeugt und Blumen ablegt. Es sind wunderschöne Blumen, in knalligen Farben, orangefarbene Rosen, Schleierkraut, leuchtend gelbe Blumen, eine Fülle davon. Die Frau trägt einen lila Mantel und einen gelben Schal. Beim Näherkommen erkennt Damian die vertrauten Bewegungen ihrer Hände und wie sie sich aus der Taille hinunterbeugt, mit gerader Wirbelsäule und durchgedrückten Knien. Die Farben, die sie für ihre Blumengabe gewählt hat, sind die gleichen, die damals den Esstisch und die Blumentöpfe auf dem Balkon schmückten. Und ihr Mantel hat genau denselben Farbton wie der Cardigan, den sie immer getragen hat. Das Gold des Herbstlaubs zu ihren Füßen erinnert an dessen Goldknöpfe.
Sie dreht sich um und sieht ihn an. Dasselbe Gesicht, immer noch strahlend, nur älter.
»Joyce?«, fragt er.
Sie lächelt und streckt die Arme aus, umarmt ihn mit einer Innigkeit, die ihm schon lange nicht mehr von einem anderen Erwachsenen zuteilgeworden ist.
»Du bist ja ganz erwachsen«, sagt sie; ihre Stimme klingt wie aus der Ferne und hallt tief in seinem Kopf wider. »Du bist jetzt ein Mann, und weißt du, was? Alles wird gut. Einfach gut. Du wirst schon sehen.«
Sie setzen sich nebeneinander und unterhalten sich, bis seine Blumen mit ihren verschmelzen und die Goldknöpfe verblassen.
Ein denkwürdiger Tag. Er hatte das Schreiben abgeschlossen. Diesmal ein Theaterstück über Michael Jackson, der seinen eigenen Tod vortäuscht, um mitzuerleben, wie er zur Legende wird. Vielleicht würde nichts weiter daraus werden, aber das war in Ordnung, denn er würde einen Weg finden. Er würde seinen Weg finden. Von Hither Green fuhr er nach Blackfriars und nahm dort die U-Bahn bis Embankment. Der Abend war hereingebrochen, und Dunkelheit hatte sich über den Fluss gelegt. Wenn es ihn nach South Bank verschlug, stieg er immer in Embankment aus statt in Waterloo, damit er über den Fluss laufen und spüren konnte, was es bedeutete, ein Teil davon zu sein, denn die Themse bewahrte in ihrem Geist die Vielfalt der Stadt, ihre Geschichte, die Seelen ihrer Bewohner. Er betrachtete die silbernen Lichter auf der stets bewegten Wasseroberfläche, spürte den tiefen Atem der Strömung, die zum offenen Meer hinfloss. Und er saugte den magischen Anblick der blau erleuchteten Bäume am Südufer in sich auf, das immer festlich geschmückt war, immer wenn es auf Weihnachten zuging. Die gesamte Fassade der Royal Festival Hall war von einem funkelnden Vorhang aus weißen Lichtern bedeckt, die diagonal herabrieselten. Menschenmassen bevölkerten das Ufer, saßen auf der Terrasse und tranken etwas, spazierten zwischen den Bäumen entlang, warteten vor dem Karussell. Er liebte die Stadt dafür, dass sie einem immer wieder Zuflucht vor sich selbst zu gewähren vermochte, nur für einen kleinen Moment, mit ihrer abwechslungsreichen, reizvollen Umgebung, enormen Aktivität und Aufregung.
Er hatte sich mit Michael an der Nelson-Mandela-Statue vor der Royal Festival Hall verabredet, oben an der Treppe, die zur Terrasse hinaufführt. Sie hatten sich seit ihrem letzten Treffen nicht mehr gesehen, als Damian noch in seiner schreibwütigen Phase gesteckt hatte, die Füße an den meisten Abenden tief ins kalte Wasser getaucht. Er war glücklich gewesen, hoch konzentriert, hatte um sich herum fast nichts anderes wahrgenommen, obwohl er kurz davorstand, seinen Job zu verlieren, und obwohl Stephanie ihn nach unten auf die Couch verbannt hatte, bis sie darüber entschieden hätten, wie es mit ihnen weitergehen sollte. Er arbeitete bis spät in die Nacht, so wie früher, und rauchte zwischendurch in der Auffahrt, fühlte sich mit den Sternen in ihrer erlesenen Einsamkeit verbunden, während er zu ihnen aufblickte. Als sein Werk schließlich vollendet war, speicherte er es auf einem USB-Stick und schickte es zusätzlich per E-Mail an sich selbst, damit es sicher im Cyberspace verwahrt war. Danach erhob er sich, zog die Füße aus dem Wasser und ging joggen. Dorking sah während dieser Laufrunde so anders aus, grüner, farbenfroh. In einer Gasse, die von einer der Nachbarstraßen abging, hatte er sogar einen Basketballplatz entdeckt, auf dem er seither öfter mit den Kindern spielte.
Michael hatte sich nur widerstrebend auf dieses Treffen eingelassen, was verständlich war. Aber Damian hatte nicht lockergelassen, wünschte sich seine gerechte Strafe, doch während er dort neben Nelson in der Kälte stand, wusste er weder, was er zu ihm sagen sollte, noch, was ihnen beiden dieses Treffen bringen könnte. Vielleicht hätte er die Sache auf sich beruhen lassen sollen. Vielleicht hätte er sich zwingen sollen zu vergessen, dass sie einmal Freunde gewesen waren, aber Michael fehlte ihm, das Ganze war nicht komplett uneigennützig, er wollte sich bei ihm entschuldigen, aber er wollte auch wissen, wie es ihm ging. Als er Michaels Kopf, den eine Flatcap zierte, an der Treppe auftauchen sah, erst gebeugt, dann erhoben, bestand Damians erster Impuls darin, ihn mit einem Schulterklopfen und brüderlichem Handschlag zu begrüßen, so sehr freute er sich, ihn zu sehen. Doch er widerstand diesem Impuls. Er wartete pflichtschuldig darauf, dass Michael den Ton vorgab. Damian fiel auf, wie schick er aussah in seinem dicken schwarzen Mantel und dem Anzug, ein ganzer Anzug, und dass er sich der Wirkung seines Auftritts voll und ganz bewusst war. Es gab kein Schulterklopfen, keinen Handschlag.
»Was geht«, sagte Michael, und Damian antwortete ebenfalls mit einer Frage, »Wie läuft’s«, die jede für sich streng genommen keine Antwort erfordern und somit auch keine Fragezeichen. Damian sagte: »Gut siehst du aus«, woraufhin Michael düster dreinblickte, distanziert. Vor zwei Monaten hätte er Damian am liebsten umgebracht. Jetzt spürte er bloß, dass die Verbindung zwischen ihnen gekappt war, und eine verquere Art von Dankbarkeit.
»Ich habe mich gesünder ernährt. Und ich war in letzter Zeit öfter joggen«, sagte er.
»Ach ja? Ich gehe jetzt auch joggen.«
Michael ging nicht darauf ein. Er war nicht zum Plaudern hergekommen. Eine angespannte Stille machte sich zwischen ihnen breit, während die Menschen paarweise, als Trio oder in Gruppen an ihnen vorbeischlenderten, in Leggings und Cowboystiefeln, Smoking, Skinny Jeans oder im Operngewand, je nachdem, welches Gebäude und welches Stockwerk des South-Bank-Komplexes sie anpeilten. Um sie herum herrschte eine ausgesprochen gesellige Atmosphäre, aber sie waren kein Teil davon, es kam nicht wirklich in Frage, etwas trinken zu gehen, und erst recht nicht, zusammen essen zu gehen. Michael wahrte einen Meter Abstand zu Damian, wandte sich von ihm ab, dem Fluss zu.
»Laufen wir ein paar Schritte?«, fragte Damian.
Sie setzten sich in Bewegung; Michaels Gang war nicht ganz so beschwingt. Seine Füße blieben beim Laufen näher am Boden. Er spürte immer noch eine Kälte um seine Schultern, das Fehlen einer beruhigenden Instanz. Sie war nicht mehr bei ihm, wenn er irgendwo lief. Jetzt gab es nur noch eine Dimension. Er arbeitete daran, diese eine Dimension zu stärken, und dieses Treffen war dem nicht gerade zuträglich. War Legend etwa mit dem Kerl spazieren gegangen, mit dessen Frau er geschlafen hatte? Er hätte nicht herkommen sollen.
»Wie geht es den Kindern?«, fragte Damian, als sie unten an der Treppe angekommen waren und auf das Ufer zusteuerten. Es schien ein unverfängliches Terrain zu sein, um ein Gespräch zu beginnen, und war trotzdem von Schuld durchtränkt.
»Ganz gut … den Umständen entsprechend«, sagte Michael. »Ria hatte allerdings im Sommer die Schweinegrippe. Es war furchtbar, hat sie vollkommen umgehauen.«
»O nein. Üble Geschichte. Ich habe in den Nachrichten davon gehört. Hat es wirklich etwas mit Schweinen zu tun?«
»Ja. Irgendwie schon, so genau weiß ich das nicht.«
»Heftig, Mann.«
»Ich habe Schweinefleisch jetzt jedenfalls abgeschworen.«
Sie waren auf Höhe des Book Market angekommen und blieben stehen, eine Atempause. Vom Fluss stieg Kälte auf. Jugendliche schlängelten sich durch den Skatepark unter der Brücke, Boote trieben vorbei, auf denen Partys gefeiert wurden. Ein Stück weiter entlang der blauen Bäume gab es einen ruhigeren Abschnitt mit ein paar Restaurants und Bars in einer Seitengasse, wo sie schließlich landeten. Michael war aus Paradise ausgezogen, wie er erzählte, und hatte sich in der Nähe eine Wohnung gesucht, ein »Apartment«, wie er es nannte. Die Kinder waren an den Wochenenden bei ihm und wohnten während der Woche bei Melissa. Sie würde ebenfalls bald umziehen.
»Es tut mir leid. Es tut mir so leid«, sagte Damian. »Ich wollte wirklich nicht, dass das passiert, ich möchte, dass du das weißt. Mein Leben war ein einziges Chaos.«
»O bitte, unser aller Leben ist ein Chaos. Du willst dich entschuldigen? Dafür ist es zu spät. Es spielt keine Rolle mehr.«
»Aber es ist vollkommen falsch. Ihr beide solltet zusammen sein.«
»Warum?«, fragte Michael wütend.
»Weil ihr als Paar funktioniert.«
»Wir haben als Paar schon lange nicht mehr funktioniert.«
»Sie liebt dich.«
Michael warf ihm einen vernichtenden, herablassenden Blick zu, der vom Licht der Bäume in Blau getaucht wurde und Damian den Rest gab. Für sie würde es keine andere Seite geben. Sie würden nicht ans andere Ufer gelangen. Das Wasser war zu tief.
»Du bist nicht schuld«, sagte Michael schließlich. »Es hatte andere Gründe. Du warst nur eine Art Beschleuniger unserer Trennung, und wir mussten uns trennen. Und so schlimm ist es gar nicht, wenn es erst einmal so weit ist. Man glaubt, dass die Welt untergeht, aber das tut sie nicht. Man nimmt sich selbst wieder deutlicher wahr. Man begreift, dass das Schlimmste daran die Angst davor war.«
Letztlich gingen sie doch etwas trinken, in der kleinen Gasse vor ihnen, denn sie hatten Durst. Es würde ein Abschiedsdrink sein, und sie sprachen den Rest des Abends über andere Dinge.
Auf der Rückfahrt im Zug sann Damian über das nach, was Michael gesagt hatte – man nehme sich selbst wieder deutlicher wahr, und das Schlimmste daran sei die Angst davor. In seinem tiefsten Inneren spürte er keinen Neid, sondern einen geschärften Blick, Anerkennung. Sie hatten diesen erschütternden Schritt getan. Sie hatten die Taschen gepackt. Sie hatten Zeitpläne erstellt. Sie hatten den konkreten Umbau ihres häuslichen Lebens in Angriff genommen. Er hatte sich so oft ausgemalt, wie sein Leben aussehen würde, wie es sich anfühlen würde, in so einem eigentümlichen »Ein-Personen-Apartment« in einer schmalen Straße in London. Doch die Sache in die Tat umzusetzen war etwas anderes, und jetzt wurde ihm klar, dass er nicht den nötigen Mut dafür besaß. Er war jemand, der blieb, der sich ansiedelte. Vielleicht hatte er weniger Temperament, weniger Abenteuergeist. Der beschwerlichere, ruhmreichere, kompliziertere Weg war etwas für die anderen, für die Menschen, die in sich selbst genug Licht besaßen, um mit einem schwächeren Schein zurechtzukommen. Zumindest wirkte es von dieser Seite des Ufers betrachtet so auf ihn.
Als er nach Hause kam, saß Stephanie am Esstisch und bastelte an einer Collage aus Familienfotos, um sie an die Wand zu hängen. Das tat sie immer zum Jahresende. Sie trug die schönsten Bilder zusammen – aus ihren Urlauben, von ihren Ausflügen in den Park, von den Schulaufführungen und anderen Ereignissen, an die sie sich erinnern wollte, wenn irgendwo im Haus ihr Blick darauf fiel – und breitete die Fotos auf dem Tisch aus. Sie nahm die Highlights ihres Lebens in Augenschein, suchte nach einer bildlichen Ordnung, einer Symmetrie der Liebe. Dann wählte sie mit Bedacht die Bilder aus und gruppierte sie zu einem aussagekräftigen Arrangement auf ein Stück Pappe, klebte sie aber erst fest, wenn jedes Foto perfekt positioniert war und exakt auf die umliegenden Bilder Bezug nahm, damit die Gesamtkomposition eine fortwährende Feier ihres Familienlebens heraufbeschwor. Wenn das vollbracht war, rahmte sie die Collage und suchte den geeigneten Ort dafür – eine hing in der Küche, in einem verzierten Messingrahmen, zwei hingen über der Treppe, eine weitere im Flur und jeweils eine in jedem Schlafzimmer. Auf diese Weise war ihr Leben in den glücklichen Momenten eingefangen worden. Jegliches Chaos, sämtliche Enttäuschungen wurden zu Bewegungslosigkeit und Stille verdammt. Der Anblick verlieh ihr Hoffnung für das kommende Jahr. Er verlieh ihr die Hoffnung, dass es mit ihnen weitergehen würde.
Sie blickte nicht auf, als er das Zimmer betrat. Seit er sein Theaterstück vollendet hatte, schien er bemüht, ihr wieder näherzukommen – er hatte mit ihr geredet, sie ab und zu in den Arm genommen, war achtsam gewesen, hatte sich am Leben der Kinder beteiligt –, dennoch war da ein Rest Reserviertheit ihm gegenüber. Im Haus roch es nach Essen, Lasagne, Tomaten. Normalerweise machte sie die Collage im Dezember, zwischen Weihnachten und Neujahr. »Du bist früh dran«, sagte er.
»Ich weiß. Ich hatte einfach Lust darauf.«
Ein Foto von Summer, Avril und Jerry in Stonehenge aus dem Frühling dieses Jahres hatte den Platz in der Mitte bekommen. »Daran erinnere ich mich gar nicht.« Damian kam näher und sah ihr über die Schulter.
»Du warst nicht dabei«, sagte sie. »Wir hatten uns an dem Morgen gestritten, in der Auffahrt …? Deshalb bin ich mit ihnen allein hingefahren. Wir hatten letztlich eine sehr schöne Zeit dort.«
Als er sich neben sie an den Tisch setzte, erkundigte sie sich nach Michael. Er erzählte es ihr. Er wollte ihr nichts mehr vorlügen. Er würde ihr alles erzählen, was sie wissen musste, weil sie stark war und gütig. Sie war ein Tor zum Frieden. Das hatte er gespürt, als er sich dem Haus genähert hatte, als er über den Weg bis zur Haustür gegangen war, sie geöffnet hatte. Sie war sein Zuhause, ein Ort, um innezuhalten und einfach zu sein.
»Sie haben sich getrennt? Aber weshalb?«
Wie sollte er es erklären? Der Schnee im Februar, der schwarze Baum und die Zigaretten, die Nacht zu Füßen der Betischen Kordillere, die große Enttäuschung danach, ein Ballon im Sinkflug ins Nichts.
»Es gab da eine Art Beschleuniger im Prozess ihrer Trennung … Und dieser Beschleuniger – ich glaube …«
Stephanie sah ihn an, und in ihrem Blick spiegelte sich etwas wider, eine Mischung aus Freude und Sorge, ein Aufwallen von Stolz, ein Gefühl, im Recht zu sein. Sie ließ ihn den Satz nicht zu Ende bringen. »Versuchen sie, die Sache wieder hinzubiegen? Sie müssen sie wieder hinbiegen, den Kindern zuliebe.« Und sie dachte an die Infoblätter über Eheberatung, die sie im Januar zusammen mit den Broschüren über Trauerarbeit mitgenommen hatte. Sie hatte sie Damian nicht gezeigt. Sie hatte sich damals dagegen entschieden, es war ihr als nutzloses, emotional belastendes Unterfangen erschienen, aber sie hatte sie aufbewahrt, für alle Fälle. Sie blickte zur Anrichte, versuchte sich zu erinnern, in welcher Schublade sie lagen. Dann betrachtete sie wieder die Fotos, mit frischem Blick.
»Aus diesem Grund heiratet man«, sagte sie. »Wenn man verheiratet ist, ist es schwieriger, sich zu trennen. Man ist sich ausgeliefert.«
»Siehst du das so?«
»Siehst du das nicht so?«
»Nein.«
Er nahm ein Foto in die Hand. Es zeigte sie beide vor ihrer Heirat, in London, am Kanal in Camden. »Mann, ist das ewig her. Guck mal, wie jung wir da aussehen.«
»Tja, ich hatte Schwierigkeiten, aktuelle Fotos von uns beiden zu finden. Aus diesem Jahr gibt es ganz offensichtlich keins, es sei denn, du hast eins auf deinem Handy. Ich nämlich nicht.«
»Es war ein schwieriges Jahr«, sagte er.
»Findest du?«
Während sie gemeinsam an der Collage arbeiteten, blickte Stephanie irgendwann hoch und zum Garten hinaus, legte sich unter dem Tisch die Hand auf den Bauch. Ihr lag etwas auf der Zunge. Es war noch sehr früh, und sie hatte eigentlich damit warten wollen, aber vielleicht war jetzt der richtige Zeitpunkt dafür. Sie hatte bereits beschlossen, dass alles in Ordnung sein würde, mit oder ohne ihn.
»Was ist?«, fragte er, als er bemerkte, dass sie ihn ansah.
Ihr Blick wurde weich. Sie lächelte, doch dann senkte sie die Augen wieder. Ein andermal. Bald. Sollte das Leben gedeihen, ganz gleich, was draußen geschah.
»Hast du ein Foto von deinem Dad?«, fragte sie.
Als sie später vom Tisch aufstand, verfing sich ihr Hausschuh am Stuhlbein. Er stand auf, um ihn zu befreien, nahm den charakteristischen Duft ihrer glänzenden Haare wahr. Sie sah so hübsch aus in diesem Moment. Er beugte sich hinunter und schob ihr den Hausschuh zurück an den Fuß.