Damian

»Damian?«, rief Stephanie vom Treppenabsatz herunter. »Weißt du, wo das violette Spannbettlaken ist?«

Damian war in der Küche, trug seinen Schlafanzug und Morgenmantel, in dessen Tasche eine einzelne schüttere Marlboro Light steckte, die er vor etwa einer Viertelstunde mit nichtraucheruntypischer Begeisterung ganz hinten in dem Schrank mit den Vasen über dem Kühlschrank entdeckt hatte. Er war kurz davor, sie zu rauchen, nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass es nach elfmonatiger Abstinenz in Ordnung sei. Noch immer bereute er zutiefst, dass er damals, als er am Silvesterabend das Rauchen aufgegeben hatte, nicht bewusst DIE ENDGÜLTIG LETZTE geraucht hatte. Er war zu betrunken gewesen. Die einzige Art, sich von dieser schlechten und teuren Angewohnheit zu befreien, sah er darin, tonnenweise Zigaretten zu rauchen, bis einem schlecht wurde, was er getan hatte, und dann feierlich die Letzte zu rauchen, mit würdevoller, wehklagender Konzentration, daraus Kraft und Entschlossenheit zu schöpfen, um mit dem letzten Zug einen abschließenden Punkt zu setzen, was er nicht getan hatte. Es hatte keinen Abschied gegeben, keine Verbeugung, keinen finalen Nikotin-Vorhang, und das stand seinem Leben als Nichtraucher im Weg. Also würde er sich jetzt diese Allerletzte genehmigen. Es war so

»Damian?«

Äußerst widerwillig ging er in die entgegengesetzte Richtung zum Flur, steckte die Marlboro zurück in die Tasche, tätschelte sie aber weiterhin. Warum musste Stephanie ausgerechnet in diesem Moment nach einem Bettlaken fragen? Warum hatte er sie geheiratet? Warum wohnte er am Stadtrand von Dorking?

»Was?«, blaffte er.

Stephanie stand in ihrem Samstagvormittags-Putz-Outfit oben an der Treppe: Jogginghose, ein I LOVE MADRID-T-Shirt ohne BH darunter, ein marineblau-weißes Kopftuch, aus dem schüttere kastanienbraune Strähnen herausragten, Mokassins und kein Make-up. In Momenten wie diesem fiel ihm häufig auf, wie bereitwillig sie ihrem eigenen Verfall in die Hände spielte, und kurz durchzuckte ihn aus einem unerfindlichen Grund der Gedanke, überrumpelte ihn geradezu, dass Melissa beim Putzen ihres Hauses vermutlich Lipgloss trug, vielleicht hübsche Ohrringe oder ein nettes Top, und sollte Michael ihr in derartiger Aufmachung begegnen, verspürte er wahrscheinlich eine köstliche, anhaltende Genugtuung.

»Ich habe letzte Woche bei BHS ein violettes Bettlaken gekauft und es in die Truhe geräumt, und jetzt ist es weg«, sagte sie. »Es war ein Spannbettlaken. Es passt sich den Ecken der

»Ich habe kein violettes Laken gesehen«, sagte er. »Ich weiß nicht einmal, wovon du sprichst.«

Jetzt weinte sie, nicht laut schluchzend, das hätte nicht zu ihr gepasst, aber ihr standen die Tränen in den Augen, und ihre Schultern hingen flehend herab. Damian spürte, dass er sie trösten sollte, was ihn noch wütender machte. Er dachte immer noch an die Marlboro, konnte den Augenblick, in dem

»Hör mal, Steph, mir geht es gut.« (Ihre spitze Zunge regte sich wieder, aber sie hörte ihm geduldig zu.) »Sei nicht traurig. Es tut mir leid. Ich schätze, ich bin ein bisschen distanziert. Es liegt bloß an der Arbeit, lästige Angelegenheiten, du weißt schon. Was Laurence angeht, komme ich damit klar, ganz ehrlich. Es ist wirklich keine große Sache.«

»Ist dir klar, wie verrückt das klingt? Wie kann es denn keine große Sache sein?«

Stephanie erschien es immer noch seltsam und verstörend, dass Damian seinen Vater beim Vornamen nannte. Sie hatte nicht ein Mal gehört, dass er von ihm, wie allgemein üblich, als Vater gesprochen hätte. Sie war »Laurence« nur zweimal begegnet, einmal im Southbank Centre in London bei einem Abendessen mit Damian, als sie erst kurz zusammen gewesen waren, ein weiteres Mal auf ihrer Hochzeit. Er war ihr ziemlich steif und schroff vorgekommen, etwas herablassend, kein glücklicher Mensch.

»Es ist einfach keine große Sache. Wir standen uns nicht nahe. Ich bin nicht am Boden zerstört. Du weißt, dass wir uns nicht sehr nahestanden.«

Stephanie starrte ihren Mann eine Sekunde lang an, als betrachtete sie ein Lebewesen in einem Aquarium und als würde ihr gerade klar, dass diese Diskussion keinen emotional intelligenten Abschluss finden würde. Sie musste ihm einfach Zeit geben. Sie hatte gesagt, was gesagt werden musste, und fühlte sich etwas erleichtert, und jetzt würde sie mit ihrem Samstag fortfahren, den sie nach dem Putzen in der energiegeladenen und vereinnahmenden Gesellschaft ihrer Kinder verbringen würde. Es galt, ein Sahnebonbon-Schiff zu basteln, ein Buckingham-Palace-Puzzle fertigzustellen, an einer Schwimmstunde teilzunehmen, und – oh, das fiel ihr gerade wieder ein – abends waren sie zum Essen bei Michael und Melissa eingeladen, um das neue Baby zu begrüßen. Die Vorstellung einer spannungsgeladenen Fahrt nach London an Damians Seite erfüllte sie nicht gerade mit Vorfreude. Sie hatte schon ein Geschenk gekauft, ein Paket Strampler, 69 Monate, 100 % Baumwolle, aber vielleicht sollten sie ihren Besuch besser verschieben.

»Bist du sicher, dass dir danach ist, später zu dem Abendessen zu fahren?«, fragte sie. »Sollen wir es absagen?«

»Nein.«

»Nein, dir ist nicht danach, oder nein, du willst es nicht absagen? Es sind deine Freunde, mir macht das nichts aus.«

»Nein, wir fahren hin«, sagte er. »Mir geht es gut.«

»Es geht dir gut.«

»Ja, mir geht es gut.«

»Okay. Wie du meinst.« Stephanie wandte sich um, zog entnervt die Augenbrauen hoch, reckte die Hände in die Luft und stieg die Stufen wieder hinauf. Sie würde sich von ihm nicht den Tag vermiesen lassen. Glück war ein menschliches Grundrecht. »Und denk dran, ich bin für dich da, falls du

Damian blickte ihr hinterher, als sie verschwand, und fühlte sich miserabel. Die Freude über die Marlboro hatte einen kleinen Dämpfer erlitten, aber er würde sie trotzdem rauchen. Er ging zurück in die Küche und zündete den Herd an, doch als er die Zigarette aus seiner Tasche herauszog, stellte er fest, dass er sie mit seinem Getätschel zerbrochen hatte. Direkt unterhalb des Filters, an der denkbar schlechtesten und irreparabelsten Stelle. Er hatte nicht einmal ein Blättchen, um sie zu flicken. Der Schrank mit den Vasen war von allem Raucherzubehör befreit worden, von jeglicher Versuchung, abgesehen von diesem einen versehentlichen Überbleibsel. Die Chance auf einen feierlichen Nikotin-Abschied war dahin. Er machte Stephanie persönlich dafür verantwortlich.

 

Damian hatte Stephanie vor fünfzehneinhalb Jahren auf einer Spendenveranstaltung in Islington kennengelernt, als sie beide noch in London gewohnt hatten. Er arbeitete damals als Wohnungsverwalter in Edgware, sein erster Job nach Studienabschluss, und sie in der Spendenabteilung der Kinderschutzorganisation NSPCC. Sie war hochgewachsen, kräftig und bescheiden und insofern nicht sein Typ, als sie keine Ähnlichkeit mit Lisa Bonet, Chilli von TLC oder Toni Braxton besaß, aber sie war umgänglich und durchaus attraktiv, irgendwo zwischen Kate Moss und Alison Moyet, und sie besaß etwas, was Damian fehlte: die Gabe der Zufriedenheit, was beruhigend auf ihn wirkte. Sie stammte aus Leatherhead, einer Kleinstadt im Norden von Surrey. Ihrem Vater Patrick, einem ehemaligen Transport-Manager, gehörte ein Blumen- und Gartenmöbelcenter an der A24 Richtung Horsham, das er mit seiner halbitalienischen Frau Verena, Stephanies Mutter, betrieb.

»Und dich hochgearbeitet. Gut. Ja. Das ist gut. Und es klingt sehr interessant, nicht wahr, Verena?«

»Sehr interessant. Umweltbewusst. Sinnvoll«, sagte Verena.

»Das ist es wirklich. Eine sehr sinnvolle Arbeit«, sagte Stephanie. »Das sage ich ihm auch immer.«

»Bestimmt ist sie das. Ganz bestimmt.« Patrick machte einen Knopf zu, der sich an seinem rosafarbenen Hemd gelöst hatte. »Und ich wette, du bist auch wirklich gut darin, so wie ich es in der Werbung war. Aber«, fuhr er fort, »mein Ziel war immer, einmal ein eigenes Geschäft zu haben, mein eigener Chef zu sein, mein Königreich selbst zu regieren und so weiter. Aber ohne all die Jahre in der Werbung und auch im Transportwesen – die waren durchaus nützlich –, also, um es mit einem Klischee auszudrücken, ohne diese Erfahrung wäre ich heute nicht da, wo ich jetzt bin. Habe ich recht, Verena?« »Ja, das hast du, meinst du nicht auch, Steph?« »Ja, Dad, da hast du recht.« »So ist es, meine Prinzessin.«

»Mum, Dad, kann ich euch noch etwas anbieten? Noch ein paar Chips? Oder Cashewnüsse? Das Lamm ist noch nicht ganz durch.«

»Thai Sweet Chili mit Sour Cream.«

»Meine Güte – was man heutzutage alles mit Chips anstellt!«, sagte Patrick. »Als ich ein Kind war, gab es Chips nur gesalzen, mit Cheese-and-Onion-Geschmack oder Salt and Vinegar. Als damals Beef and Onion auf den Markt kam, war das fast wie Kaviar. Wie Satelliten- und Kabelfernsehen. Als Channel Four an den Start ging, war das eine Revolution, nicht wahr, Verena?«

»O ja, eine echte Revolution.« Verena war bei ihrem dritten Glas Wein angelangt. »Erinnerst du dich noch daran, Steph?«

»Mehr oder weniger … vage. Und du, Damian?«

»Ja.«

»Davor gab es ja nur drei Sender, BBC1, BBC2 und ITV. Erinnert ihr euch an Familien-Duell

»Ich habe Familien-Duell geliebt!«

»Das hast du, Steph. Auf ITV liefen die ganzen guten Sendungen – Die Benny Hill Show und Der Aufpasser. Seitdem hat die Qualität ziemlich nachgelassen.«

»Die Qualität hat überall nachgelassen, weil alle miteinander konkurrieren.«

»Richtig, Verena! Genau das meine ich. Was Chips angeht, ist das nicht unbedingt schlecht, wenn dabei solche Geschmacksrichtungen herauskommen wie – was war das noch mal für eine Sorte, Prinzessin?«

»Thai Sweet Chili mit Sour Cream.«

»Genau. Ein bisschen gesunder Konkurrenzkampf schadet nicht, wenn dabei so faszinierende Mischungen wie diese entstehen. Aber wenn es bedeutet, dass die Leute Fernsehsendungen machen, die sogar sie selbst für – entschuldigt meine Ausdrucksweise – den letzten Schund halten, führt das doch nur zu schlechter Unterhaltung, nicht wahr? Ich meine, was

»Wie könnte ich sie vergessen, Dad. Du hast uns schließlich jeden Samstag genötigt, sie zu gucken, ohne Ausnahme.«

»Ja, Damian, das hat er. Und wenn eine von uns ihn dabei gestört hat, ist er richtig, richtig wütend geworden.«

»Das bin ich, das bin ich. Ich habe diese Sendung geliebt. Und sie wurde abgesetzt. Kann ich einfach nicht nachvollziehen. Und jetzt läuft stattdessen Football Focus, das nicht vom selben Kaliber ist, wenn ihr mich fragt. Gary Lineker ist ein Schwachkopf, entschuldigt meine Ausdrucksweise. Bei ihm stehen nur seine lässigen Hemden und sein Milchbubi-Gesicht im Vordergrund, die Frauen lieben ihn, aber er ist kein Kommentator. Er kann Don Leatherman nicht das Wasser reichen. Mag sein, dass er besser aussieht, aber er hat nicht halb so viel Köpfchen wie Don.«

»Er hat sich aber sehr für Chips eingesetzt«, sagte Verena. »Mit den Werbespots, die er dafür gemacht hat …«

»Aber nur für Walkers. Und die haben nicht alle neuen Geschmacksrichtungen«, sagte Stephanie.

»Da hast du es«, sagte Patrick und nahm sich noch ein paar Chips, »ein Fußballspieler, der Werbeträger wird und danach Kommentator. Was mich wieder zu meinem ursprünglichen Thema zurückbringt. Damian«, sagte er, »vergiss nicht: Du kannst alles erreichen, was du erreichen willst, aber es ist wichtig, die Posten, auf denen wir gelandet sind, wertzuschätzen und daraus zu lernen. Falls dir die Solarwärme eines Tages zu heiß wird, solltest du die Küche – frei nach Truman – vielleicht verlassen. Aber vorerst trägst du die Verantwortung für eine ausgesprochen wertvolle Frau und zwei wertvolle Prinzessinnen, und auch für diesen kleinen Prinzen hier – komm her, du! Du musst die Brötchen verdienen, und darauf sollte momentan dein Fokus liegen – ha! Fokus, Football Focus, da

Die Frauen warfen Damian mitfühlende Blicke zu und waren gleichzeitig gebührend beeindruckt von Patricks Sturzbach aus geistreichen Wortspielen.

»Okay … danke, Patrick«, sagte Damian.

»Du bist ein hervorragender Erforscher der Auswirkungen von Solarwärme auf große Glasflächen in mehrstöckigen Wohngebäuden«, sagte Stephanie.

»Ganz bestimmt ist er das«, sagte Verena. »Steph, kann ich dir in der Küche helfen?«

»Nein danke, Mum. Alles unter Kontrolle. Bleib du nur sitzen und entspann dich. Möchtest du noch etwas Wein?«

Vermutlich lag es unter anderem an den langfristigen Auswirkungen des monatlichen Schwiegereltern-Sonntagsbratens, dass sich Damian an jenem Morgen beim Aufwachen schwach, bedürftig und deprimiert fühlte. Er hatte nach diesen Treffen immer das Gefühl, dass er im falschen Leben gefangen war, dass Stephanie falsch war, dieses Haus falsch war, alles falsch war. In Gegenwart ihrer Familie schien Stephanie immer in eine frühere, provinziellere, behütetere Version von sich selbst zu verfallen, eine Version, die mit Reitstunden aufgewachsen war, mit Wanderungen durchs Grüne und der unerschütterlichen Ehe ihrer Eltern, einem Spielzimmer mit Blick auf die Surrey Hills, das Ähnlichkeit mit dem besaß, das sie in ihrem Haus eingerichtet hatte. Tatsächlich fiel es ihm schwer, Daddys angepasste Prinzessin mit der aufrechten, forschen und irgendwie cooleren Frau in Einklang zu bringen, in die er sich verliebt und die er geheiratet hatte. Oder hatte er sich nie wirklich in sie verliebt? Hatte sie ihm vielleicht einfach nur das Gefühl gegeben, klug und tatkräftig zu sein, weil sie ihre Lebenspläne fokussiert und forsch verfolgte – im Gegensatz zu ihm –, und hatte er sich einfach von ihr mitziehen lassen?

Und so wurde es gemacht. Eine einladende Doppelhaushälfte mit Kiesauffahrt in einer sicheren, ruhigen Straße. Schaukeln im Garten. Ein in Streifen gemähter Rasen. Eine Gartenlaube aus Bambus – ein Geschenk von Patrick –, aus der an Sommerabenden die Kinder mit seidigen Wangen und weichem Haar herausliefen. Sie liebten ihre Mutter so heiß und innig wie die aufgehende Sonne, sie füllten sie aus. Stephanie brachte ihnen bei, Baumarten zu bestimmen, das Gute aneinander zu sehen und Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen. Sie besuchten eine anspruchsvolle, vom Staat stark geförderte Schule. Jerry ging an drei Vormittagen in der Woche in eine freundliche, helle Kindertagesstätte, wenn Stephanie bei einer lokalen Wohltätigkeitsorganisation arbeitete. In der Nähe gab es einen Landschaftspark und zwei Freizeitanlagen, und sie hatten die Qual der Wahl zwischen verschiedenen großflächigen Baumärkten, Kaufhäusern mit günstigen internationalen Kleidermarken und Restaurantketten, die mit dem Auto schnell zu erreichen waren, und sie kehrten immer zu diesem großen, einladenden und robusten Haus zurück, mit der hellblauen Eingangstür und dem hellblauen Kattunsofa im Wohnzimmer, von dem man durch die Fenster auf das Licht und die Blätter der Traubeneichen gegenüber blickte. Stephanie liebte dieses Haus. Sie liebte die Ordnung, die

Das war ein himmelweiter Unterschied zu Damians Start ins Leben. Er kam nicht aus Surrey, sondern aus London, Südlondon, er war ein Kind der Sozialbauten von Stockwell. Der

Laurence Hope war politischer Aktivist und Autor, der als

Eine weibliche Note. Etwas in der Richtung. Ein fröhliches, liebevolles und buntes Etwas. Die Gegenwart einer Frau. Der Mangel daran ließ ihn sexistisch werden. Er wünschte sich, dass eine Frau in ihr Leben trat und Blumen auf die Fensterbank stellte und dem Balkon einen Hauch von Chelsea verlieh. Die Vorhänge wusch, die Betten frisch bezog. Während er die Treppen zum vierten Stock hochstieg, stellte er sich vor, wie es wäre, statt des unpersönlichen Miefs im Sozialbautreppenaufgang den Duft von Gewürzen, Marinaden, Tomaten und Hühnchen wahrzunehmen, der unter der schwarzen Tür herausdrang, das Schmoren seines Abendessens, die warmen Speisen ihrer Liebe. Die Frau, nach der sich Damian sehnte, war nicht seine Mutter. Seine Mutter hatte sie verlassen und sich nach Kanada abgesetzt, als Damian fünf Jahre war, sie war nie zurückgekehrt; er hatte sie so gut wie vergessen. Die Frau, nach der er sich sehnte, die später ebenfalls gegangen war, hieß Joyce und war die Exfreundin seines Vaters; sie war für eine Weile zu ihnen gezogen und hatte es ihnen nett gemacht.

Doch die Beziehung war nicht von Dauer. Laurence wurde es irgendwann leid, sein Zimmer mit einer anderen Person zu teilen, und klagte, er könne so nicht nachdenken. Joyce

All das hatte dazu geführt, dass Damian sich verpflichtet fühlte, etwas Bedeutsames mit seinem Leben anzufangen, wie ein Nachkomme von Bob Marley oder Fela Kuti die Arbeit seines Vaters fortzuführen, seine Position in der Gesellschaft zu akzeptieren und als Vehikel für weitreichende Veränderungen zu nutzen. Doch als er zu entscheiden versuchte, welches Studium er zugunsten dieser Berufung an der

Sie stand in ihren roten Schuhen neben ihm im Gang 3 des Islington Business Design Centre – rotbraunes Haar, reine, helle Haut, ein bisschen größer als er, aufrichtige braune Augen und ein sanfter Blick – und fragte ihn, ob er wisse, wo sie dem übertrieben komplizierten Konferenzplan zufolge ihren Seminarraum finden würde, und sie begaben sich zusammen auf freundschaftliche Mission, um ihn ausfindig zu machen. Von Anfang an war klar, dass er ihr gefiel. Sie war sehr direkt, was das anging, fokussiert. Er sah genauso aus wie ein Mann, der ihr kürzlich in einem Traum erschienen war, so offenbarte sie ihm später: stämmig mit Tendenz zur Dickleibigkeit, große Hände, dunkle dichte Locken und hellbraune Haut; er war ganz plötzlich in ihrem Traum aufgetaucht, als wäre er auf der Suche nach etwas. »Vielleicht«, sagte er zu ihr, »habe ich nach dir gesucht.« »Ja, vielleicht«, sagte sie, als sie in seinem Zimmer lagen, während sich Bobby McFerrin auf dem Plattenteller drehte, Schallplattenhüllen den Boden bedeckten; ihre roten Schuhe ruhten Spitze an Spitze unter dem Schulpult. Mit diesen roten Schuhen an ihren Füßen durchkreuzten sie

 

Laurence war in einem Hospiz an der Nordseite des Clapham-Common-Parks an Herzinsuffizienz gestorben. Er hatte sich an einen Ort ohne Wiederkehr zurückgezogen. Sein Atem ergab sich der Endlichkeit. Damian war während der letzten Tage an seiner Seite, als er in die Laken zurücksank, als seine Haut aschfahl, seine Augen gelb wurden, als er das Gesicht nach links wandte und in dieser Position plötzlich nicht mehr war, inmitten einer Septembernacht. Es war seltsam, als es geschah, denn Damian fühlte so gut wie gar nichts. Er sah ihm beim Sterben zu. Er war auf dem Stuhl neben dem Bett eingenickt und plötzlich aufgeschreckt, genau zur rechten Zeit, als hätte Laurence ihn gerufen, mit seinem gequetschten, entsetzlichen Husten, als wollte er nicht, dass er es verpasste. Sofort war ihm klar, dass sich etwas verändert hatte, dass sein Vater von ihm ging, dass der Moment gekommen war. Also sah er zu, wie dieser Mensch zu Staub wurde, in die jüngste Geschichte eintrat, wie er dahinschwand, dieser alte Mann, von dem er abstammte – doch abgesehen von einem vagen Ziehen, einem zaghaften Recken der Arme seines Herzens, spürte er nichts. Danach stand er eine Weile dort, blickte links an Laurence’ Gesicht vorbei auf das weiße Kissen, dann wieder zu seinem Gesicht. Dann verließ er das Hospiz und lief durch die umliegenden Straßen, ahnte, dass

Doch er spürte etwas anderes, etwas Konkretes und zugleich Vages, das am Morgen nach der Beerdigung in Form einer siebzehnwörtigen Frage zu ihm kam. Die Frage wurde von keiner Stimme begleitet. Sie war sehr schwach, eine Anhäufung von Sehnsüchten, und nachdem sie erst einmal gestellt worden war, wollte sie nicht mehr verschwinden. Die Frage lautete wie folgt: Wie lange willst du dein Leben noch so leben, als würdest du auf einem dünnen Seil balancieren? Er verstand nicht recht, was damit gemeint war. Sie war stichelnd, zurückhaltend und dringlich zugleich, wie eine Fangfrage. Sie verfolgte ihn auf Schritt und Tritt. Auch jetzt schwirrte sie ihm durch den Kopf, als er, immer noch im Morgenmantel, vom Putzen der Toilette im Erdgeschoss aus dem Badezimmer kam und durch die Küche ging, wo ein extragroßes Bügelbrett aus dem Baumarkt und ein Wäschestapel ihm fast den Durchgang versperrten, weiter ins Esszimmer, des Hauses überdrüssig, seiner Düsterkeit bei Tag, seiner erniedrigenden Ordnung, des kitschigen, um ehrlich zu sein: geschmacklosen Gartenpavillons, er hasste diesen Pavillon. Wie lange?, fragte

Ganz anders, als Stephanie annahm, freute sich Damian darauf, am Nachmittag zu Michael zu fahren. Die beiden verband eine lange Freundschaft. Sie waren zusammen auf der Universität gewesen. In der Bar der Studentenvereinigung hatten sie tiefschürfende Gespräche über Frantz Fanon, Rassismus und schwarze Musik geführt, wodurch Damian allmählich spürte, dass er selbst eine Verbindung zu diesen Dingen hatte, nicht bloß über seinen Vater. Nachdem Michael und Melissa ein Paar geworden waren, hatten sie sich bemüht, in Kontakt zu bleiben, waren gelegentlich gemeinsam ausgegangen oder hatten sich zu viert zum Abendessen getroffen. Damian hatte diese Abendessen genossen, das gemeinsame Essen, die Musik. Sie unterhielten sich immer über Musik, Filme und Bücher, und er kehrte stets glücklicher nach Hause zurück, fühlte sich seiner brachliegenden künstlerischen Seite wieder näher. Manchmal schlenderte er, nachdem Stephanie ins Bett gegangen und das Haus ruhig war, sogar noch zu dem Schrank im Esszimmer, in dem er seine alten Aktenordner und Papiere aufbewahrte, holte seinen unvollendeten Roman hervor und warf einen Blick hinein – es schien wieder möglich. Er las einige Sätze und überlegte, wie man sie verbessern könnte, wie die ganze Sache durchgeknetet und umgestaltet werden könnte, um ein überzeugendes Ganzes daraus zu machen. Dann legte er ihn zurück in den Schrank mit dem festen Vorsatz, am kommenden Abend daran zu arbeiten – was er aber nie tat. Auch dafür schob er Stephanie die Schuld in die Schuhe.

Im Esszimmer begegnete er einem Mädchen, das dort am Tisch saß. Sie hielt ein Stück Waffel in der Hand und tauchte es in einen Topf mit einer sämigen rostbraunen Flüssigkeit. Sie hatte kastanienbraunes Haar und war hoch konzentriert,

»Hallo, Liebes«, sagte er. »Was machst du da?«

»Ich bastele ein Sahnebonbon-Schiff.«

»Toll!«

»Und danach«, verkündete sie begeistert, »werden wir es essen!«

»Wer wird es essen?«

»Wir alle! Du, ich, Summer, Jerry und Mama! Die ganze Familie!«