I want to make your Zoom Zoom go Boom Boom

Michael fuhr lieber mit dem Bus als mit der U-Bahn zur Arbeit, weil er dann aus dem Fenster sehen konnte; außerdem hatte er irgendwo gelesen, dass es kaum hygienischer war, auf einem Platz in der Central Line zu sitzen, als eine Toilettenschüssel auszulecken. Und selbst wenn er die U-Bahn gern genommen hätte – jetzt, wo er in dem Teil Londons wohnte, der bei der U-Bahn-Planung vergessen worden war, hätte er zuerst mit dem Bus nach Brixton oder Elephant & Castle fahren und dann dort umsteigen müssen, hinab in die überfüllten Tunnel und Treppenaufgänge; und er war nicht gerne über längere Strecken unter der Erde. Um morgens in Gang zu kommen, nahm er den Umweg durch die Seitenstraßen zum Kreisverkehr an Cobb’s Corner, die Tasche über die Schulter geworfen, darin eine kleine Flasche Handdesinfektionsgel, und wartete dort auf den Bus 176, der hinter Forest Hill entlangfuhr, über Upper Sydenham, durch Dulwich und Camberwell bis zum riesigen scharlachroten Shopping-Center von Elephant & Castle, weiter nach Waterloo, von dort über den Fluss auf die andere Seite. Da er kurz nach der Starthaltestelle einstieg, bekam er meist seinen Lieblingsplatz auf dem Oberdeck, zweite Reihe von vorn links, und guckte die ganze Fahrt lang aus dem Fenster: auf die knorrigen Stadtbäume draußen, die graue Schar Tauben auf dem

Im Bus fiel es ihm leichter, sich nicht wie in einer Tretmühle zu fühlen. Er trug einen Anzug, ja, er besaß insgesamt drei – einen schwarzen, einen blauen und einen grauen –, zwei davon hatte er sich erst kürzlich zugelegt, als er die Stelle bei Freedland Morton angetreten hatte. Aber er trug den Anzug auf lässige Art, als bestünde zwischen seiner Haut und dem Stoff eine klare Trennung. Sein wahres Selbst blieb unangetastet, unbeeinflusst, trug eine Khakihose zum Jackett und darüber einen langen, relativ modernen Wintermantel, sodass er weniger spießig und quadratisch aussah, weniger wie ein Pappkarton auf Beinen. Im Bus war das Bild der Fahrgäste bunter, und anstatt einander gegenüberzusitzen und unglücklich in die trübe Finsternis der unterirdischen Fenster zu starren, saßen sie in Fahrtrichtung. Sie konnten diskret reisen, ohne von den anderen gemustert zu werden, und nicht alle waren auf dem Weg zur Arbeit. Dort drüben saß eine Frau mit einem gelben Hut und einem kleinen Mädchen an ihrer Seite, das ein oder zwei Jahre älter sein mochte als Ria, möglicherweise fuhren sie zum Passamt in Victoria oder zu Madame Tussauds oder zum Museum of Childhood in Bethnal Green (Michael malte sich gern diese anderen Lebenswelten aus, ganz anders geartete Montage oder Dienstage). Dort vorn, auf dem Sitz in der ersten Reihe auf der anderen Seite, hing ein betrunkener Mann mittleren Alters mit rot-grauem Gesicht vornübergekippt auf der Stange und rutschte beim Hin-und-her-Schlingern des Oberdecks von einer Seite zur anderen (Arbeitsamt an der Walworth Road oder ein Pub, vor dessen Eingang er warten würde, bis er öffnete, oder vielleicht machte er eine unbeabsichtigte Rundfahrt mit den roten Bussen, würde an der Endhaltestelle aufschrecken und sich fragen, wo zum Teufel er gelandet war, in einen anderen

Unterwegs hörte er Musik auf seinem iPod. Seine Most Played List umfasste eine Handvoll Künstler, darunter Shuggie Otis, Nas, Dolly Parton und Jill Scott, doch das meistgespielte

Michael, der mittlerweile dreizehn Jahre mit Melissa zusammen war, wusste nicht so recht, wo er sich in diesem Erzählstrang positionieren sollte. Er hätte gern gesagt, er befinde sich in dem Stadium »So High« oder zumindest in dem weniger aufregenden von »Refuge«, aber das wäre gelogen, auch

Michaels romantische Odyssee war ähnlich verlaufen wie Johns, wenn auch weniger unverfroren als die des gewissen Mr Legend, der auf dem CD-Cover einen besser geschnittenen Anzug trug als er und auf einen Traualtar zuschritt. So wie John oder wie der Mann, den John in seiner Musik erschaffen hatte, hatte auch Michael sich mit verschiedenen Frauen vergnügt, bevor er sesshaft geworden war. Er war schüchtern in der Liebe, neugierig, und das hatte den Mädchen gefallen, der Kommilitonin, die wie er an der SOAS Politik studierte, dem Model aus Honduras, dem Mädchen, das er im Tesco-Supermarkt kennengelernt hatte. Bei allen hatte er einen Teil von sich zurückgehalten, hatte beim Sex nur einen bestimmten Prozentsatz gegeben und nur dann alles, wenn er es für angezeigt hielt und sicher war, dass er sich keine Geschlechtskrankheit einfangen würde. Er bewahrte sich für irgendetwas auf, für diejenige welche, ohne eine konkrete Vorstellung von ihr zu haben, nur, dass sie sanfter, reiner, edler sein würde. Seine Leidenschaft war außerordentlich.

Gillian ging schwerfällig, deutlich gebeugt, als stiege sie permanent in einen Keller hinab. Nur wenn sie Querflöte spielte, wirkte sie unbeschwert. Sie hatte nah am Wasser gebaut. Wenn sie mit Michael in der Öffentlichkeit unterwegs war, wollte sie mit ihm Arm in Arm oder Hand in Hand gehen, damit man sie als eine Frau erkannte, auf die jemand Anspruch erhob, eine Frau, die beschützt wurde. Sie kochte gern für ihn. Sie war glücklich mit den Bereichen, die ihr als Frau traditionell zugedacht wurden, und lehnte sich nicht gegen angebliche Beschränkungen auf, die der patriarchale Schutzraum als dunklen Schatten mit sich brachte. Während sie mit Michael zusammen war, tauchte sie mit Wohlbehagen in die Wärme seiner glücklichen Familie ein, der einzigen glücklichen Familie, die sie kannte, diese seltsame Ansammlung lachender Menschen, der Duft nach mit Liebe gekochtem Essen, der aus der Küche seiner Mutter herausdrang, das ruhige Haus in der Vorstadt. Sie übernachtete dreimal pro Woche bei ihm, viermal, fünfmal, liebte ihn am frühen Morgen, wenn seine Eltern im Zimmer gegenüber schliefen, umschloss ihn mit dem Mund, ohne etwas dafür zu verlangen, außer dass er dort unter ihr lag und atmete und seine Hände beschützend um ihren Hinterkopf legte. Michael dachte jetzt an sie, während des Refrains von »Used To Love U«, obwohl sie nicht die Art Mädchen war, über die John sang, ein Mädchen, dem nichts gut genug war, das eine sehr hohe Meinung von sich hatte. Gillian hatte ein sehr geringes Selbstwertgefühl, darin lag der Kern ihres Problems. Sie schätzte sich glücklich, dass jemand wie Michael, ein guter und anständiger Mann, sie als Freundin akzeptiert hatte, und als sie dann schließlich zusammen waren, hatte sie sich wie ein verängstigtes kleines Tier in seinem Leben eingenistet. Sein Vater hatte sie angehimmelt. Sie war

Das alles hatte Michael die Sache erschwert. Nachdem sie zwei Jahre zusammen waren, kam er zu dem Entschluss, dass er Gillian nicht liebte und es auch nie tun würde. Sie ergaben als Paar nicht das, was es brauchte, damit sich zwei Menschen von einer Klippe stürzen, in dem festen Vertrauen, als Einheit zu schweben. Er gab sich große Mühe. Er versuchte, seinen geistigen Fokus ständig auf exakt den Augenblick auszurichten, in dem sie ihm Wogen der Lust bereitete und ihre Macht ihn mit Ehrfurcht erfüllte, oder auf einen Augenblick während ihrer ersten gemeinsamen Monate, als sie für ihn noch ganz neu war, ein unausgepacktes Geschenk, das ungeahnte Möglichkeiten barg. Doch es ließ sich nicht festhalten. Letztlich lief es immer wieder darauf hinaus, dass er sich von ihr fortsehnte, das Gefühl hatte, sie trampele auf seinem Leben herum und halte ihn davon ab, klar zu sehen und zu denken, zu sein. Er entwickelte eine Abneigung gegen bestimmte Gesichtsausdrücke, ihre regungslose Gemütsruhe, wenn sie zusammen im Zug saßen, ihre konzentrierte, selbstvergessene Art, mit der sie aß, geradezu derb, und ihre Angewohnheit, mit den Enden ihrer geflochtenen Zöpfe herumzuspielen. Er fing an, sich nach anderen Frauen umzusehen, wenn er in einen Club oder in eine Bar ging. Ihm fehlte der Mut, mit ihr Schluss zu machen, also vergnügte er sich wie John in »She Don’t Have To Know« anderweitig, wenn auch nur bis zu einem gewissen Grad, und wurde von Gewissensbissen geplagt. Er erfand zahllose Ausreden, um sie nicht sehen zu müssen. Schließlich wurde sie misstrauisch, und erst da sagte

Wenn du so eine findest, sagte Snoop, musst du dich ändern. Melissa, die Meerjungfrau. Melissa mit dem kühlen Blick und der glitzernden Haut. Melissa, wie sie federnd eine Straße in London entlangläuft, mit einer Khakihose, Turnschuhen und Armreifen, gefolgt von Michael und seinem Freund Perry (»Guck dir mal an, wie fit sie ist, sie ist echt fit«). Sie war die Geschmeidigere, Reinere, Edlere. Sie war der Ober-Ober-Oberburner. Sie ging gern schwimmen. Daher rührte das Glitzern. Wenn sie nicht schwimmen gehen konnte, fühlte sie sich ausgetrocknet wie ein gestrandeter Fisch, ihre Stimmung litt darunter. Am Tag nachdem sie sich in Jamaika kennengelernt hatten, beim Karneval in Montego Bay (sie berichteten beide darüber, Melissa für eine Zeitschrift, Michael fürs Radio), hatten sie sich am Strand getroffen, Michael, Perry und ein paar andere Reporter, plauderten, sonnten sich, spielten Ball, und irgendwann löste sie sich aus der Gruppe und ging ins Wasser. Sie trug einen altmodischen schwarzen Badeanzug mit einem diagonalen weißen Streifen, der über die ganze Länge bis zum Ansatz der Oberschenkel reichte. Er blickte ihr nach. Blickte ihr ewig lange hinterher, während ihr Körper in die Wellen eintauchte, das Wasser sie empfing, wie sie hineinschritt, allein, furchtlos. Sie schwamm hinaus. Ihr brauner Körper wand sich in der Bläue, glitt nixenartig dahin,

Ihre Hände waren klein, ebenso wie ihre Füße, sie trug Silberringe mit Jade und Bernstein. Sie war puppenhaft, fast geschlechtslos. Ihr Profil wirkte verträumt. Er konnte den Blick kaum von ihr abwenden. Sie mochte Abenteuer. Sie wollte nach Argentinien reisen. Im Norden des Landes sollte es Berge geben, die rot waren, besonders bei Sonnenuntergang, hatte sie gehört. Sie wollte nach Sevilla reisen und an die Südostküste von Korfu. Sie wollte nach Mexiko fliegen und das Haus von Frida Kahlo besichtigen, sie wollte die Anden in Peru erklimmen, an einem anderen Ort leben als England, woanders existieren als dort, wo sie geboren worden war; sie wollte die Welt erobern. Sie war das genaue Gegenteil von Gillian: selbstbewusst, in sich ruhend, eigensinnig. Sie sagte, sie werde sich niemals festhalten lassen und niemals in einer Situation verharren, in der sie sich gefangen fühle. Michael hatte unzählige Fragen an sie, mehr als an jede andere Frau zuvor, und das gefiel ihr an ihm, seine Art, ihr zuzuhören, so aufmerksam. Er wollte jeden Winkel, jede Windung ihres Geistes erforschen. Unter jeder Schicht, die er freilegte, befand sich eine weitere. Je mehr er an ihr entdeckte, desto mehr gab es zu erforschen. Ihre Vorstellung von der Zukunft war mystisch, sie schien zu glauben, dass sie woandershin gelangen würde als alle anderen, dass das Leben mit ihr nicht das Gleiche anstellen würde, dass sie sich in jedem Augenblick konservieren, sich heimlich haltbar machen würde, wie Michael Jackson in seinem Sauerstoffsarg, und dass sie einen gewissen Abstand

Auf ihre erste Begegnung in Montego Bay folgten drei Monate Telefongespräche, während deren sie über ihre Vergangenheit und Zukunft sprachen, über Edgar Allan Poe und seine zwei Häuser, über Mary J. Bliges dramatisches Leben, über Cassandra Wilsons große musikalische Bandbreite, über die British National Front, die Polizei, Margaret Thatcher und ihr politisches Handeln, über Vulkane, die Heimatländer ihrer Mütter und die Zeit, die sie dort verbracht hatten, über die immer fließenderen Grenzen zwischen R&B und Pop. Er brachte sie zum Lachen. Das war es, sie hatte viel gelacht. Sie lachte so sehr, dass er schmatzende Geräusche aus ihrer Kehle hörte, sie blamiere sich, erzählte sie ihm, weil das Büro, in dem sie damals arbeitete, so klein war und alle sie hören konnten. Während dieser Unterhaltungen gab es nichts außer ihrem Gespräch, sie waren vollkommen in die Stimme des anderen versunken, von der Chemie des anderen durchdrungen, doch es dauerte drei Monate, bis sie mit ihm das Bett teilte. Sie wohnte in Kensal Rise in einem Zimmer mit einem Waschbecken in der Ecke und ließ ihn hin und wieder nach einer Party oder einem Rendezvous dort übernachten, aber er schlief immer auf dem Boden. Zum ersten Kuss kam es erst, nachdem er sie ausdrücklich gefragt hatte, er wusste nicht, wie er die Sache sonst hätte angehen sollen, seine

Danach, in langen, haschischerfüllten Nächten, ließ sie ihn hinein. Sie war schamhaft und zugleich auf unschuldige Art freizügig. Sie versteckte sich, selbst nach allem, zum Umziehen hinter der Schranktür, andererseits trug sie ihre wallenden afrikanischen Kleider selbstvergessen ohne BH, offenbarte ihm die Geheimnisse ihrer kleinen Brüste, den sanften Schwung ihres oberen Rückens. Als sie die Wohnung im siebten Stock bezog, waren sie mehr oder weniger ein festes Paar, und kurze Zeit später zog er bei ihr ein,

Oh I will stay with you

Through the ups and the downs

Oh I will stay with you

When no one else is around

And when the dark clouds arrive

I will stay by your side

I know we’ll be alright

I will stay with you

 

Wie kommt man also von dort an diesen Punkt? Wie kommt man von »Ich vermisse meinen Mund im Schamhaar deines Kinns« zu »Klopapier bitte, kein Kuss«? Was war mit Angelina passiert, mit Desdemona? Wie konnte all diese Liebe einfach

Als er beim Verlassen des Busses die schmutzige schmale Treppe hinunterstieg, ohne das Geländer zu berühren, obwohl er Handschuhe trug, verspürte er den Drang, sie vom Trafalgar Square aus anzurufen und ihr noch einmal zu sagen, dass er sie liebte, damit sie sich erinnerte. Aber er tat es nicht. Er ging die Whitcomb Street hinunter. Eine junge Frau kam aus einem Gebäude heraus, ging an ihm vorbei und warf ihm einen Blick zu (häufig drehten sich die Frauen zweimal nach ihm um). Er bog links zu seinem Büro ein, und als er direkt vor dem Gebäude stand, schaltete er die Musik aus. Es war unheimlich wichtig, die beiden Pole, Musik und Arbeit, voneinander zu trennen, damit die Musik ihre Macht behielt, unberührt blieb von den grellen getäfelten Zimmerdecken, vom leblosen Gesang des Kopierers. John Legend war verstummt, und Michael legte seine offizielle Fassade an. Er durchschritt die glänzenden Drehtüren und ging durch die

Heute grüßte er sie. Er winkte sogar, ganz leicht, unbeabsichtigt. Sie winkte zaghaft zurück. Verlegen lächelten sie sich zu.