Michael fuhr lieber mit dem Bus als mit der U-Bahn zur Arbeit, weil er dann aus dem Fenster sehen konnte; außerdem hatte er irgendwo gelesen, dass es kaum hygienischer war, auf einem Platz in der Central Line zu sitzen, als eine Toilettenschüssel auszulecken. Und selbst wenn er die U-Bahn gern genommen hätte – jetzt, wo er in dem Teil Londons wohnte, der bei der U-Bahn-Planung vergessen worden war, hätte er zuerst mit dem Bus nach Brixton oder Elephant & Castle fahren und dann dort umsteigen müssen, hinab in die überfüllten Tunnel und Treppenaufgänge; und er war nicht gerne über längere Strecken unter der Erde. Um morgens in Gang zu kommen, nahm er den Umweg durch die Seitenstraßen zum Kreisverkehr an Cobb’s Corner, die Tasche über die Schulter geworfen, darin eine kleine Flasche Handdesinfektionsgel, und wartete dort auf den Bus 176, der hinter Forest Hill entlangfuhr, über Upper Sydenham, durch Dulwich und Camberwell bis zum riesigen scharlachroten Shopping-Center von Elephant & Castle, weiter nach Waterloo, von dort über den Fluss auf die andere Seite. Da er kurz nach der Starthaltestelle einstieg, bekam er meist seinen Lieblingsplatz auf dem Oberdeck, zweite Reihe von vorn links, und guckte die ganze Fahrt lang aus dem Fenster: auf die knorrigen Stadtbäume draußen, die graue Schar Tauben auf dem Gras, die frühmorgendlichen Raucher an den Bushaltestellen, die Winterpalmen vor der Dulwich Library, die wegen der Wirtschaftskrise auf Eis gelegten Bauprojekte, die Babys in ihren Kinderwagen, die mit besorgtem Blick auf etwas deuteten, den nigerianischen Streetfood-Stand im Schatten des scharlachroten Shopping-Centers, die Nagelstudios auf der Walworth Road, die trogartigen Balkone der Mietskasernen, den verwaisten Sozialwohnungsbau Aylesbury Estate, die lässig patrouillierenden Ortspolizisten, die Kirchtürme inmitten der mit Satellitenschüsseln gespickten Dächer, die zwielichtigen Hotels an der Hauptstraße, die Männer mit Handy am Ohr, die zurechtgemachten Frauen, die Jungs mit ihren für alle Welt sichtbaren Boxershorts samt ihrer neuen, unknuffigen Sorte städtischer Schoßhunde, die Bahnschienen, die Hecken, das zwischendrin aufblitzende Grün und die kleinen Bäche. Da, wo sich der Bus dem Fluss näherte, wurden die Straßen zu breiten Boulevards und vermittelten für einen flüchtigen Augenblick fast das Gefühl, in Paris zu sein, die Gebäude wirkten eleganter und das Mauerwerk prächtiger, sie schienen die pessimistische Stimmung und die rauen Kanten Südlondons abzuschütteln wie eine Frau, die sich das zerzauste Haar zurechtstreicht, während sie das glitzernde Wasser überquert, das im Wind wirbelt und walzt, während sie voranschreitet und sich vor ihr der Blick auf die Nordseite öffnet, auf den Westminster Palace und das Somerset House mit seinen Säulen und Fahnen und den Kindergestalten aus Stuck auf dem Dach. Im Zentrum der Stadt gab es eine andere Art von Schmutz, den Schmutz des Geldes, des extremen Mangels oder Überflusses daran, und entlang der Prachtstraße The Strand wirkte sie ein wenig wie New York, und weiter in Richtung der Endhaltestelle an der Tottenham Court Road, erstreckte sich, flankiert von Galerien, die große, weite Fläche des Trafalgar Square, auf dem Admiral Nelson in die Höhe ragte und wo unzählige Vögel das kühle blaue Becken des Springbrunnens anflogen, als wäre es heilig.
Im Bus fiel es ihm leichter, sich nicht wie in einer Tretmühle zu fühlen. Er trug einen Anzug, ja, er besaß insgesamt drei – einen schwarzen, einen blauen und einen grauen –, zwei davon hatte er sich erst kürzlich zugelegt, als er die Stelle bei Freedland Morton angetreten hatte. Aber er trug den Anzug auf lässige Art, als bestünde zwischen seiner Haut und dem Stoff eine klare Trennung. Sein wahres Selbst blieb unangetastet, unbeeinflusst, trug eine Khakihose zum Jackett und darüber einen langen, relativ modernen Wintermantel, sodass er weniger spießig und quadratisch aussah, weniger wie ein Pappkarton auf Beinen. Im Bus war das Bild der Fahrgäste bunter, und anstatt einander gegenüberzusitzen und unglücklich in die trübe Finsternis der unterirdischen Fenster zu starren, saßen sie in Fahrtrichtung. Sie konnten diskret reisen, ohne von den anderen gemustert zu werden, und nicht alle waren auf dem Weg zur Arbeit. Dort drüben saß eine Frau mit einem gelben Hut und einem kleinen Mädchen an ihrer Seite, das ein oder zwei Jahre älter sein mochte als Ria, möglicherweise fuhren sie zum Passamt in Victoria oder zu Madame Tussauds oder zum Museum of Childhood in Bethnal Green (Michael malte sich gern diese anderen Lebenswelten aus, ganz anders geartete Montage oder Dienstage). Dort vorn, auf dem Sitz in der ersten Reihe auf der anderen Seite, hing ein betrunkener Mann mittleren Alters mit rot-grauem Gesicht vornübergekippt auf der Stange und rutschte beim Hin-und-her-Schlingern des Oberdecks von einer Seite zur anderen (Arbeitsamt an der Walworth Road oder ein Pub, vor dessen Eingang er warten würde, bis er öffnete, oder vielleicht machte er eine unbeabsichtigte Rundfahrt mit den roten Bussen, würde an der Endhaltestelle aufschrecken und sich fragen, wo zum Teufel er gelandet war, in einen anderen Bus steigen, und der Spaß begänne von vorn). Und da drüben saßen zwei halbstarke Jungs in Schuluniform (»Wenn du ihm eins draufgibst, kriegst du zehn Pfund. Zehn Pfund!«), die nicht auf dem Weg zur Schule waren. Michael wusste, wie Jugendliche aussahen, die nicht auf dem Weg zur Schule waren. Er selbst hatte in diesem Alter häufig die Schule geschwänzt und war stattdessen an einen von drei Orten gegangen: in den Park, ins Einkaufszentrum oder zu seinem Freund nach Hause, mit albernem, aufgesetzt selbstsicherem Gang und großspurigem Gehabe, um seine Angst zu kompensieren. Sie liefen die Denmark Hill entlang, diese Fremden, vorbei an dem Krankenhaus, in dem Blake geboren worden war, und an der Pfingstkirche an der Einkaufsmeile, und Michael tat so, als führe auch er an einen anderen Ort, den er spontan auswählen würde, einen Ort, an dem weniger von ihm erwartet wurde. In Wahrheit wollte er nicht als unternehmensinterner Koordinator für Arbeitsabläufe bei Freedland Morton arbeiten. In seinem tiefsten Inneren identifizierte er sich mit dem alten rotgraugesichtigen Betrunkenen. Er hatte sich selbst immer als jemanden betrachtet, der entweder jung sterben oder als kläglicher Parkbankpenner enden würde. Er war sicher gewesen, nicht älter als dreißig zu werden, und jetzt, mit siebenunddreißig, war er leicht verstört, dass keines der vorhergesagten Szenarien eingetreten war. Sollte er jemals von den ernsten und erfreulichen Verpflichtungen seines Lebens befreit oder entbunden werden, aus welchem Grund auch immer, würde es, das spürte er, mit ihm steil bergab gehen, wie mit einem Heißluftballon, dessen Flamme erloschen ist, und er würde sich mit seinem wahren verlotterten Selbst wiedervereinen.
Unterwegs hörte er Musik auf seinem iPod. Seine Most Played List umfasste eine Handvoll Künstler, darunter Shuggie Otis, Nas, Dolly Parton und Jill Scott, doch das meistgespielte Album war John Legends Debüt Get Lifted, eine Reise der anderen Art. Es begann mit einem wasserfallartigen Klavier-Intro, in dem John die Hörer dazu aufforderte, ihn zu begleiten und etwas Neues zu erleben, ging dann in eine wogende Abfolge warmer, gospeldurchdrungener Melodien über und erzählte, so interpretierte es Michael, von der Odyssee eines Mannes, der sich von einem Frauenhelden, Nachtclubgänger und Telefonnummernsammler, der nichts anbrennen lässt, zu einem verantwortungsvollen, reifen und treuen Lebenspartner wandelt. Der Weg dorthin war lang und steinig, gespickt mit Konflikten und Versuchungen. Er liebte seine Freundin, aber er liebte auch seine Freiheit, und warum verstand seine Freundin bloß nicht, sang er in »She Don’t Have to Know«, dass es keineswegs bedeutete, dass er sie nicht liebte, nur weil er mit anderen schlief? Dass es, nur weil er heimlich nach Washington, D.C., fuhr, um mit einer anderen Frau öffentlich Händchen halten zu können, inkognito dank Sonnenbrille, nichts daran änderte, dass sie immer noch seine »Number One« war? Nein, sie verstand es nicht, und dazu kam noch, dass seine Freundin, seine »Number One«, nicht bloß irgendein Mädchen war. Sie war etwas Besonderes, sie war bombastisch, sie war der Oberburner! Snoop Dogg schalt ihn für sein Verhalten in »I Can Change«. Er rappte: »Wenn du so eine findest, musst du dich ändern, Mann, denn solche gibt’s nicht wie Sand am Meer, und wenn du so eine findest, musst du clever sein und dich ändern.« Ein solcher Moment erforderte eine vollständige und entschiedene Vernichtung des unberechenbaren, Telefonnummern sammelnden Typen, das Überqueren der Brücke der Beständigkeit zu seinem vollen Potenzial, zu seinem besten Selbst, zu einem Mann, der ihrer würdig war. Und er wollte sich eigentlich nicht ändern. Oh, es war schwer, er liebte diese Frauen, er liebte sie alle, all die warmen, köstlichen Frauen auf der Welt. Doch er tat es. Und während eines Lieds mit dem Titel »Ordinary People« quälte ihn die Ungewissheit; an seiner Liebe bestand kein Zweifel, aber die Beziehung war voller Enttäuschungen, jeden Tag gab es Streit, und sie wussten nicht, wie sie da wieder rausfinden sollten. Es gab zwei Möglichkeiten: »Stay with You« oder gehen. Er blieb. Und an irgendeinem Punkt hinter dieser Abzweigung erreichte er, erreichten sie beide ein erhabenes Plateau. Sie traten in die wilde und friedliche Luft des siebten Himmels ein, wo sie wunderbare körperliche Liebe und tiefes Verständnis fanden, und sie schritten weiter gemeinsam voran, »So High«, in eine Zukunft, in der sie dem Leben ihrer Eltern nacheifern würden, für den Fall, dass die immer noch verheiratet waren. Wenn es draußen kalt war, waren sie ein »Refuge« füreinander, ein Zufluchtsort, eine sanfte Reinwaschung der Seele, ein sonniger Pfad. Er lernte den Wert der Familie schätzen und sehnte die einfachen Tage herbei, an denen sie im Mittelpunkt stand. Das waren die wirklich wichtigen Dinge, Zeit mit den Menschen zu verbringen, die man liebte, sie weiterhin zu lieben. Er war gereift. Er war auf der anderen Seite angekommen. Er war verloren gewesen und hatte zu sich selbst gefunden. Alles wurde von Klaviermusik und Streichinstrumenten begleitet, die in der Ferne schwebten, von Fingerschnippen und schwingenden Becken, darüber Johns volle, herbstlich raue Stimme. Den optimistischen Abschluss bildete »Live It Up« mit einer beherzten, wellenförmigen Basslinie, euphorischen Violinen, ein finales Jubelfest der Liebe, des Lebens mit all seinen Anstrengungen, all seiner Komplexität und Fülle. Es war eine der besten Soulplatten aller Zeiten.
Michael, der mittlerweile dreizehn Jahre mit Melissa zusammen war, wusste nicht so recht, wo er sich in diesem Erzählstrang positionieren sollte. Er hätte gern gesagt, er befinde sich in dem Stadium »So High« oder zumindest in dem weniger aufregenden von »Refuge«, aber das wäre gelogen, auch wenn es gelegentlich flüchtige Augenblicke wie diese gab, insbesondere was den Zufluchtsort betraf, wenn beispielsweise die Kinder abends schliefen, Melissa in der Küche beschäftigt war oder am Esstisch im Internet surfte und eine ruhige, warme und sichere Stimmung das Haus erfüllte. Schon vor langer Zeit hatte er sich mit der einen Song lang dauernden Frage herumgequält und sich für »Stay With You« entschieden, aber zeitweise schien es, als fiele er in jene Phase zurück, und er fragte sich, ob er mit jemand anderem glücklicher wäre oder allein, als Junggeselle, der in einer Einzimmerwohnung in Catford in der Nähe der Kinder wohnt, mit ihnen am Wochenende ins Kinderparadies geht oder ins Broadway Theatre oder sie mit zu seiner Mutter nimmt. Vielleicht sollte er einer von den Männern sein, die aus der Distanz Väter waren. Vielleicht hatte er es in seinem tiefsten Inneren in Wahrheit nie geschafft, die vollständige und entschiedene Vernichtung des Telefonnummernsammlers zu vollziehen, und befand sich immer noch näher an »She Don’t Have To Know«. Denn um ehrlich zu sein, fühlte es sich in letzter Zeit so an, als wären Melissa und er nur noch Mitbewohner. Es war noch nicht so lange her, da war sie ihm bei seiner Rückkehr immer entgegengelaufen und um den Hals gefallen, ihr umwerfendes, allen Kummer vertreibendes Lächeln hatte sich auf ihrem Gesicht ausgebreitet, und sofort war alles aus ihnen herausgesprudelt, was an dem Nachmittag passiert war, wen sie getroffen und was sie gelesen hatten, was Ria Niedliches gesagt hatte, oder sie hatten gemeinsam Urlaubspläne geschmiedet. Ihr Gespräch war wie ein Fluss gewesen, stetig strömend, von der Bewegung berauscht. Es verstummte auch dann nicht, wenn sie räumlich voneinander getrennt waren, setzte sich fort, sodass ihr Wiedersehen nur einen Anstieg der Lautstärke bedeutete. Damit war es vorbei. Wenn er jetzt von der Arbeit nach Hause kam, in seinem Anzug, stand Melissa am Spülbecken und blickte kaum auf. Kein Lächeln, keine Umarmung. Kein Kuss mehr am Ende der SMS oder E-Mails, die sie ihm tagsüber schickte. Nur noch: »Fahr bitte bei Lidl vorbei, Hühnerschenkel, Babybrei, Taschentücher, Milch«, oder »Klopapier, bitte«, oder »Bist du bis 18.30 zurück, damit ich zum Zumba kann?«. Er ging nach oben, um sich einen Jogginganzug anzuziehen, und entdeckte auf dem Boden neben dem Wäschekorb drei Plastiktüten mit seinen Haarschneideklamotten; sie wartete stumm und zunehmend verärgert darauf, dass er sie endlich wusch. Und sobald die Kinder im Bett waren, zogen sie sich in ihr jeweiliges Reich zurück, er auf das Sofa, um fernzusehen, sie ins Schlafzimmer, um zu lesen. Sie bewohnten zwei verschiedene Häuser in einem kleinen Haus. Beziehungen können altern, sang John, als der 176er auf die Themse zusteuerte, sie neigen dazu zu erkalten.
Michaels romantische Odyssee war ähnlich verlaufen wie Johns, wenn auch weniger unverfroren als die des gewissen Mr Legend, der auf dem CD-Cover einen besser geschnittenen Anzug trug als er und auf einen Traualtar zuschritt. So wie John oder wie der Mann, den John in seiner Musik erschaffen hatte, hatte auch Michael sich mit verschiedenen Frauen vergnügt, bevor er sesshaft geworden war. Er war schüchtern in der Liebe, neugierig, und das hatte den Mädchen gefallen, der Kommilitonin, die wie er an der SOAS Politik studierte, dem Model aus Honduras, dem Mädchen, das er im Tesco-Supermarkt kennengelernt hatte. Bei allen hatte er einen Teil von sich zurückgehalten, hatte beim Sex nur einen bestimmten Prozentsatz gegeben und nur dann alles, wenn er es für angezeigt hielt und sicher war, dass er sich keine Geschlechtskrankheit einfangen würde. Er bewahrte sich für irgendetwas auf, für diejenige welche, ohne eine konkrete Vorstellung von ihr zu haben, nur, dass sie sanfter, reiner, edler sein würde. Seine Leidenschaft war außerordentlich. Er war ein Mann, der für die ganz große Liebe geschaffen war. Und auf der Suche nach dieser Liebe steckte er, so wie John in »Used to Love U«, irgendwann in einer Beziehung fest, in der er unzufrieden war, sich entliebt hatte und sich an irgendeinem Punkt sogar fragte, ob er überhaupt jemals in sie verliebt gewesen war. Sie hieß Gillian und liebte ihn mit einer zähflüssigen Verzweiflung, die ihm die Luft zum Atmen nahm. Sie studierte Medizin, hatte sich auf Pädiatrie spezialisiert und spielte Querflöte. Sie hatte weiche, volle Flötenlippen. Sie war talentiert, machte sich Gedanken über die Welt und darüber, wie man sie verbessern könnte, silbrige Vögel entschwebten ihrem Mund. Aber sie wollte ihn zu sehr, mehr als alles andere, das sie hätte haben können. An ihrem zweiundzwanzigsten Geburtstag, Michael war damals dreiundzwanzig, hatte sie ihn in einem indischen Restaurant auf der Brick Lane über ihren Tisch hinweg gefragt, ob er sie heiraten wolle. Sie war ein wenig angeheitert, aber sie hatte es ernst gemeint, und Michael sagte: »Vielleicht. Vielleicht eines Tages«, ohne es wirklich zu meinen, weil er sie nicht verletzen wollte, denn sie hatte in ihrem Leben schrecklichen Schmerz erlitten. Bei jeder Gelegenheit hatten Männer versucht, ihr Schaden zuzufügen. Ihr Pflegevater hatte sie im Schutz der Nacht begrapscht. Mit zwölf wurde sie von ihrem Leichtathletiktrainer belästigt. Dann hatte es da noch den Mann im Schrank gegeben (weshalb sie Schränke nicht mochte, erst recht keine geschlossenen, sie besaß die Angewohnheit, sie offen stehen zu lassen), der eigentlich gekommen war, um den Boiler zu reparieren, doch als er sie dort sah – ein kleines Mädchen in grünen Sommershorts –, betatschte er sie in dem Schrank, als gerade niemand hinsah, und reparierte danach den Boiler. Es sei sagenhaft, sagte sie zu Michael, wie viele Männer es auf der Welt einzig und allein darauf abgesehen hätten, sich eine Minute lang an einem Mädchen zu vergehen, um ein flüchtiges, furchtbares Verlangen zu befriedigen. Es war unfassbar, wie viele.
Gillian ging schwerfällig, deutlich gebeugt, als stiege sie permanent in einen Keller hinab. Nur wenn sie Querflöte spielte, wirkte sie unbeschwert. Sie hatte nah am Wasser gebaut. Wenn sie mit Michael in der Öffentlichkeit unterwegs war, wollte sie mit ihm Arm in Arm oder Hand in Hand gehen, damit man sie als eine Frau erkannte, auf die jemand Anspruch erhob, eine Frau, die beschützt wurde. Sie kochte gern für ihn. Sie war glücklich mit den Bereichen, die ihr als Frau traditionell zugedacht wurden, und lehnte sich nicht gegen angebliche Beschränkungen auf, die der patriarchale Schutzraum als dunklen Schatten mit sich brachte. Während sie mit Michael zusammen war, tauchte sie mit Wohlbehagen in die Wärme seiner glücklichen Familie ein, der einzigen glücklichen Familie, die sie kannte, diese seltsame Ansammlung lachender Menschen, der Duft nach mit Liebe gekochtem Essen, der aus der Küche seiner Mutter herausdrang, das ruhige Haus in der Vorstadt. Sie übernachtete dreimal pro Woche bei ihm, viermal, fünfmal, liebte ihn am frühen Morgen, wenn seine Eltern im Zimmer gegenüber schliefen, umschloss ihn mit dem Mund, ohne etwas dafür zu verlangen, außer dass er dort unter ihr lag und atmete und seine Hände beschützend um ihren Hinterkopf legte. Michael dachte jetzt an sie, während des Refrains von »Used To Love U«, obwohl sie nicht die Art Mädchen war, über die John sang, ein Mädchen, dem nichts gut genug war, das eine sehr hohe Meinung von sich hatte. Gillian hatte ein sehr geringes Selbstwertgefühl, darin lag der Kern ihres Problems. Sie schätzte sich glücklich, dass jemand wie Michael, ein guter und anständiger Mann, sie als Freundin akzeptiert hatte, und als sie dann schließlich zusammen waren, hatte sie sich wie ein verängstigtes kleines Tier in seinem Leben eingenistet. Sein Vater hatte sie angehimmelt. Sie war genau die Art Mädchen, die er sich für ihn gewünscht hatte, ein Mädchen, das seinen jüngeren Sohn ernsthaft und übermäßig liebte, ein Mädchen mit vernünftigen Berufsplänen. Sie wurde für ihn zu einer Tochter (einmal hatte er sie bei einem Einkaufsbummel durch Wood Green jemandem als seine Schwiegertochter vorgestellt).
Das alles hatte Michael die Sache erschwert. Nachdem sie zwei Jahre zusammen waren, kam er zu dem Entschluss, dass er Gillian nicht liebte und es auch nie tun würde. Sie ergaben als Paar nicht das, was es brauchte, damit sich zwei Menschen von einer Klippe stürzen, in dem festen Vertrauen, als Einheit zu schweben. Er gab sich große Mühe. Er versuchte, seinen geistigen Fokus ständig auf exakt den Augenblick auszurichten, in dem sie ihm Wogen der Lust bereitete und ihre Macht ihn mit Ehrfurcht erfüllte, oder auf einen Augenblick während ihrer ersten gemeinsamen Monate, als sie für ihn noch ganz neu war, ein unausgepacktes Geschenk, das ungeahnte Möglichkeiten barg. Doch es ließ sich nicht festhalten. Letztlich lief es immer wieder darauf hinaus, dass er sich von ihr fortsehnte, das Gefühl hatte, sie trampele auf seinem Leben herum und halte ihn davon ab, klar zu sehen und zu denken, zu sein. Er entwickelte eine Abneigung gegen bestimmte Gesichtsausdrücke, ihre regungslose Gemütsruhe, wenn sie zusammen im Zug saßen, ihre konzentrierte, selbstvergessene Art, mit der sie aß, geradezu derb, und ihre Angewohnheit, mit den Enden ihrer geflochtenen Zöpfe herumzuspielen. Er fing an, sich nach anderen Frauen umzusehen, wenn er in einen Club oder in eine Bar ging. Ihm fehlte der Mut, mit ihr Schluss zu machen, also vergnügte er sich wie John in »She Don’t Have To Know« anderweitig, wenn auch nur bis zu einem gewissen Grad, und wurde von Gewissensbissen geplagt. Er erfand zahllose Ausreden, um sie nicht sehen zu müssen. Schließlich wurde sie misstrauisch, und erst da sagte er ihr nach einem Streit, dass er sich von ihr trennen wollte. Sie reagierte genau so, wie er befürchtet hatte, mit Tränen und Flehen. Doch dann beruhigte sie sich. Sie setzte sich auf die Bettkante, blickte in ihren Keller hinab. Nach einer Weile packte sie rasch ein paar von ihren Sachen in eine Tasche und ging, verabschiedete sich höflich, aber ohne die gewohnte Umarmung, von seinen Eltern. Acht Monate später erhielt er einen Anruf von ihr, in dem sie ihn bat, zu ihr zurückzukommen, aber zu dem Zeitpunkt hatte er schon Melissa kennengelernt.
Wenn du so eine findest, sagte Snoop, musst du dich ändern. Melissa, die Meerjungfrau. Melissa mit dem kühlen Blick und der glitzernden Haut. Melissa, wie sie federnd eine Straße in London entlangläuft, mit einer Khakihose, Turnschuhen und Armreifen, gefolgt von Michael und seinem Freund Perry (»Guck dir mal an, wie fit sie ist, sie ist echt fit«). Sie war die Geschmeidigere, Reinere, Edlere. Sie war der Ober-Ober-Oberburner. Sie ging gern schwimmen. Daher rührte das Glitzern. Wenn sie nicht schwimmen gehen konnte, fühlte sie sich ausgetrocknet wie ein gestrandeter Fisch, ihre Stimmung litt darunter. Am Tag nachdem sie sich in Jamaika kennengelernt hatten, beim Karneval in Montego Bay (sie berichteten beide darüber, Melissa für eine Zeitschrift, Michael fürs Radio), hatten sie sich am Strand getroffen, Michael, Perry und ein paar andere Reporter, plauderten, sonnten sich, spielten Ball, und irgendwann löste sie sich aus der Gruppe und ging ins Wasser. Sie trug einen altmodischen schwarzen Badeanzug mit einem diagonalen weißen Streifen, der über die ganze Länge bis zum Ansatz der Oberschenkel reichte. Er blickte ihr nach. Blickte ihr ewig lange hinterher, während ihr Körper in die Wellen eintauchte, das Wasser sie empfing, wie sie hineinschritt, allein, furchtlos. Sie schwamm hinaus. Ihr brauner Körper wand sich in der Bläue, glitt nixenartig dahin, sie war eine neue Welt, die sich drehte. Sie schwamm weiter hinaus und immer weiter, und er sah zu, wie sich die Wellen aufbauschten und brachen, heranrollten und zurückwichen. Er sah das Kreisen ihrer starken braunen Arme beim Brustkraulen. Er sah den Rand des Meeres, wo es der Krümmung der Erde folgte, bis es aus dem Blick verschwand, und er sah die Felsen und die vorgelagerte Insel. Er hielt den Blick auf ihre kreisenden braunen Arme gerichtet, was zunehmend schwierig wurde, weil die Weite des Meeres immer besitzergreifender wurde. Dann verlor er sie aus den Augen. Sie war weg. Sie war hinter dem Ozean aus seinem Blickfeld verschwunden. Vielleicht war sie auch untergetaucht, war unter Wasser gezogen worden. Er geriet in Panik. Er spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte, da war sie gewesen, diese glänzende neue Erscheinung, über die er mehr erfahren wollte, und jetzt war sie auf einmal nicht mehr da. Er konnte nicht schwimmen, aber in diesem Moment ergriff etwas von ihm Besitz, und er rannte los. Er krempelte sich die Jeans hoch und watete ins Wasser mit seinen staksigen Beinen. Er wusste selbst nicht, was er vorhatte, und als er so weit gekommen war, dass er hätte schwimmen müssen, hielt er inne und wartete, blickte, so weit es ging, hinter die Krümmung. Doch er entdeckte sie nicht. Nach einer Weile kehrte er um, klatschnass stand er wie ein begossener Pudel in seiner triefenden Jeans am Ufer und wünschte, er könnte sie retten, wollte so gern ihr Held sein, hatte aber bereits jetzt das Gefühl, das ihn in Zukunft noch häufig übermannen würde, dass er nicht gut genug für sie war. Dann schlug seine Besorgnis in Wut darüber um, dass sie einfach so verschwinden und jemanden dazu bringen konnte, sich Sorgen um sie zu machen, so tat, als existierte sie nicht, als existierte er nicht. Zwanzig Minuten später kam sie zurück, lachend und atemlos. All seine Wut verpuffte, als sie auf ihn zukam – ihre Energie, ihre Schenkel, ihr Gesicht, ihre Glückseligkeit. »Was für ein wundervolles Meer«, rief sie, »wundervoll zum Schwimmen«, und er fiel in ihr Lachen mit ein. »Ich dachte, du wärst ertrunken!« Sie war die Eine. Sie war »The One«. Er wollte sie. Er wollte dafür sorgen, dass ihr Zoom Zoom boom boom machte. Er war so in sie verliebt, dass es sich gefährlich anfühlte. Er sagte zu Perry: »Eines Tages wird sie mir das Herz brechen. Das weiß ich.«
Ihre Hände waren klein, ebenso wie ihre Füße, sie trug Silberringe mit Jade und Bernstein. Sie war puppenhaft, fast geschlechtslos. Ihr Profil wirkte verträumt. Er konnte den Blick kaum von ihr abwenden. Sie mochte Abenteuer. Sie wollte nach Argentinien reisen. Im Norden des Landes sollte es Berge geben, die rot waren, besonders bei Sonnenuntergang, hatte sie gehört. Sie wollte nach Sevilla reisen und an die Südostküste von Korfu. Sie wollte nach Mexiko fliegen und das Haus von Frida Kahlo besichtigen, sie wollte die Anden in Peru erklimmen, an einem anderen Ort leben als England, woanders existieren als dort, wo sie geboren worden war; sie wollte die Welt erobern. Sie war das genaue Gegenteil von Gillian: selbstbewusst, in sich ruhend, eigensinnig. Sie sagte, sie werde sich niemals festhalten lassen und niemals in einer Situation verharren, in der sie sich gefangen fühle. Michael hatte unzählige Fragen an sie, mehr als an jede andere Frau zuvor, und das gefiel ihr an ihm, seine Art, ihr zuzuhören, so aufmerksam. Er wollte jeden Winkel, jede Windung ihres Geistes erforschen. Unter jeder Schicht, die er freilegte, befand sich eine weitere. Je mehr er an ihr entdeckte, desto mehr gab es zu erforschen. Ihre Vorstellung von der Zukunft war mystisch, sie schien zu glauben, dass sie woandershin gelangen würde als alle anderen, dass das Leben mit ihr nicht das Gleiche anstellen würde, dass sie sich in jedem Augenblick konservieren, sich heimlich haltbar machen würde, wie Michael Jackson in seinem Sauerstoffsarg, und dass sie einen gewissen Abstand zu anderen Menschen halten würde, um nicht von ihrem Weg abzukommen. Ihre Augen blickten immer in die Ferne, immer rätselhaft. »Woran denkst du?«, fragte er sie abends am Strand. »Genau jetzt, genau in diesem Moment?« Er versuchte, sie in Standfotos zu erhaschen. Doch sie entglitt ihm. »Ich betrachte meine Gedanken«, sagte sie statt: »Ich denke nach.« Sie sprach im wahrsten Sinne des Wortes in Bildern. Später schrieb sie ihm Gedichte, eine Zeile, während sie Rom bereiste: Ich vermisse meinen Mund im Schamhaar deines Kinns (gemeint war sein Kinnbart).
Auf ihre erste Begegnung in Montego Bay folgten drei Monate Telefongespräche, während deren sie über ihre Vergangenheit und Zukunft sprachen, über Edgar Allan Poe und seine zwei Häuser, über Mary J. Bliges dramatisches Leben, über Cassandra Wilsons große musikalische Bandbreite, über die British National Front, die Polizei, Margaret Thatcher und ihr politisches Handeln, über Vulkane, die Heimatländer ihrer Mütter und die Zeit, die sie dort verbracht hatten, über die immer fließenderen Grenzen zwischen R&B und Pop. Er brachte sie zum Lachen. Das war es, sie hatte viel gelacht. Sie lachte so sehr, dass er schmatzende Geräusche aus ihrer Kehle hörte, sie blamiere sich, erzählte sie ihm, weil das Büro, in dem sie damals arbeitete, so klein war und alle sie hören konnten. Während dieser Unterhaltungen gab es nichts außer ihrem Gespräch, sie waren vollkommen in die Stimme des anderen versunken, von der Chemie des anderen durchdrungen, doch es dauerte drei Monate, bis sie mit ihm das Bett teilte. Sie wohnte in Kensal Rise in einem Zimmer mit einem Waschbecken in der Ecke und ließ ihn hin und wieder nach einer Party oder einem Rendezvous dort übernachten, aber er schlief immer auf dem Boden. Zum ersten Kuss kam es erst, nachdem er sie ausdrücklich gefragt hatte, er wusste nicht, wie er die Sache sonst hätte angehen sollen, seine starke Zuneigung zu ihr machte ihn befangen, ebenso wie das Gefühl, dass sie ihm das Herz brechen würde. Sie hatten Spaghetti mit Gemüse-Bolognese gegessen (sie aß auch Kürbiskerne, Müsli und anderes Vogelfutter) und standen am Waschbecken. Sie trug ein Dashiki-Kleid in Blau und Rosa mit freizügigem Armausschnitt; den ganzen Abend hatte er verstohlen hinübergespäht und versucht, ihre braune Blöße nicht zu beachten, ihre sanften kleinen Wölbungen, und jetzt war der Abend vorbei, und er stand im Begriff zu gehen, weil ihre Freundin Hazel gleich zu Besuch kommen würde, und er hatte sie immer noch nicht geküsst. Also rückte er mit der Sprache raus und fragte sie wie ein Schuljunge, woraufhin sie ja sagte wie ein Schulmädchen. Er beugte sich vor. Ihre Lippen trafen aufeinander, und ihre Sanftheit, ihre Wärme waren eine strudelnde, explosive Überraschung, dieser Kuss bedurfte keiner Initiative, er geschah ganz von selbst, war voll ausgereift, euphorisch und doch lässig, besaß seine eigene Psychologie und Persönlichkeit, konnte einen Namen tragen, Franklin, Desdemona oder Angelina, und Michael war so hin und weg, dass er sie mit sich aufs Bett zog und sie auf ihm zu liegen kam, da, wo sie hingehörte, seine Hände glitten in ihr Kleid und berührten endlich – da wurden sie von Hazels Klopfen unterbrochen. Es war diese Unterbrechung, das Unvollendete, das der Sache noch größere Bedeutsamkeit verlieh.
Danach, in langen, haschischerfüllten Nächten, ließ sie ihn hinein. Sie war schamhaft und zugleich auf unschuldige Art freizügig. Sie versteckte sich, selbst nach allem, zum Umziehen hinter der Schranktür, andererseits trug sie ihre wallenden afrikanischen Kleider selbstvergessen ohne BH, offenbarte ihm die Geheimnisse ihrer kleinen Brüste, den sanften Schwung ihres oberen Rückens. Als sie die Wohnung im siebten Stock bezog, waren sie mehr oder weniger ein festes Paar, und kurze Zeit später zog er bei ihr ein, obwohl sie ihn immer noch auf eine Art behandelte, als wäre er ein Accessoire, das sie eines Tages in einem Zug liegenlassen würde. Einmal fragte er sie, als er ihr bereits so verfallen war, dass man es nicht mehr als gesund bezeichnen konnte: »Was ist das? Was tun wir hier?«, weil er das Gefühl hatte zu ertrinken, und sie antwortete auf ihre ansteckend nüchterne, unverbindliche Art: »Müssen wir dem einen Stempel aufdrücken?« Sie wahrte immer eine gewisse Distanz, hielt sich zurück. Nicht dass sie nicht liebevoll gewesen wäre, zumindest damals war sie es noch. Ihr Liebesspiel war unverändert. Es war impulsiv und ekstatisch. Es entlockte ihnen Schreie. Der Mann, der unter ihnen wohnte, klopfte aus Protest gegen das gemeinschaftliche Heizungsrohr. Sie verließen nachmittags das Bett, wenn das Licht vom Balkon hereinschwang, gingen in die Küche, um sich Toast zu machen, und noch während sie in der Küche saßen, in den siebten Himmel hinter der Balkonbrüstung hinausblickten und redeten, immerzu redeten, begann es von vorn, animiert durch eine lange Berührung an der Taille, den Vergleich ihrer unterschiedlich großen Hände, ihre Blicke, die sich trafen, oder durch etwas, das sie wieder einmal zum Lachen brachte, und sie gingen zurück ins Schlafzimmer oder ins Wohnzimmer, wo die Fenster auf die Stadt hinausschauten, bis zum Fluss, und die Nacht legte sich sepiabraun über ihre Körper. Jeden Sonntagabend machte sie ein Dampfbad, das Gesicht über eine Schüssel mit ätherischen Ölen gebeugt. Ein Moment war ihm noch besonders präsent, als er nackt im Türrahmen gestanden und beobachtet hatte, wie sie sich unter dem Handtuch zu Tracy Chapmans, Al Greens oder einer anderen dunstigen Stimme gewiegt hatte, in ihrem blauen Satinslip, und irgendwann hatte sie aufgeblickt, ihn dort stehen sehen und ihn auf ihre wundervolle Weise angelächelt, dass er sich so erfüllt und glücklich fühlte, als gösse sie Sonnenschein in ihn hinein. Das Hochhaus wurde zum Himmelspalast. Es funkelte wie der kleine Eiffelturm bei Nacht. Sie sagte, an seiner Seite könne sie »einfach sein«, müsse nichts vorspielen, keine Fassade aufsetzen, und ihm ging es genauso, denn sie beide einte ein großes Unbehagen der Welt gegenüber, teils bedingt durch deren tägliche Grausamkeit, teils durch die typische Distanz der in zweiter Generation hier Lebenden – das Gefühl, dass sie, sosehr sie sich auch bemühten, nie ganz dazugehörten, nie vollständig akzeptiert, vollständig wahrgenommen wurden. »Ich habe dich gefunden«, sagte sie. »Mein schöner Schwarzer, ich bin so froh, dich gefunden zu haben.« Sie wärmten einander. Sie brannten füreinander. Sie konnten einfach sein, und während sie einfach sein konnten, sprachen sie immer wieder übers Heiraten; er bat sie, eines Tages seine Kaiserin zu werden, »Ja klar«, sagte sie, »da du es bist«, als wäre es nichts, als spräche sie im Schlaf, als wäre es eine ausgemachte Sache, wie ein Bahnhof, an dem ihr Zug eines Tages haltmachen würde. In ihrem Palast im siebten Stock durchlebten sie »Ordinary People«, »Stay With You«, »Let’s Get Lifted Again«, »So High« und »Refuge«. Nach einem Streit schlossen sie immer Frieden, ließen sich nicht beirren, machten weiter, fanden immer wieder zueinander, die Flamme loderte nach wie vor, war nur schwerer zu finden. Während sein Bus auf The Strand einbog, sang John zu diesem Thema:
Oh I will stay with you
Through the ups and the downs
Oh I will stay with you
When no one else is around
And when the dark clouds arrive
I will stay by your side
I know we’ll be alright
I will stay with you
Selbst nach elf gemeinsamen Jahren widmete ihm Melissa an seinem Geburtstag einen Song der Pussy Cat Dolls, »Stickwitu«, der besingt, dass niemand sie besser lieben, niemand sie glücklicher machen könne, dass sie für immer bei ihm bleiben müsse. Und während Michael durch die musikalische Oase seines iPods dahinglitt, dachte er an einen Tag während jener ersten glücklichen Zeit zurück: Er war in Finsbury Park bei einem Vorstellungsgespräch gewesen und trug seine plusterige schwarze Daunenjacke, es war bitterkalt. Während des Vorstellungsgesprächs hatte er an nichts anderes denken können als an sie, seine Kaiserin, wie er zu ihr nach Hause zurückkehren würde, zurück in ihren Palast, wo sie auf ihn warten würde, sie war das Einzige, was ihm wichtig war, das Einzige, was er brauchte. Der Job war ihm egal. Geld war ihm egal. Er wollte bloß bei ihr sein, von ihr vervollständigt werden. Neben der Haltestelle Finsbury Park befand sich ein Kreisverkehr. Er spurtete in der herabsinkenden Abenddämmerung während des Berufsverkehrs über die Straße, sprang in riesigen, euphorischen Sätzen am Fußgängerüberweg vorbei und fand sich in der Mitte des grünen Graskreises wieder. Die Autos fuhren um ihn herum. Er holte sein Handy heraus. Sie war auf ihm, in ihm, überall um ihn herum, sie war die Abenddämmerung, das ergrauende Licht, das Grün, sie machte ihn schwindlig, er wirbelte durch ihr Universum. Er lachte, als er den Klang ihrer Stimme durchs Telefon hörte. »Wie ist es gelaufen?«, fragte sie. »Ich weiß es nicht. Es ist mir egal.« »Wann kommst du nach Hause?«, fragte sie. »Ich bin unterwegs.« Dann: »Melissa, ich liebe dich.« Er brüllte es heraus: »Ich liebe dich!«
Wie kommt man also von dort an diesen Punkt? Wie kommt man von »Ich vermisse meinen Mund im Schamhaar deines Kinns« zu »Klopapier bitte, kein Kuss«? Was war mit Angelina passiert, mit Desdemona? Wie konnte all diese Liebe einfach verschwinden? Michael zweifelte nicht an seiner Liebe zu Melissa. Seine Leidenschaft für sie war ungebrochen. Sie erregte ihn, wenn sie nur ihre Ringe auszog, wenn ein Streifen Licht auf ihr Schlüsselbein fiel, sie einen Socken abstreifte. Sie war den ganzen Tag über in seinem Herzen, während jeder einzelnen Stunde, während jedes einzelnen Schritts. Aber er zweifelte daran, dass sie ihn immer noch liebte. Wenn sie heute »Stickwitu« hörte, würde sie darin immer noch ihre wahren Gefühle erkennen? Schmolz sie immer noch dahin, wenn sie ihn ansah, so wie früher, wie sie ihm erzählt hatte? Aber wie könnte sie das, wo sie ihn auf diese andere Art betrachtete, diese neue Art, mit Eiseskälte, als wünschte sie, er würde sich in Luft auflösen? Er wusste, dass er sie enttäuschte, mit seiner belanglosen Arbeit, seiner mangelnden Abenteuerlust. Er klammerte sich ans Land, während es sie nach dem Meer dürstete. Für ihn fanden Abenteuer innerlich statt, im Herzen und in der Seele, während es für Melissa äußere Dinge waren, wie Vulkane. Er stand den Vulkanen im Weg. Er war ihr Hindernis, ihre Gillian. An manchen Tagen bezweifelte Michael stark, dass er in dieser Beziehung eine Zukunft haben würde, er fragte sich, ob der Kreis sich geschlossen hatte und er bei »Used To Love U« angelangt war, ob sich Melissa in eine andere Art Frau verwandelt hatte, in die Art Frau, von der John sang, sie sei eingebildet, fordernd, voreingenommen. Vielleicht war die andere Melissa für immer verschwunden, und er sollte sie einfach loslassen. Doch das konnte er nicht. Er glaubte immer noch, dass das Feuer irgendwo weiterbrannte und dass sie immer noch dort war, auf ihn wartete. Der Bus fuhr gemächlich über The Strand, an der Haltestelle Charing Cross und der Kirche St. Martin-in-the-Fields vorbei – dorthin war er mit Ria zum Brass Rubbing gegangen; mit Wachsmalstiften hatten sie alte Messingtafeln auf Papier gepaust. Die Erinnerung daran trieb ihm die Tränen in die Augen (die Wärme ihrer kleinen Hand in seiner, ihr hüpfender Gang). Währenddessen hallten die Worte von »Used To Love U« in seinem Kopf nach, erzählten davon, es leid zu sein, eine Lüge zu leben, nicht mehr bereit, sie sich schönzureden. Ein neues, boshaftes Gefühl wallte in ihm auf, und er sagte sich, ja, Melissa war zu dieser Art Frau geworden, lieblos und materialistisch, passte besser zu Typen wie Puff Daddy oder Jay-Z. Der Kreis hatte sich tatsächlich geschlossen, und er konnte nur noch versuchen, sie nicht mehr zu lieben. Ganz einfach und dabei so schwierig. Und als er nun im verbliebenen Frühnebel Trafalgar Square erreichte, mit all den vorbeirauschenden Passanten, den eiligen Schritten und den zum eiskalten Becken hinabsegelnden Vögeln, dachte er an den Kreisverkehr in Finsbury Park zurück, wie die Welt um ihn herumgewirbelt war, ein grünes Universum, an die pure Freude dieses perfekten Augenblicks, und wie traurig es war, dass selbst derartige Dinge verlorengingen.
Als er beim Verlassen des Busses die schmutzige schmale Treppe hinunterstieg, ohne das Geländer zu berühren, obwohl er Handschuhe trug, verspürte er den Drang, sie vom Trafalgar Square aus anzurufen und ihr noch einmal zu sagen, dass er sie liebte, damit sie sich erinnerte. Aber er tat es nicht. Er ging die Whitcomb Street hinunter. Eine junge Frau kam aus einem Gebäude heraus, ging an ihm vorbei und warf ihm einen Blick zu (häufig drehten sich die Frauen zweimal nach ihm um). Er bog links zu seinem Büro ein, und als er direkt vor dem Gebäude stand, schaltete er die Musik aus. Es war unheimlich wichtig, die beiden Pole, Musik und Arbeit, voneinander zu trennen, damit die Musik ihre Macht behielt, unberührt blieb von den grellen getäfelten Zimmerdecken, vom leblosen Gesang des Kopierers. John Legend war verstummt, und Michael legte seine offizielle Fassade an. Er durchschritt die glänzenden Drehtüren und ging durch die begrünte, marmorgesprenkelte Lobby auf die kreisförmige Insel in der Mitte zu – ein weiterer grüner Kreis –, wo drei dynamische Rezeptionistinnen mit kühler, aber angenehmer Stimme in ihre Headsets sprachen, Knöpfe betätigten, frisch, klar und unfehlbar die telefonische Standardbegrüßung der Firma wiedergaben: »Freedland Morton, guten Morgen. Womit kann ich Ihnen helfen?« Er ging daran vorbei und blickte verstohlen zu der rechten Rezeptionistin hinüber, mit den langen, vollen schwarzen Haaren und umwerfend schönen Augen, Gott, diese Augen, mysteriös und irgendwie melancholisch, karamellfarben, fast golden, umrahmt von klar definierten, geschwungenen Augenbrauen. Er wusste nicht, wie sie hieß. Sie begegneten sich ab und zu beim Betreten oder Verlassen des Bürogebäudes und bemühten sich immer, direkten Blickkontakt zu vermeiden, weil zwischen ihnen eine ganz offensichtliche Anziehungskraft bestand, doch sie waren irgendwann an den Punkt gekommen, wo es unhöflich gewesen wäre, sich nicht zu grüßen, und seitdem sie sich grüßten, knisterte es zwischen ihnen so gewaltig, dass sie manchmal leicht errötete (ihre olivfarbene Haut war hell genug, um zu erröten). Mittlerweile befanden sie sich in einer Art Pattsituation, grüßten sich manchmal und manchmal nicht.
Heute grüßte er sie. Er winkte sogar, ganz leicht, unbeabsichtigt. Sie winkte zaghaft zurück. Verlegen lächelten sie sich zu.