»Guten Morgen, Babys! Guten Morgen, Mamas! Ich freue mich so, euch alle zu sehen – ich hoffe, ihr seid bereit. Wir werden jede Menge Spaß haben! Ich heiße Chun Song Li, und ich bin eure Baby-Beat-Trainerin!«
Chun Song Li saß im Schneidersitz vor dem Rechteck aus Frauen und Babys, die auf Matten in satten Grundfarben in der hohen Halle des Nunhead-Christian-Worship-Zentrums hockten, breitete die Arme aus, lächelte ebenso breit wie überschwänglich und beugte sich vor, in einer entschlossenen Geste der Offenheit und Verbundenheit. Melissa saß zu ihrer Linken, als vierte Frau in der Reihe, trug eine Prada-Bluse, die sie bei einem Open-Fotoshooting geschenkt bekommen hatte, und fühlte sich overdressed. Blake saß vor ihr, ignorierte Chun Song und starrte stattdessen in das verwirrende Kaleidoskop seines Baby-Daseins. Direkt rechts neben Chun Song saß eine dünne schwarze Frau, Chun Songs Assistentin, der die Langeweile ins Gesicht geschrieben stand sowie das gleichzeitige Bemühen, begeistert zu wirken. Melissa lächelte ihr aus einem vagen, altmodischen Gefühl der Solidarität heraus zu, aber sie reagierte nicht darauf. Es war 9.30 Uhr, und niemand in dem Raum trug Schuhe.
»Also«, sagte Chun Song und griff nach einem Stapel Karten. »Für diejenigen, die heute zum ersten Mal hier sind«, fuhr sie lächelnd fort und wandte sich Melissa und einer anderen Frau ihr gegenüber zu, deren Baby ein Jeans-Latzkleidchen trug, ansonsten aber androgyn wirkte, »wir beginnen jede Baby-Beat-Stunde mit ein paar lustigen, fröhlichen Liedern und Babyzeichensprache! Keine Bange, falls ihr die Zeichen noch nicht kennt, sie sind ganz leicht zu lernen. Versucht es einfach und singt mit, OKAY?! OKAY, Babys? Alle bereit?«
Chun Songs Assistentin betätigte einen Knopf am CD-Player. Eine sanfte, liebliche Musik schwebte durch den Raum, und Chun Song begann sich zu wiegen. Mit einer Hand hielt sie nacheinander die Karten hoch, auf denen Objekte aus der Natur abgebildet waren, wie eine Sonne, eine Wolke oder eine Blume, während sie mit der anderen Hand das entsprechende Zeichen machte, damit die Gruppe es nachahmte. Die Sonne wurde beispielsweise durch einen Kreis dargestellt, der durch Aneinanderlegen des Daumens und Zeigefingers gebildet wurde, während die übrigen Finger abgespreizt wurden, um die Strahlen zu symbolisieren. Zum Wohl ihrer Babys, für die das Beherrschen der Zeichensprache den Unterschied zwischen Gymnasium und Gesamtschule bedeuten konnte, wiegten sich die regelmäßig teilnehmenden Mütter ebenfalls und sangen mit, hielten die Hände ihrer Babys nach vorn und halfen ihnen bei den Gebärden:
Die Sonne ist hell und heiß.
Die Wolken sind weich und weiß.
Die Blumen und Bäume sind grün.
Der Regen bringt sie zum Blüh’n.
Widerstrebend fiel Melissa mit ein, reduzierte das Wiegen und Singen auf das Nötigste, formte mit den Händen die Zeichen in Blakes Sichtfeld und versuchte ihm gleichzeitig ermutigend in die Augen zu blicken, so wie die anderen Mütter. Sie kam sich lächerlich vor, aber sie sagte sich, dass es nur eine Stunde dauern würde und dass sie es ihm zuliebe tat. Nach fünf Monaten relativer Zurückgezogenheit aus der Eltern-Kind-Gemeinschaft – keine Reimstunde, kein Stillcafé – hatte sie beschlossen, dass es an der Zeit war, Blake an einen Ort zu bringen, wo er auf andere kleine Wesen treffen würde. Dies war ihre Baby-Beat-Probestunde, die, wie Chun Song ihr in drei telefonischen Nachrichten und einer E-Mail erläutert hatte, kostenlos war, wenn sich Melissa nach der Stunde für zehn Sitzungen anmeldete – »Das sind zehn Stunden zum Preis von neun!« –, und wenn sie montags kämen, heute, könnten Blake und sie sogar das Piratenschiff-Abenteuer miterleben!
Bei dem Piratenschiff handelte es sich um ein großes leuchtendes Plastikding in der Mitte des Rechtecks, das an einer glänzenden blauen Aluminiumfolie vertäut war – dem Meer. Die Besatzung bestand aus vier Teddybären mit Piratenhüten, und das große orangefarbene Segel war an einem roten Mast auf Deck befestigt. Jenseits des Rechtecks, in einem anderen Teil des hohen Raums, harrte ein zweites leuchtendes Meer aus hochwertigen Spielzeugen der kleinen Menschen. Es gab kunterbunte Rechenbretter und funkelnde Raketen, Bauklötze, Rasseln und Musikmatten, die auf Bewegung reagierten, darüber baumelten von bogenförmigen Filzstangen wollige Geschöpfe herab. Es gab ein aufblasbares Bällebad, ein psychedelisches Zelt, mehrere leuchtende Lauflerngeräte und verstreut herumliegende Stoffbücher, die alle möglichen Geräusche von sich gaben. Weißes Sonnenlicht fiel durch die hohen Fenster herein, ließ eine ferne Außenwelt erahnen, machte die Farben noch leuchtender, noch zuckersüßer.
»War das ein Spaß!«, rief Chun Song. »Und jetzt werden wir ein paar sehr aufregende Geräusche und Materialien entdecken, bevor wir mit unserem wunderbaren Piratenschiff in See stechen!« Die Assistentin verteilte aus einer verzierten Holzkiste Seidenpapier, Bänder, Rasseln und Wuschelbälle, und als alle entsprechend ausgestattet waren, die Babys bereits die Rasseln schüttelten und die Luft mit einem Zischen erfüllten, rief Chun Song: »Und jetzt, Mamas und Babys, hören wir noch mehr tolle Musik und schütteln unsere Instrumente im Takt dazu! Schafft ihr das? Mamas, ihr helft ihnen dabei, falls nötig! OKAY?«
Die Musik setzte wieder ein, fröhliche akustische Volkslieder, und die Babys, manche davon verdutzt, grapschten nach den Bändern und dem Papier, zerknüllten sie mit den Händen, steckten sie sich in den Mund oder rollten während Momenten mütterlicher Unaufmerksamkeit einfach über alles hinweg. Blake wirkte überrascht, sein Standardgesichtsausdruck, in dem jetzt aber zugleich großes Interesse und Hingabe mitschwangen, während er erst mit einer Rassel spielte und danach ein Seidenpapier zerknüllte. Melissa tendierte eigentlich dazu, sich nicht für die Zehn-Stunden-zum-Preis-von-neun anzumelden, doch Blakes Freude ließ bei ihr die Erwägung bittersüßer Selbstaufopferung erneut aufkommen. Nachdem das Rasseln vorbei war, wurden die Babys dazu ermutigt, auf das Schiff zu klettern. Nur ein oder zwei hatten gleichzeitig Platz an Bord, doch das Mädchen in dem Latzkleidchen wollte als Kapitän das alleinige Kommando übernehmen. Ihre Mutter ermahnte sie in betretenem, barschem Ton (»Du musst das Schiff mit den anderen teilen, Isabella«), aber zwei Babys gingen mittels Ellenbogen über Bord, ein weiteres wurde ins Gesicht geschlagen. Vorübergehend artete es in eine Minirandale aus – krabbelnde Gliedmaßen und robbende Bäuche bildeten auf dem Ozean ihre motorischen Fähigkeiten aus. »Es ist nicht für jüngere Babys konzipiert«, beklagte sich eine Frau neben Melissa flüsternd und warf Chun Song einen meuterischen Blick zu.
Danach war Seifenblasen-Zeit. Sie schwebten aus den flüchtigen Spiegeln des Seifenwassers heraus, gepustet von Chun Song und ihrer Assistentin, während sie das Rechteck umschritten, eintunkten und innehielten, wie Heilige, die etwas Gottgeweihtes darboten. »Aaaaah«, machten die Babys, »ooooooh«, machten die Mütter. Ärmchen reckten sich zum Fangen. Erhitzte, nach oben schauende Engelsgesichter. Gebannt beobachteten sie, wie vor ihnen die runde Luft tanzte, vergänglich und durchschimmernd, und plötzlich platzte, ganz von allein, wie ein vergnügter Tod. Chun Song begann, die Blasen in Richtung des zweiten Meers zu pusten, um die Kinder zu den wartenden Spielzeugen zu locken, und sie folgten ihr, hüpften, reckten die Ärmchen und klatschten in die Luft. Dort angekommen, beschäftigten sie sich selbstvergessen mit faszinierenden Knöpfen und Drehkreiseln, mit dem leuchtenden Pink im Inneren des Zelts und dem Werfen federleichter Bälle. Ihre Mütter saßen in ihrer Nähe auf dem Boden, führten unzusammenhängende, angstbefeuerte Gespräche über Windelmarken, Kinderkrippen, Baby-Reiswaffeln und die Heilwirkung von Arnika.
»Mit meinem ersten Kind habe ich auch Babyzeichensprache gemacht«, sagte eine Frau. »Es hat fast ein Jahr gedauert, bis sie den Dreh raushatte, aber hinterher hatte sie einen Wortschatz von achtzig Wörtern.«
»Ich püriere ausnahmslos alles«, sagte eine andere. »Er isst das Gleiche wie wir, nur zerkleinert. Und ohne Salz.«
Melissa kam am Bällebad mit einer erschöpft wirkenden Frau ins Gespräch. »Im Winter ist es schwieriger, sie beschäftigt zu halten«, sagte die Frau. »Ich habe einen von diesen Türhopsern gekauft, damit er leichter laufen lernt. Er ist jetzt fast vierzehn Monate alt und krabbelt immer noch.«
»Meine Tochter hat mit vierzehn Monaten angefangen zu laufen«, sagte Melissa. Wieder passierte diese Sache, bei der ihr Mund Sätze bildete, an denen er kein Interesse hatte, und ihre Stimme kam gequetscht und monoton heraus. Die Gespräche grenzten an einen Wettstreit. Wenn eine Frau sagte, sie füttere nie Fertignahrung, fühlte sich eine andere deswegen schlecht und versuchte zu rechtfertigen, dass sie durchaus zu Fertignahrung griff. Wenn eine Frau sagte, sie verwende die Ferber-Methode, um ihr Baby zum Einschlafen zu bewegen, erläuterte eine andere, dass es sich langfristig positiv auf die Bindung zum Kind auswirke, wenn man das Baby in den Schlaf wiege. Auch Melissa bekannte sich schuldig. Es war wie hochgradig ansteckende psychoverbale Lepra. Sie dachte an Michael dort draußen in der größeren Welt und konnte nicht umhin, Groll auf ihn zu hegen. In diesem Raum waren Männer anderswo. Sie waren ferne, virtuelle Wesen, auf die man sich im Pluralis Majestatis bezog: »Wir benutzen keinen Kinderwagen«, oder »Unser Dreijähriger ist eifersüchtig«. In diesem Raum lebte eine alte und unzerstörbare Tradition fort. Die Geschichte war präsent, vollkommen intakt, trug moderne Kleider und war doch von Grund auf unverändert, wie ein schmutziges Geheimnis.
Während dieser Plauderpause schlenderte Chun Song Li um die Spielmatten herum und mischte sich unter die Mütter, zeigte Interesse an ihren Babys und rief ihnen das Zehn-für-neun-Angebot in Erinnerung (sie hatte eine anspruchsvolle Karriere im Investmentbanking aufgegeben und versuchte, Baby Beat und die Erziehung ihrer eigenen Kinder unter einen Hut zu bekommen, und Marketing war der Schlüssel zum Erfolg). Als sie neben Melissa in die Hocke ging, kotzte Blake auf die Maltafel. Melissa kramte in ihrer Tasche nach feuchten Tüchern, während die Frau, mit der sie sich unterhalten hatte, leicht angewidert dreinblickte. »Oje«, sagte Chun Song. »Ist dem Schnuffel schlecht?«
Die zweite Hälfte der Stunde wurde mit einem Namensspiel bestritten, mit einem Tanzwettkampf sowie weiteren Babyzeichen und endete mit einem Abschiedslied, bei dem sich alle innerhalb des Rechtecks zuwinkten.
»Und?«, fragte Chun Song hinterher am Anmeldeschalter. »Möchten Sie sich für zehn Stunden anmelden?«
»Ich glaube nicht, dass ich nächste Woche kommen kann«, sagte Melissa, die es eilig hatte, das Gebäude zu verlassen. Sie hatte das Gefühl, am Geisternebel der fröhlich verstorbenen Seifenblasen zu ersticken. »Ich bezahle einfach für heute und komme dann vielleicht übernächste Woche wieder.«
Chun Songs Gesichtsausdruck verfinsterte sich bei dieser Antwort. In vorwurfsvollem Ton sagte sie: »Dann gilt aber nicht das Angebot mit der kostenlosen Stunde. Es müssen zehn Wochen in Folge sein.« Sie sah Blake tief in die Augen, wackelte an seiner Hand. »Hattest du Spaß, Blake? Hat dir das Piratenschiff gefallen?« Blake starrte sie bloß mit seinem verschreckt-verdatterten Blick an. »Wenn Sie möchten, gebe ich Ihnen bis Freitag Bedenkzeit, um sich für die zehn Stunden anzumelden«, sagte sie zu Melissa. »Rufen Sie mich einfach an. Nach Freitag kann ich allerdings nicht versprechen, dass noch ein Platz frei ist.«
Damit streckte sie die Waffen. Sie lächelte und winkte den Babys und Mamas zu, während sie aus der Halle strömten, ihre Taschen, Fläschchen, Mäntel, Tragetücher zusammenrafften und in Zweier-, Dreier- oder Vierergruppen über das qualitativ hochwertige Vergnügen plauderten, das sie ihren Nachkommen gerade geboten hatten. Draußen bildete sich eine Schlange aus drei- und vierrädrigen Buggys, bewegte sich die Rampe zur Straße hoch, wo sie in den weißen Tag hinein unter den kahlen Novemberzweigen der Platanen davon-zuckelte – zum Mittagessen, zum Mittagsschlaf, zu leeren Häusern.
Der kinderlosen Irin Gina Ford zufolge sollte Blake zwischen 12.15 Uhr und 14.30 Uhr etwa zwei Stunden lang schlafen. Jetzt war es 10.45 Uhr. Mittagessen gab es um 11.30 Uhr. Von der ganzen Aufregung der Baby-Beat-Stunde schlief er auf dem Rückweg im Auto ein. Er rührte sich weder, als Melissa ihn aus seinem Autositz schälte, noch, als sie ihm im Flur die Jacke auszog und im Küchenradio laut Choice FM einstellte, und auch nicht, als sie ihm die Socken auszog, ihn auf den Teppich im Wohnzimmer bettete und leicht schüttelte, ihn an ein Kissen gelehnt dort liegen ließ und den Fernseher einschaltete, in der Hoffnung, dass ihn das überschäumende Geplärr des Kinderkanals wecken würde, wo eine Bande sprechenden Gemüses einer Gruppe Kinder demonstrierte, wie man eine Rübe pflanzt. Letztlich blieb ihr nichts anderes übrig, als der felsenfesten nigerianischen Überzeugung ihrer Mutter, ein Baby niemals beim Schlafen zu stören, zuwiderzuhandeln und ihn aufzuwecken, indem sie auf seine Wimpern pustete und mit den Fingern Spinnen über seine Wangen krabbeln ließ. Er war nicht erfreut. Er schrie, während sie pürierte, und als das Essen fertig war, ließ er sich viel Zeit damit, sabotierte die mittägliche Windelwechsel-Deadline vor dem Nickerchen um zwölf Uhr. Als sie ihn schließlich nach oben brachte, zeigte die Uhr 12.25 Uhr, und er war hellwach.
Ein andersgearteter Montag oder Dienstag. Melissa stieg nicht in einen Bus. Sie zog kein Kostüm an, keine Stiefel, fuhr nicht durch die tiefen schwarzen Tunnel zu einem Büro, das weit weg von zu Hause und der Nachkommenschaft lag. Ihr Büro befand sich im Haus, in dem Zimmer, das vom dachfensterbeleuchteten Treppenabsatz auf halber Höhe abging. Es schlummerte dort vor sich hin, bis der ruhmreiche und heißersehnte Moment gekommen war – Blakes Mittagsschlaf nach dem Essen. Der Mittagsschlaf war das geheiligte Land, der Ort des Schaffens. Wenn Blake endlich eingeschlafen war, bei geschlossenen Jalousien, damit ihn das Licht nicht störte, und im Hintergrund das Schlaflied »Hush Little Baby« lief (… if that diamond ring turns brass, Mama’s gonna buy you a looking glass …), ging Melissa schnurstracks zu ihrem Schreibtisch und arbeitete während dieser seligen zwei Stunden, spürte, wie ihr Gehirn wieder erwachte, wie sich die Mechanismen der Intelligenz erneut regten, wie sich ein reifer innerer Frieden breitmachte, hervorgerufen durch menschliche Selbstentfaltung und ernsthaftes Bestreben. Doch der Mittagsschlaf erforderte ein Vorspiel, das sich über den gesamten Vormittag hinzog und kindliche Beglückung durch Aufklappbücher, Tierbücher und Fahrzeugbücher umfasste, die nacheinander vorgelesen werden mussten, einen Spielzeug-Zirkus, der sich kreuz und quer über den Teppich im Wohnzimmer verteilte, ähnlich wie bei Baby Beat, aber weniger extravagant, ein Bauernhofpuzzle, bei dem ein Schaf in die Umrisse eines Schafs und eine Kuh in die Umrisse einer Kuh eingesetzt werden mussten und so weiter. Oder sie hörten Kinderlieder oder auch vernünftige Musik von Whitney Houston oder Kanda Bongo Man und tanzten zusammen in ihrer häuslichen, inselartigen Disco. Irgendwann zwischen zehn und elf überkam Melissa meist jenes bedenkliche Gefühl, das deshalb bedenklich ist, weil es etwas mit dem eigenen heißgeliebten Kind zu tun hat: Langeweile. Eine abstumpfende, nervenzermürbende Lustlosigkeit. Ein unwillkürliches, aber nachdrückliches Augenzufallen. Die Leere und Stille des Hauses wurden ihr nur allzu bewusst, die sie umgebenden Wände, die schiefen Winkel, und damit ihr nicht die Decke auf den Kopf fiel, ging sie manchmal mit den Kindern in die Bücherei, wo man nicht begriff, dass die Wörter in der Wochenmitte keinen Ruhetag einlegten, und falls es ein Mittwoch und die Bücherei geschlossen war, gingen sie zu dem dreckigen Kinderspielplatz daneben oder in einen Park, wo andere Mütter in Elternzeit an Werktagen ihre Kinderwagen zwischen den Bäumen entlangschoben, ihre Sprösslinge auf den Schaukeln anschubsten, ihnen etwas vorsangen, sie kitzelten, Grimassen schnitten, versuchten, alles richtig zu machen und wie perfekte, wunderbare Mütter zu wirken.
Es war ein himmelweiter Unterschied zu ihren Tagen bei Open, als ihr die Welt im wahrsten Sinne des Wortes offenstand. Sie war jeden Tag außer Haus gewesen, bei einer Modenschau, einer Eröffnungsfeier, im Büro, auf einer Party. Sie war kreuz und quer durch die Stadt gefahren, hatte in der All Bar One Cocktails geschlürft, war auf der King’s Road shoppen gegangen und hatte all die schicken, farbenfrohen Kleider gekauft, die jetzt im Schrank herumhingen und Schimmel und Staub anzogen. Gelegentlich bereute Melissa ihre Entscheidung, ihr Leben zu ändern und freiberuflich zu arbeiten. Freiberuflerin zu sein bedeutete, so wurde ihr klar, im Abseits zu sein, nicht frei von Druck, sondern abseits des Geschehens, außerhalb des Londoner Stadtplans, aus dem Rennen, im Nirgendwo. Während ihrer Schwangerschaft hatte sie sich ein glückseliges neues Leben ausgemalt, ein perfekt ausbalanciertes und beruflich kreatives Mutterdasein: Blake würde friedlich im dem runden Rattansessel schlummern, während die Sonne zum Fenster hereinfiel und sie vergnügt am Schreibtisch saß und arbeitete. Sie würde ihre Themen selbst aussuchen. Sie würde über den Tellerrand der Mode hinausblicken, Reportagen schreiben, über Kunst. Endlich würde sie die alten Gedichte hervorkramen können, die sie schon seit Ewigkeiten lesen wollte. Endlich würde sie sich dem vernachlässigten Teil ihrer selbst wieder annähern, zu sich zurückfinden, sich selbst verstehen und dadurch mehr sie selbst sein, bedeutsamer, tiefgehender, authentischer. Denn in Melissa schwelte ein Paradox; sie war immer noch unentschlossen, was für eine Art Mensch sie eigentlich war – gehörte sie der äußeren Welt an oder der Welt der Seele? War sie introvertiert oder extrovertiert? War sie Dichterin oder Auftragstexterin? Sie hatte gehofft, sich in diesem neuen, anderen, ruhigeren Leben mit diesem Paradox befassen, es genau unter die Lupe nehmen zu können, doch wie sich herausstellte, reichten zwei Stunden täglich dafür nicht aus.
Dazu kam, dass Blake nicht verlässlich Mittagsschlaf hielt. Manchmal, so wie heute, beschloss er, wach zu bleiben, wach wie das Tageslicht, er widersetzte sich mit aller Kraft, auch wenn sie beruhigend auf ihn einredete, ihn wiegte und im Zimmer auf und ab lief (so wie jetzt gerade). Oder er schlief nur kurz, und sie musste die Arbeit abbrechen, nachdem sie gerade erst damit begonnen hatte. Sie las ihm weitere Bücher vor. Sie machten weiter Puzzles, suchten weiter nach Schafformen, schlugen weiter auf das Xylophon ein, und sie dachte wieder an Michael dort draußen in der großen Welt, abwesend, von allem unbehelligt. Gegen ein Uhr mittags war sie leicht verärgert. Sie fing an, über das Patriarchat nachzudenken. Sie dachte an all die Frauen, die ihre BHs verbrannt und für das Wahlrecht gestorben waren. Sie sann darüber nach, dass das viktorianische Zeitalter in Wahrheit nicht vorbei war, über das Gefängnis der Tradition und wie viele Frauen im Laufe der Jahrhunderte ihr Leben der Kindererziehung gewidmet hatten, während sie so viel mehr aus sich hätten machen können. Sie dachte an Simone de Beauvoir und Luce Irigaray, an Gloria Steinem und Angela Davis. Oh, sie war eine Versagerin, ein Feigling! Sie ließ zu, dass man sie unterdrückte. Alle Theorien aus ihrem Studienmodul über Frauenliteratur kehrten zu ihr zurück. Audre Lordes und Alice Walkers geballte Grimmigkeit, und um vierzehn Uhr trieb sie in einer Kluft derart düsterer, giftiger Wut und Depression umher, dass sie nicht einmal mehr Blake zulächeln konnte. Und selbst ihre Depression war eine feministische Depression. Es war die Depression aller Frauen, aller unterdrückten Frauen auf der ganzen Welt, und Michael war nicht länger Michael, sondern ein Patriarch, der Patriarch. Er war keinen Deut besser als Charlotte Perkins Gilmans Patriarch, der die weibliche Hauptfigur in den Raum mit der gelben Tapete einsperrte und von der Außenwelt abschottete. Er war der Patriarch aus Jane Eyre, der Bertha auf den Dachboden verbannte, und um fünfzehn Uhr war es Zeit, Ria von der Schule abzuholen, also schob sie den Kinderwagen über die miese männergemachte Straße und wieder zurück, dann wartete sie verzweifelt darauf, dass Michael, der nicht mehr Michael war, sondern der Patriarch, nach Hause kam. Der wahre Michael war verschwunden. Der Michael, den sie auf Jamaika getroffen hatte, der mit den zwei Facetten, war verlorengegangen. Der Michael, der ihr Fragen gestellt und ins Meer gewatet war, um sie zu retten. Michael, der die Konfiguration verändert, der ihren Sinneswandel bewirkt hatte.
Melissas Erfahrung mit der Liebe unterschied sich von Michaels. Wollte man sie mit einem Song beschreiben, wäre es Didos »Hunter« oder Gloria Gaynors »I Will Survive«. Sie brauchte Männer nicht. Bevor Melissa Michael kennengelernt hatte, waren ihr Männer ziemlich gleichgültig gewesen. Es waren merkwürdige und hungrige Wesen. Mit seltsamen Körpern. Mit Begierden. Sie wollten streicheln, einen an sich zerren, küssen, eindringen. Sie mochte ihr spritzendes, salziges Sperma nicht. Sie wollte keine Männerphantasie sein, keine Cola-Flasche, wie ein Mann sie einmal genannt hatte. Sie war lieber auf sich selbst gestellt. Allein war sie stärker. Männer lenkten ab, löschten einen auf gewisse Weise aus. Häufig war sie in erster Linie deshalb mit jemandem zusammen gewesen, weil derjenige so verliebt in sie war. Da hatte es den irischen Mann gegeben, den sie mit siebzehn in Paris kennengelernt hatte (und der sie als Cola-Flasche bezeichnet hatte). Da war der Typ gewesen, der sie vors Schienbein trat, als sie mit ihm Schluss machte. Es hatte schwarze Jungs gegeben, die etwas Helleres wollten, und weiße Jungs, die etwas Dunkleres wollten, und bei allen war sie unbeteiligt gewesen, nur auf der körperlichen Ebene berührt (das lag an ihrer Kindheit, an einem grausamen Vater, der sie innerlich hatte versteinern lassen). Die einzige Ausnahme von ihrer Gleichgültigkeit Männern gegenüber war ein Kommilitone namens Simon gewesen, den sie in Warwick an der Universität kennengelernt hatte. Sie waren zunächst nur befreundet (das erschien ihr die bessere Art von Beziehung), er war groß, blond und hatte sanfte Augen, ein Londoner Junge. Sie redeten stundenlang, lagen nachts in seinem Zimmer platonisch beieinander, bis sie eines Tages merkte, dass sie mehr für ihn empfand. Sie war nicht sicher, ob es Liebe war, aber es kam dem Gefühl sehr nahe, das sie sich als Liebe vorstellte, es war nah genug dran, also sagte sie ihm, dass sie ihn liebte. Doch es schien, als kämen diese Worte aus einer fernen Kammer ihres Gehirns, und als sie dann nichtplatonisch beieinanderlagen, wurde ihr klar, dass ihnen etwas verlorengegangen war. »Denkst du manchmal auch«, fragte sie Simon, »dass Menschen, die sich wirklich gernhaben, nicht miteinander schlafen sollten?«
Danach war sie lange genug allein gewesen, um festzustellen, dass auch sie sich einsam fühlen konnte. Und dann erschien Michael auf der Bildfläche. Er war Güte, Wärme, Überredungskunst, etwas Unerwartetes und Unverwechselbares. Er trug eine Brille, leuchtende Seidenhemden und zahlreiche Accessoires mit der jamaikanischen Flagge darauf: auf Armbändern, Kappen oder als Jogginganzugstreifen. Ihn kennzeichnete eine merkwürdige Mischung aus Trägheit und Flinkheit, seine Bewegungen waren ungestüm und zugleich behäbig, das Schnellste an ihm waren seine Hände, sie durchschnitten beim Reden die Luft, tanzten, schossen herab und wieder hinauf. Er war kein Tyrese. Kein muskelbepackter D’Angelo. Doch er besaß etwas, das wertvoller war als derart oberflächliche Dinge: Er war liebenswert, sowohl äußerlich als auch innerlich, er war ausgesprochen sinnlich, und er sah sie auf eine Weise an, die sie dahinschmelzen ließ. Ihr gefielen seine Fragen, wie er sich ganz zu Anfang auf den Montego-Liegestühlen zu ihr herübergelehnt hatte, mit seinen strahlend weißen Zähnen, ihr direkt ins Gesicht geblickt hatte, gierig, aber gierig danach, alles über sie zu erfahren, nach dem, was sich in ihrem tiefsten Inneren verbarg, unter dem Fleisch. Es ermöglichte ihr, ganz bei sich selbst zu sein und sich gleichzeitig ihm gegenüber zu öffnen, sich in der blauen Wärme Jamaikas für seine Wärme zu öffnen. Sie entdeckte, dass er zwei Seiten besaß, zwei Facetten, den Jungen und den Mann; er war Jungpferd und Hengst, Spaßmacher und Liebhaber. Er war ihr Geheimnis, ihre verborgene Schönheit. Dank Michael verstand Melissa endlich, worum all der Wirbel gemacht wurde, verstand den Durst nach dem Streicheln, An-sich-Zerren, Küssen, Eindringen. Dürstete nach seiner Art, sie zu berühren, seinen weichen, langen Händen, den Funken, die er in ihr zum Sprühen brachte. Nach dem Ausdruck in seinen Augen, der Art, wie er sie ansah. Sie ließ sich zurücksinken und ihn alles machen. Er war der Meister, seine Energie grenzenlos, seine langen Arme entwaffneten sie, er war überall, allumschlingend. »Du bist wie ein Oktopus«, sagte sie und erlag ihm immer, immer, immer wieder.
Doch obwohl so vieles stimmte, stimmte nicht alles zwischen ihnen. Manchmal hatte sie das Gefühl, er wünschte, sie wäre afrikanischer, dass sie zu englisch für ihn war, zu weiß. Er wünschte so sehr, sie könnte die Wut verstehen, die in bestimmten Momenten aus ihm herausbrach, beispielsweise auf die Polizei bei der Passkontrolle und generell auf alles, was eine Barriere zu errichten schien, nur weil er schwarz und männlich war. Und sie verstand es, wenn auch nicht voll und ganz, denn ihrer beider Leben war anders verlaufen, ihre frühen Schrecken waren andere gewesen. Sie fand es schwierig, so mit jemandem zu verschmelzen, nicht länger auf sich allein gestellt zu sein, diese Andersartigkeit in sich aufzunehmen. Es führte dazu, dass sie sich innerlich überfrachtet fühlte. Sie wollte nicht verschmelzen. Sie wollte nicht in Symbiose leben. Und doch wollte sie Michael, oder zumindest den Teil von Michael, der wie sie war. Selbst jetzt, dachte sie, während sie Blake in den Armen wiegte und mit ihm im Zimmer auf und ab ging, während ein Schlaflied endete und das nächste einsetzte, selbst jetzt besaß Michael auf gewisse Weise noch die Macht, sie zu überzeugen, sie zu einem Sinneswandel zu bewegen. Doch diese Macht wurde schwächer, schwand mit jedem Tag. Jetzt verließ sie mit Blake auf dem Arm das Zimmer und ging über den Treppenabsatz in das rote Zimmer, das große Schlafzimmer, um ihm erneut die Windel zu wechseln. Auf ihrem Arm war er wie ein zusätzlicher Bewusstseinskörper, sie dachte für zwei, über sich hinaus, seine Hilflosigkeit übertrug sich auf sie; während sie ausgelöscht wurde, wurde sie gleichzeitig erweitert. Sie legte Blake auf das Mokka-Bett. So passiert das also, dachte sie, während sie sich alle Mühe gab, ihn anzulächeln. So kommt man von »Ich vermisse meinen Mund im Schamhaar deines Kinns« zu »Klopapier bitte, kein Kuss«, und Blake lächelte sie trotzdem an, strampelte mit den Beinen in die Luft, holte sie aus ihrer düsteren Stimmung heraus, ein kleines Gesicht, aus dem es hinausleuchtete. Sie wandte sich eine Sekunde von ihm ab, griff nach der Vaseline –
Als sie sich wieder zu ihm umdrehte, war Blakes Lächeln verschwunden. Er starrte gebannt, erstaunt auf einen Punkt hinter ihrer Schulter. Seine Augen hatten sich geweitet. Er war wie vom Donner gerührt, versteinert, wie ein Tier von einem blendenden Licht.
»Was ist los?«, fragte Melissa.
Sie stand wieder am Fenster, neben dem Fenster. Babys, hatte Alice immer wieder betont, können Nachtwesen sehen. Sie weilen in derselben Welt. Er hielt den Blick weiterhin starr auf einen Punkt gerichtet, und sie schaute wieder hinter sich. Sie spürte die Stille, das kalte, unbeteiligte Beobachten. Sie sah immer noch nichts.
»Ein Nachtwesen? Jetzt?«
Im nächsten Moment war Blake zurück. Strampelte mit den Beinchen in der Luft, strahlte von innen heraus, war von dem Bann befreit, was immer er auch gesehen haben mochte. Während sie ihn aus dem Zimmer auf den Treppenabsatz trug, blickte Melissa immer wieder hinter und neben sich. In ihrem Geist tauchte ein Bild von Lily auf, wie sie an jenem Tag unter dem Dachfenster gestanden hatte, während das Sonnenlicht auf ihr weißblondes Haar fiel. Im Kinderzimmer versuchte sie erneut, Blake zum Schlafen zu bewegen. Er war immer noch nicht gewillt, begann zu weinen, sobald sie ihn allein ließ, hörte auf, sobald sie zurückkam. Erst als sie ihn auf den Arm nahm, im Zimmer umherging und ihn über die gesamte Länge eines weiteren Schlaflieds in den Armen wiegte, entspannten sich seine Muskeln und ihm fielen die Augen zu. Ein weiteres Mal legte sie ihn in sein Bett, und endlich schlief er ein, einen Schlumpf im Arm.
Damit blieben ihr fünfundfünfzig Minuten für ihr Schaffen, ihr Wiedererwachen im geheiligten Land der Arbeit. Melissa ging unverzüglich in ihr Arbeitszimmer, in dem ihr Schreibtisch wie ein verlassenes Schiff wartete, und setzte sich auf den samtbezogenen Stuhl. Sie starrte auf den Bildschirm, von dem ihr die ersten beiden Sätze ihrer Kolumne für Open entgegenleuchteten, über das Revival der Farbe Gelb. Sie begann mit: In dieser Saison scheint die Sonne auf die Laufstege, was lahm war. Sie suchte nach anderen Dingen, die man mit Gelb assoziierte, Butterblumen, Senf, aber ihr fiel es schwer, sich zu konzentrieren, der Tag schien bereits von etwas anderem bestimmt zu sein. Sie atmete tief ein, um sich gedanklich aufs Schreiben einzustimmen, legte die Hände auf die Tastatur, setzte gerade an, ein Wort zu schreiben, einen neuen, besseren Satz zu beginnen, da klopfte es an der Haustür. Erst dachte sie, sie hätte sich das Klopfen nur eingebildet, als würde gerade der gesuchte Satz an ihr Gehirn klopfen, und ignorierte es. Doch dann wurde ihr klar, dass tatsächlich jemand geklopft hatte, an die echte Haustür, ignorierte es aber weiterhin, weil es vermutlich nur der Gasableser war oder jemand, der den Dachboden dämmen, ihr eine neue Doppelverglasung aufschwatzen, sie für einen Karate-Club anwerben oder ihr an der Haustür Biogemüse verkaufen wollte. Sie krallte sich am Zipfel des gelben Satzes fest. Er war im Begriff, ihr zu entwischen. Da klopfte es erneut, und sie stieß den Stuhl zurück, um die Tür zu öffnen. Auf dem Gehweg vor dem Haus stand ein großer birnenförmiger Mann mit einer rot-grauen Windjacke und Wollmütze, der einen schwarzen Stoffbeutel in der Hand hielt. Er hatte einen zwei Finger breiten kantigen Oberlippenbart und ein verhaltenes britisches Lächeln.
»Rentokil?«, sagte er und tippte an seinen Stoffbeutel.
Melissa blickte überrascht, dann verständnislos drein. Er wartete. Da fiel es ihr wieder ein. Montag, 14.15 Uhr. Rentokil. Maus. Unter der Badewanne.
»Oh. Ja.«
»Ah«, stieß er erleichtert hervor, füllte den Flur mit seiner massigen Gestalt aus und stellte den Beutel ab. »Wirklich kalt da draußen heute, nicht wahr?«, bemerkte er, während er sich die Handschuhe auszog. »Aber hier drinnen haben Sie es schön warm. Leider auch für Mäuse sehr einladend.« Ein Lächeln erschien auf seinem Gesicht, ohne dort viel Platz einzunehmen.
Hausfrauen, rief sich Melissa in diesem Moment ins Gedächtnis, bieten den Handwerkern im Film immer eine Tasse Tee an. Es gehörte zu ihren Pflichten, diesem Mann eine Tasse Tee anzubieten.
»Möchten Sie eine Tasse Tee?«, fragte sie.
»Das wäre wunderbar. Bitte mit Milch und zwei Würfeln Zucker.«
Er bückte sich und kramte seine Ausrüstung aus dem Stoffbeutel hervor. In der Küche nahm sie eine Tasse für ihn heraus. Sie suchte nach Zucker und fand ihn ganz hinten im Teeregal. Niemand in diesem Haus brauchte Zucker. Hausfrauen verfügten jedoch über einen Vorrat an normalerweise unbenötigten Lebensmitteln, um vorbeikommenden Handwerkern etwas zu trinken und zum Knabbern anbieten zu können. Sie hatten keine Kekse. Sie sollte ihm einen Keks anbieten, konnte es aber nicht, nur den Tee, den sie ziemlich lange umrührte, als folgte der Löffel seinem eigenen Willen, bevor sie ihn auf dem Esstisch abstellte. Er bedankte sich nicht dafür.
Das Klemmbrett gezückt, ging er zum Geschäftlichen über und fragte: »Also, wann und wo haben Sie die kleinen Besucher gesichtet?«
Ihr wurde klar, dass er von den Mäusen sprach. Sie hatte nicht mehr gebadet, seitdem sie die Maus gesehen hatte, nur geduscht. Sie hatte sich ein Dorf voller Mäuse ausgemalt, die unter der Badewanne ihrem Leben frönten, Geige spielten, zur Schule gingen, im Dunkeln picknickten. »Vor etwas mehr als einer Woche«, sagte sie und führte ihn ins Badezimmer. Sie beschrieb, wie die Maus an der Verkleidung der Badewanne hochgekrabbelt und oben in dem Loch verschwunden war.
»Nur eine?«, fragte er.
»Eine was?«
»Eine Maus.«
»Ich habe zumindest nur eine gesehen …«
»Hmm.« Der Rentokil-Mann tippte mit seinem Stift an das Klemmbrett. Ihre Stimmen hallten im kalten Stromgenerator-Badezimmer wider, das Gebläse war eingeschaltet. »Hmm«, sagte er wieder, »sie mögen Badezimmer in der Regel, besonders im Winter, weil sie sich dort aufwärmen können. Ist aber der letzte Ort, an dem man sie haben will, nicht wahr?« Er kicherte. »Haben Sie woanders noch welche gesehen?« Hatte sie Fallen aufgestellt? Hatte sie angenagte Lebensmittel bemerkt? Melissa verneinte, trauerte ihrem verlorenen Satz nach, war sich der verstreichenden Minuten bewusst. Dann redete er über Scheiße. Kot, erklärte er ihr, sei der beste Hinweis auf Mäuse im Haus. Er sei leicht zu erkennen, kleine braune Köttel, so groß wie ein Tic Tac, aber natürlich weniger appetitlich. Er sprach über Mäuse, als wäre er mit ihren Familien befreundet, einfühlsam, aber ernsthaft, ein freundlicher Henker.
»Sie sind inkontinent, wissen Sie?«, sagte er. »Eine durchschnittliche Maus sondert am Tag rund achtzigmal Kot ab.«
»Im Ernst?« Melissa war entsetzt. Sie fragte sich, woher er das wusste. Suchte er im Internet nach solchen Informationen? Hatte er ein Büro? Eine Mäusehütte? Eine Nagetier-Enzyklopädie? Hier stehe ich an einem Montagnachmittag und unterhalte mich über tierische Hinterlassenschaften, dachte sie. Was ist das Positive daran? Nun, es ist immer noch besser, eine Hausfrau zu sein, als eine Maus. Ich besitze meine menschliche Würde. Ich weiß, wie man eine Toilette benutzt, und bin nicht inkontinent. Und niemand versucht, mich zu töten.
»Manche auch öfter, die großen«, fuhr er fort, »hundertmal, hundertzwanzigmal. Dazu kommt, dass sie ununterbrochen Harn ablassen. Bewegung bedeutet Pinkeln. Haben Sie irgendwo Mäusekot gesehen?«
»Nein«, sagte sie. Oder doch? Hatte sie vielleicht einen Köttel mit einer Nelke verwechselt? Mit einer Rosine? Und ihn gegessen? Oder Blake damit gefüttert? Schlagartig wurde die Mäusebekämpfung zu einer ausgesprochen dringlichen Angelegenheit.
»Ah, hier«, sagte er und deutete auf den Boden hinter dem Kühlschrank. »Da liegen welche. Das war vorherzusehen. Da vergessen die Leute meist zu putzen. Um sie loszuwerden, muss man darauf achten, nirgendwo Krümel liegenzulassen. Das ist die halbe Miete. Denn darauf haben sie es abgesehen. Sie benutzen das Haus als Futterstätte.«
Er ging in die Knie, um die Leisten abzunehmen, hinter denen unberücksichtigte, düstere Regionen zum Vorschein kamen, und platzierte transparente sechseckige Behälter mit einer hellblauen Substanz in dem dunklen Raum. Gift. Auch im Badezimmer und hinter dem Kühlschrank stellte er welche auf. »Das wirkt nach und nach. Tötet sie nicht sofort. Sie fressen es und ziehen sich dann an einen anderen Ort zum Sterben zurück, hoffentlich nach draußen.«
»Und was, wenn sie es nicht bis nach draußen schaffen?«
»Oh, dann riechen Sie es irgendwann.«
»Und dann?«
Der Rentokil-Mann sah sie an, eindeutig verwirrt angesichts der offensichtlichen Antwort. »Sie kehren sie einfach auf ein Blech und werfen sie draußen in den Müll.«
»Ähm, ich glaube nicht, dass ich das kann.«
Auf Melissas Gesicht zeichnete sich Furcht ab, was ihm nicht entging. Er lächelte leicht. Der Anblick einer furchtsamen Frau. War das der Grund gewesen, warum er sich für den Berufszweig der Mäusebekämpfung entschieden hatte? Um regelmäßig verängstigte Frauen zu sehen? Wäre er andernfalls Frauenschänder geworden? Sie war sich der verqueren Logik ihres Gedankengangs bewusst.
Er richtete sich auf, lenkte die Aufmerksamkeit auf seine knackenden Knie und setzte sich an den Tisch, mit einem Drucker im Miniaturformat und einem Handfunkgerät, über das er mit der übrigen Mäusebekämpfer-Welt in Verbindung stand. »Ich bin hier fast fertig«, sprach er hinein. »Bin etwa in einer Dreiviertelstunde da. Ende der Durchsage.« Er konzentrierte sich darauf, den Bericht für sie zu erstellen. Um etwas Small Talk bemüht – tatsächlich fühlte sie sich von der Belanglosigkeit, der peinigenden Alltäglichkeit dieses Moments überwältigt (so ein großer Mann für so eine kleine Arbeit) –, merkte sie an, wie niedlich klein sein Drucker sei. Keine besonders originelle Bemerkung, wie sich herausstellte.
»Wenn ich jedes Mal ein Pfund bekäme, wenn ein Kunde einen Kommentar über diesen Drucker macht oder sagt, dass er sich auch so einen kaufen will, wäre ich ein reicher Mann«, sagte er. »Ja, er ist wirklich sehr praktisch. Passt in jede Tasche. Ich weiß noch, als ich immer meine ganzen Notizen mit ins Büro schleppen und die Berichte dort ausdrucken musste. Das hat ewig gedauert. Jetzt drucke ich einfach und gehe. Ohne das Teil wäre ich aufgeschmissen.«
Melissa nickte dümmlich. Als er ihr den Bericht überreichte, fragte sie ihn, ob er wisse, wie viele Mäuse im Haus seien. Etwa vier, meinte er. »Meist kommen sie in Paaren, als wären sie verheiratet. Das wirkliche Problem beginnt, wenn sie anfangen, sich fortzupflanzen. Das steigert die Aktivität merklich.« Ob sie bis in den ersten Stock gelangen könnten? »O ja, sie können die Treppen hochklettern.« Vor ihrem geistigen Auge erschien das Bild von Mäuse-Ehepaaren, die sich nicht nur unter der Badewanne tummelten, sondern auch die Stufen hochsprangen und sich in dunkle Schlafzimmer schlichen, in den warmen Höhlen stiller Schuhe nisteten und selbstvergessen ihre Notdurft verrichteten. Der gelbe Satz war tot. Sie schenkte dem Mann ihre ganze Aufmerksamkeit, während er sie anwies, das Haus so sauber wie möglich zu halten, das Gift alle drei Tage auf Anzeichen von Verzehr zu überprüfen und alle Löcher nach draußen mit Stahlwolle zuzustopfen.
»Könnten Sie noch kurz oben nachsehen?«, fragte sie, als er in den Flur hinaustrat.
Er bejahte. Für die Schlafzimmer gab er Entwarnung, aber was den Dachboden anging, meinte er: »Da oben kommt es mir ein bisschen verdächtig vor. Holzspäne. Könnte etwas Größeres als eine Maus sein. Vielleicht Eichhörnchen.«
»Ist das gut? Ich glaube, ein Eichhörnchen wäre mir lieber als eine Maus.«
Doch er schüttelte den Kopf. »Da liegen Sie leider daneben. Eichhörnchen sind wie Ratten. Sie haben bloß ein besseres Image. Die fressen sich durch den Putz durch. Sie zerfetzen die Teppiche. Sie können durch Holz gelangen. Sie tun alles, um an das zu kommen, was sie wollen, während eine Maus einfach das frisst, was da ist. Wie dem auch sei, halten Sie die Augen offen.«
Er öffnete die Haustür, worauf sich ein Rechteck aus klarem Tageslicht enthüllte. In zwei Wochen würde er zurückkommen, um nach Kadavern zu schauen.
Fünf Minuten später schraubte sich Blakes anschwellender Schrei durch die Luft. Sie ging mit ihm Ria von der Schule abholen und verbrachte den restlichen Nachmittag in der wahnwitzigen Welt des Hausfrauendaseins, was den Versuch beinhaltete, mit dem Baby auf dem Arm Kochbananen zu braten und sich gleichzeitig beim Überwachen von Rias Hausaufgaben in Geduld zu üben; danach kehrte sie Reiskörner und ein paar feuchte Salatblätter vom Boden auf, stellte fest, dass das Spülmittel leer war, und wies Michael per SMS (keine Spur von Desdemona) an, neues zu kaufen, wimmelte am Telefon eine Marktforschungsfirma ab, die sich erkundigte, ob sie mit ihrem Home-Breitband-Internet-Paket zufrieden sei, und zwar genau in dem Moment, als Blake sich mit einem Löffelstiel ins Gesicht schlug und laut aufheulte, woraufhin sie ins Badezimmer lief, um zu schreien. Als Michael um 18.37 Uhr nach Hause kam, verwünschte sie ihn innerlich, ihre Lippen kräuselten sich, formten lautlose Wörter. So fand Michael sie vor – am Spülbecken in ihren Hausklamotten. Verschwunden war die Prada-Bluse, ihr Haar zerrauft, sie drehte sich nicht einmal ein winziges Stückchen in seine Richtung, und es machte ihn traurig. Im Digitalradio lief auf Classic FM Pietro Locatellis Violinsonate in D-Dur, die Art Musik, über die Melissa zu Palast-Zeiten die Nase gerümpft, sie als ermüdend und missmutig bezeichnet hätte, die sie jetzt aber als musikalische Untermalung für die Mahlzeiten der Kinder befürwortete, sie für beruhigender, didaktischer, lehrreicher und kultivierter hielt als Busta Rhymes, Nelly oder R. Kelly, was ein weiterer Beweis für den Verfall ihrer Persönlichkeit war, für das schwindende Bewusstsein ihrer Identität, Vorlieben und Abneigungen.
»Hallo«, sagte er im Anschluss an Rias und Blakes täglichen Jubelgesang, den sie bei der Rückkehr ihres Daddys anstimmten. »Dad-dy! Dad-dy! Dad-dy!«, sang Ria und führte einen Stuhltanz auf, während Blake mit den Armen in die Luft hieb und in ihren Gesang einzufallen versuchte. Sie waren jeden Tag aufs Neue außer sich vor Freude, ihn zu sehen. Ria lief in seine Arme, und er wirbelte sie auf Mann-kehrt-von-der-Arbeit-heim-Art herum, woraufhin Blake auch herumgewirbelt werden wollte, also hob er ihn aus seinem Hochstuhl, was die Gefahr erhöhte, dass er sich übergab, und schwang ihn ebenfalls herum. Die drei berauschten sich so aneinander, dass sein an Melissa gerichtetes »Hallo« satt und glorreich tönte, erfüllt von schallender Glückseligkeit und Wohlbefinden. Sie rang sich im Gegenzug ein gedämpftes, monotones »Hi« ab.
Michael hatte sich bereits dagegen gewappnet. Während er von Cobb’s Corner zurückgelaufen war, hatte er versucht, ihre Stimmung anhand der über den Tag verteilten Nachrichten vorauszuahnen – die kusslose Spülmittel-SMS war heute die einzige geblieben. Außerdem war der Himmel grau, ein weiterer zu berücksichtigender Faktor. Es sah nicht gut aus. Er hatte sich dreimal beruhigend auf die Brust geklopft, als er in die Paradise Row eingebogen war. Nicht wütend werden. Positiv denken. Verständnis zeigen.
»Wie war dein Tag?«, fragte er.
»Oh, voller Freude und heller, leuchtender Farben.«
Er wusste nicht, was er darauf erwidern sollte, und holte zur Beruhigung sein Handy hervor. Ihr kühler, vor Sarkasmus triefender Ton jagte ihm Angst ein, als wäre sie jemand anders, eine andere Frau mit Melissas Maske, eine Hochstaplerin.
»Wie war dein Tag?«, fragte die Hochstaplerin.
»In Ordnung«, sagte er, was sie erzürnte. »In Ordnung« bedeutete gar nichts. »In Ordnung« war seine Standardantwort auf alle möglichen Fragen, ohne sie zu beantworten, in diesem Fall eine Frage, an deren Antwort sie ohnehin nicht interessiert war. Sie wollte nicht mit ihm reden. Sie wollte mit niemandem reden, doch dann wagte er es nachzuhaken – um Anteilnahme zu bekunden, Verständnis zu zeigen –, ob sie heute zum Arbeiten gekommen sei.
»Arbeiten? Arbeiten? Ich? Ha!«, brüllte sie, wie Bette Davis in Die Nacht des Leguan, warf den Kopf in den Nacken und funkelte ihn in seinem dünnen Anzug zornig an. Sie hasste es, wenn er Anzüge trug. Anzüge standen ihm nicht. Er sah darin quadratisch aus.
»Nein, ich bin heute nicht zum Arbeiten gekommen«, blaffte sie. »Blake wollte nicht einschlafen, und dann kam der Rentokil-Mann. Er hat gesagt, die Mäuse könnten nach oben krabbeln und dort heiraten. Er hat gesagt, auf dem Dachboden wären vielleicht Eichhörnchen, und Eichhörnchen sind wie Ratten, haben aber ein besseres Image. Musstest du dir heute irgendwann über solche Dinge Gedanken machen, hm? Und wusstest du schon«, sagte sie, die Hand auf den Rand des Spülbeckens gestützt, sodass ihr Ellenbogen hervorstand, in der anderen Hand ein Messer, »dass eine durchschnittliche Maus pro Tag achtzigmal Kot absondert?«
»Wie bitte?«, sagte Michael.
»Ja. Ganz recht. Und manchmal sogar mehr. Und sie pinkeln, sie pinkeln ununterbrochen, auf Schritt und Tritt.«
Michael hockte sich auf den Rand des Sofas und formte die Lippen zu einem lautlosen »Scheiße«, damit die Kinder es nicht hörten. Mäusepisse, überall um sie herum. Was für eine widerwärtige Vorstellung. Er musste einen Blick auf sein Handy werfen. Er sah verstohlen darauf, und Melissa erwischte ihn dabei. Dann blickte er bewusst darauf, konzentriert, als stünde er am Rand eines Beckens und bereitete sich darauf vor, geschmeidig hineinzutauchen, er würde hineinspringen, das Wasser der Technologie würde ihn umhüllen, er würde in die glimmende Gemütsruhe seines iPhones hinabsinken …
»Er hat Gift ausgelegt«, sagte sie. »Es kann sein, dass sie im Haus sterben, und dann müssen wir – du – sie aufkehren und draußen in den Müll schmeißen. Irgendetwas stimmt nicht mit diesem Haus, weißt du? Es ist irgendwie unheimlich. Als ich Blake heute gewickelt habe – hörst du mir überhaupt zu?«
»Ja.« Er blickte wieder zu ihr auf, wie ein in Reihe angetretener Soldat zu seinem Oberst.
»Du bist noch keine fünf Minuten zu Hause und starrst schon wieder auf dein Handy. Kannst du nicht einfach mal richtig hier sein, wenn du endlich zu Hause bist? Kannst du nicht einfach anwesend sein?«
»Ich bin anwesend.«
Melissa glaubte, dass Michael, wenn er auf sein Handy sah, im Prinzip nur dasaß und nichts tat, aber das stimmte nicht. Wenn er »auf sein Handy starrte«, wie sie es nannte, starrte er nicht bloß auf sein Handy. Er suchte nach interessanten Stellenangeboten, auf die er sich bewerben könnte. Er überprüfte den Posteingang auf wichtige Nachrichten, hielt sich über das Weltgeschehen auf dem Laufenden, sah nach, was es Neues von Barack Obama und Lewis Hamilton gab, informierte sich über die Preise für Häuser in Gegenden mit niedrigerer Verbrechensrate, in die sie ziehen könnten, kaufte Musik, besorgte sich ein Rezept für panierte Chickenburger, und gerade hatte er, was seiner Ansicht nach ausgesprochen nützlich und erforderlich war, nach todsicheren Tipps gegoogelt, um Mäuse loszuwerden. Alles, das Leben, befand sich in seinem Handy, eine ganze Welt an Informationen und Aktivitäten. Sie war wirklich von gestern. Sie war aus der Steinzeit.
Trotzdem hatte er die Hoffnung auf einen friedlichen Abend noch nicht ganz aufgegeben, schob das Handy zurück in seine Tasche und ging auf sie zu, damit sie sah, dass er tatsächlich anwesend war, voll und ganz. Sie hielt Blake auf der Hüfte und küsste ihn mit ihren verkniffenen Lippen, die sich für die Dauer des Kusses entspannten – Blake, der blitzschnelle Stimmungswandler, ein kleiner Zauberkünstler, seine bloße Existenz ein Zauberstab. »Er hat gesagt, wir müssten alle Löcher nach draußen mit Stahlwolle zustopfen, weil sie das Haus als Futterstätte nutzen. Deshalb müssen wir Stahlwolle kaufen. Das ist Wolle aus Stahl.«
»In Ordnung. Geht es dir gut?«
»Ja, alles bestens.«
»In Ordnung.«
Michael hatte Hunger. Ihm knurrte der Magen. Er öffnete einen Küchenschrank auf der Suche nach etwas Essbarem. Er fand ein paar Kräcker und Apfel-Reiswaffeln. Auf dem Herd kochte ein Topf mit Reis, anscheinend ohne Beilagen, nicht dass er erwartet hätte, sie habe Abendessen gekocht, um Himmels willen, nein. Er öffnete den Kühlschrank. Ein Karton Eier (Michael mochte keine Eier), kleine Tupperboxen mit irgendetwas Püriertem darin, ein paar Soßen und derartige Dinge sowie ein fingerhutgroßer Frischkäse.
»Hier ist echt gar nichts zu essen, Mann«, sagte er.
Melissa kochte vor Wut. Ihr innerer männerhassender Patriarchatsverächter kombinierte, dass er ihr gerade vorgeworfen hatte, während ihres Nicht-Arbeitstags die Vorräte nicht angemessen aufgestockt zu haben.
»Was?«, sagte sie.
»Was?«, sagte er, weil er mehr zu sich selbst gesprochen hatte, es war mehr ein Ausruf gewesen, mit dem er dem Mangel an Knabberzeug Ausdruck verliehen hatte, über das er sich gern hermachte, wenn er heißhungrig von der Arbeit nach Hause kam. Aber sie hatte es anders aufgefasst.
»Beschwerst du dich etwa«, zischte sie zu ihm herunter beziehungsweise zu ihm herauf, denn sie war deutlich kleiner als er, doch es fühlte sich an, als käme es von oben, »dass ich dir kein Abendessen gekocht habe?«
»Nein«, sagte er.
»Es klang aber ganz danach.«
»Ich habe mich nicht beschwert. Ich habe …«
»Erwartest du allen Ernstes von mir, dass bei deiner Rückkehr das Abendessen auf dem Tisch steht?«
»Nein.«
»Glaubst du, ich verbringe den Tag damit, für deinen leeren Magen vorzusorgen?«
»Nein.«
»Glaubst du, ich habe nichts Besseres mit meiner Zeit anzufangen, als mich um deine Kinder zu kümmern?«
»Es sind unsere Kinder.«
»Ja. Unsere Kinder«, sagte sie und drückte ihm unsanft Blake in den Arm. »Die Kinder, die wir gemeinsam gemacht haben, falls du dich erinnerst? Und um die wir uns gemeinsam kümmern sollten. Nur tun wir das nicht. Ich werde jetzt schwimmen gehen, und du bleibst hier und kümmerst dich um unsere Kinder. Blake muss gebadet werden. Vergiss nicht, Ria vor dem Schlafengehen noch die Haargummis rauszunehmen. Und horch nach dem Reis, er müsste bald fertig sein. Ich bin jetzt weg.« Sie verließ die Küche, kehrte aber unmittelbar darauf zurück, weil sie bemerkt hatte, dass sie noch das Küchentuch in der Hand hielt. »Wenn du nicht willst, dass ich mich wie eine Hausfrau benehme«, setzte sie nach, »dann behandle mich auch nicht wie eine.«
Sie klatschte das Küchentuch neben das Spülbecken und war verschwunden. Michael blieb in der Küche zurück, während Blake versuchte, ihm die Brille von der Nase zu ziehen; er fühlte sich ernüchtert, unverstanden und fragte sich, was sie mit »nach dem Reis horchen« gemeint hatte. Er traute sich nicht nachzufragen, während sie davonrauschte, und als sie weg war, vergaß er den Reis bald vollkommen, nachdem er eine Weile den Kochtopf fixiert, sich sogar ein Stück vorgebeugt und das Ohr daran gehalten hatte, worauf er ein feuchtes Blubbern hörte. Erst als er einen verbrannten Geruch wahrnahm, fiel ihm der Reis wieder ein. Er rannte zum Topf, panisch, um seine Zukunft bangend. Melissa kehrte erfrischt vom Rückenschwimmen zurück, vom kraftvollen Abstoßen vom Beckenrand, vom Kreisen ihrer Arme und von dem Blick in den Nachthimmel durch die Lücken der Lamellendecke der Schwimmhalle, was schlagartig in den Hintergrund geriet, als sie seines neuerlichen Versagens gewahr wurde. »Nach dem Reis horchen«, so lernte Michael an diesem Abend, bedeutet, aufmerksam zu lauschen, wann aus dem feuchten Blubbern ein trockenes Ploppen wird, und wenn es so weit ist, muss man die Kochplatte ausschalten und den Deckel auf den Topf legen. Das ermöglicht der heißen Luft, »den unverzichtbaren Prozess des Weichquellens im Reishaus zu vollenden« (das waren ihre Worte).