Für den Fall, dass Bell Greens Einwohner noch nicht bemerkt oder angemessen gewürdigt hatten, welche Vielfalt an Nationalitäten und Kulturen in ihrer Nachbarschaft lebten (die Einwanderer aus Afrika und den Karibikstaaten, aus Osteuropa, Indien, dem Iran, der Türkei, Nigeria, Jamaika, China, Griechenland etc.), veranstaltete Rias Schule jedes Jahr im Dezember einen Kulturabend, um das bunte und bereichernde Zusammentreffen jener unterschiedlichen Nationen zu feiern. Kinder führten in traditioneller Tracht Volkslieder und -tänze auf. Hohe Stimmen verlasen Gedichte, die das Positive und die Harmonie der Vielfalt ergründeten. Es wurden Sketche geboten, Gospelgesang, Blockflötenkonzerte und karnevalistische Choreographien, eine Modenschau, bei der Erwachsene und Kinder in der beengten Aula über den improvisierten Holzlaufsteg stolzierten und ihre Stoffe aus fernen Landen präsentierten: ihre Wickelröcke, ihre Saris, ihre Kopftücher und Dashikis. Im Saal nebenan gab es eine Fülle an internationalen Speisen, von den Eltern gestiftet, ein aromatisches Zusammentreffen von Fufu und Samosas, von Moi Moi und Egusi-Eintopf mit Tabbouleh und Baklava. Außerdem konnte man sich während der Feier an einem der Stände die Haare flechten, die Hände mit Henna färben oder das Gesicht schminken lassen oder sich in tamilischer Kalligraphie oder polnischen Scherenschnitten versuchen. In diesem Jahr war der Gastauftritt eines ehemaligen Schülers namens Justin angekündigt, der im Musikunterricht geglänzt hatte und für sie singen würde.
Michael hatte versprochen, Ria zu der Aufführung zu begleiten. Sie wusste jetzt schon, dass dieser Abend zu einer ihrer schönsten Erinnerungen werden würde – wie sie mit ihrem großen Vater durch die frühwinterliche Dunkelheit spazieren würde, die Straße hoch, oben rechts, an der Kirche links und dann wieder links. Blake würde schon schlafen, sie aber nicht, weil sie die Ältere war, reifer, und sie würden die Rampe hochgehen und in die volle, lebhafte Aula hinein, wo sie ihre Schulfreundinnen treffen würde, die auch noch so spät aufbleiben durften, Shanita, Shaquira und Emily. Sie würden sich die Aufführung ansehen und danach in den anderen Saal gehen, um Chips zu essen, Doppelkekse, Haribo, Chupa Chups und andere Sachen, die um diese Uhrzeit normalerweise verboten waren, sie würden die Stände abklappern und ausgelassen herumtollen. Michael würde sie zeitweise aus den Augen verlieren, während sie sich vergnügte, und sie dann in einer Ecke entdecken, wo sie angeregt mit Shaquira plauderte, oder auf dem Flur, wo sie mit Emily um Jelly Beans feilschte. Sie würden Michael in ihr Spiel einbeziehen und sich von ihm auf den Schaukeln anschubsen lassen. Er war der Spaß-Daddy, einer dieser umgänglichen Erwachsenen, die verstanden, wie wichtig Spielen war, und sich darauf fast ebenso gut verstanden wie sie selbst. Ria machte nicht bei der Aufführung mit. Sie wollte lieber zusehen, den Hals recken und versuchen, den besten Blick auf die Bühne zu erhaschen. Am Ende des Abends würde sie mit Michael durch die noch tiefere Dunkelheit nach Hause laufen, der Mond am Himmel, hin und wieder Straßenlaternen, die stillen Straßen, und sie würde, ohne zu protestieren, in den Schlaf gleiten, auf einer langen glatten Rutsche aus purem Glück.
Die Vorbereitungen für die Veranstaltung liefen über mehrere Wochen, während deren die Kinder auf ihren Sportunterricht verzichten mussten. Stattdessen übten sie ihre Lieder, probten ihre Tanzschritte, und falls sie nicht selbst auftraten, gestalteten sie das Bühnenbild oder malten die Länderfahnen, die unter der Decke an Schnüren aufgehängt werden sollten. Die Eltern schneiderten zu Hause die Kostüme. Sie kramten Wickelröcke hervor, und falls sie keinen Wickelrock hatten, säumten sie ein Stück Stoff, um daraus einen zu machen, und falls sie kein Stück Stoff hatten, fuhren sie nach Brixton oder Peckham. Die aus Afrika eingewanderten Frauen überlegten, welche Kopftücher sie tragen würden und wie sie sie tragen würden, wie viel Haar herausschauen und wie man sie am besten knoten sollte, wie weit das Ohr bedeckt werden sollte – zur Hälfte, vollständig oder gar nicht, je nachdem, wie sensibel die Ohrknorpel waren und ob man eine Brille trug oder nicht. Sie erzählten ihren nicht eingewanderten Kindern, die nie »in der Heimat« gewesen waren, dass sie sie eines Tages dorthin mitnehmen würden, damit sie ihr wahres Land kennenlernen konnten, das Land, aus dem sie in Wahrheit stammten, und für den Fall, dass ihre Kinder unartig waren oder mit Straßengangs liebäugelten, verwiesen sie auf die wirksamen Erziehungsmethoden jenes Landes und pochten darauf, dass die altehrwürdige Tradition, älteren Menschen und Autoritäten Respekt zu zollen, ein unbestreitbarer und unumstößlicher Teil des Lebens sei, und ihre Ankündigung, sie mit in die Heimat zu nehmen, bekam einen drohenden Unterton. Die Einwanderer aus dem Mittelmeerraum kramten währenddessen ihre historischen Röcke hervor, und jene vom indischen Subkontinent konfektionierten kleine Tuniken und Saris, damit sie ihre Sprösslinge darin auf der Bühne herumwirbeln sehen konnten, während sie alle gemeinsam die wundervolle Vielfalt der ansonsten beigefarbenen britischen Nation zelebrierten, was in ihrem Alltag selten genug passierte.
Ria besaß eine Kombination aus einem Wickelrock und einem dazu passenden Oberteil, die Melissa letztes Jahr zu einer nigerianischen Hochzeit für sie genäht hatte. Doch sie würde diese Kombination nicht tragen, weil sie nicht bei der Modenschau mitmachte, und als Zuschauer musste man keine traditionellen Gewänder tragen, sondern konnte anziehen, was man wollte. Sie würde ihre neue Primark-Jeans anziehen, das Moshi-Monster-Oberteil, das sie von ihrer Großmutter väterlicherseits geschenkt bekommen hatte, ihre schwarz-rosa Turnschuhe und ihre weiße Daunenjacke. Ihre Haare wollte sie offen und buschig tragen, mit einem Haarband darin.
Melissa und Michael hatten ebenfalls vor, ihre Kinder eines Tages »in die Heimat« mitzunehmen, sowohl nach Nigeria als auch nach Jamaika, aber beide Reisen waren teuer und kompliziert (mehrere Impfungen, hohe Flugkosten während der Schulferien, ein Besuch bei der Vertretung von Nigeria auf der Northumberland Avenue, wo man in einem überhitzten, überfüllten Untergeschoss vermutlich mehrere Stunden warten musste, mit einer Menge verärgerter Nigerianer, nur um am Schalter schließlich gesagt zu bekommen, man solle in der darauffolgenden Woche wiederkommen), deshalb würden sie warten, bis Blake zumindest alt genug war, um zu verstehen, wo er sich befand und was es bedeutete, in dem jeweiligen Land zu sein, damit sie ein angemessenes Herkunftsbewusstsein für all das Geld bekämen. Melissa versuchte sich gelegentlich darin, Eintopf mit Eba zu kochen – den aß Ria bei ihrer Mutter immer so gern, und Alice war erpicht darauf, dass ihre Enkel nigerianische Kost bekamen –, doch wenn Melissa ihn selbst zubereitete, schmeckte er nicht so gut. Sie bekam beim Eba nie die richtige Konsistenz hin, und der Eintopf war nicht so schmackhaft; es war ein mühseliges Unterfangen, die Yamswurzel zu besorgen, zu schälen und zu kochen, sie mit dem Gari zu vermischen und beides mit dem Mörser zu zerkleinern, und wozu das Ganze? Für einen dürftigen Zweitgenerationenabklatsch. Die seltenen Gelegenheiten, wenn Melissa Eintopf mit Eba zubereitete, waren daher ebendas: selten. Lieber fuhr sie mit den Kindern zu ihrer Mutter, damit sie in den Genuss des Originals kamen. Für Ria war das ohnehin alles nicht von Bedeutung. Menschen waren nicht schwarz oder weiß. Sie waren braun, beige oder rosa.
Als sie eines Nachmittags von der Schule nach Hause gingen – Ria hatte an jenem Tag die jamaikanische Flagge gemalt –, sagte sie: »Mama, ich habe drei Länder im Blut: Nigeria, Jamaika und England.«
»Ja, das stimmt«, sagte Melissa.
»Ich bin halb englisch, ein Viertel jamaikanisch und ein Viertel nigerianisch.«
»Nein, du bist ein Viertel nigerianisch, ein Viertel englisch und halb jamaikanisch.«
»Warum?«
»Weil ich halb Nigerianerin und halb Engländerin bin, und dein Daddy ist ganz Jamaikaner.«
»Aber ich will auch ganz Jamaikanerin sein«, sagte Ria. »Ich will von allem etwas sein.«
»Du kannst nicht von allem etwas sein und gleichzeitig eines ganz allein. Du kannst entweder nur eine Sache sein oder eine Mischung aus mehreren. Davon abgesehen bist du auch Britin.«
»Dann bin ich also vier Sachen?«
»Nein. Du bist britische Staatsbürgerin. Du hast in Großbritannien das Licht der Welt erblickt und bist dort aufgewachsen.«
»Was?«
»Wie bitte, nicht was.«
»Wie bitte?«
»Was?«
»In was für ein Licht habe ich geblickt?«
»Du hast das Licht der Welt erblickt. Das bedeutet, du wurdest geboren.«
»Oh. Ach so.« Damit hüpfte sie voraus und wartete an der Ecke gegenüber der Kirche, bis Melissa mit dem Kinderwagen hinterherkam, und sprang dann effektvoll hervor, landete mit wedelnden Armen und aufgerissenem Mund vor Blake und brachte ihn zum Lachen. Sein Lachen war ihr neues Steckenpferd, und sie tat alles, um es ihm zu entlocken.
Diesen Gang machten sie jeden Tag, andere Kinder hüpften in der Nähe herum, mit ihren überwiegend weiblichen Nachmittagsbetreuern. Sie sahen immer dieselben Leute: die kleine, sehr weiße junge Frau aus der Wohnsiedlung mit dem großen Kopf und harten Gesicht, den gemächlichen Mann im Trainingsanzug, der wie eine Katze lief, die Leoparden-Print-Frau in ihren Leoparden-Print-Leggings und mit ihrem geglätteten burgunderroten Haar, das hinten von einer passenden Haarspange zusammengehalten wurde. Beim Gehen unterhielten sie sich über Gott und die Welt, manchmal balancierte Ria nur die Kapuze ihres Mantels auf dem Kopf, während die Ärmel ungenutzt herunterhingen. Sie sprachen über Insekten.
»Ameisen können unter jeder Tür durchkriechen«, sagte Ria.
»Das stimmt«, antwortete Melissa.
»Fliegen nicht. Die sind zu groß. Was wäre, wenn ganz viele Fliegen auf mir rumkrabbeln wollen? Ich mag es, wenn Fliegen auf mir rumkrabbeln.«
»Wirklich? Ich nicht.«
»Ich schon. Was wäre, wenn die Fliegen Schlange stehen würden, um auf mir rumzukrabbeln?« Sie lachte. »Aber nicht überall auf mir drauf. Ich möchte nicht überall auf mir Fliegen rumkrabbeln haben, schon gar nicht, wenn es heiß ist. Mama, warum mögen Fliegen Mülleimer?«
Sie sprachen über die englische Königin.
»Meine Freundin Aaliyah hat gesagt, sie war im Buckingham Palace und hat die Königin getroffen, und sie ist einen Monat dageblieben. Sie musste ihre Füße waschen.«
»Wessen Füße?«
»Die von der Königin, und sie musste ihr auch die Füße kratzen und den Abwasch machen und ihr Abendessen kochen. Sie musste ganz viele Dinge machen, ich weiß nicht mehr, was alles. Ich glaube, ich sollte lernen, wie man kocht.«
Sie sprachen über Geister:
»Mama, möchtest du friedlich sterben oder nicht friedlich?«
»Ich möchte ganz klar friedlich sterben.«
»Ich nicht.«
»Aber warum denn nicht?«
»Weil ich dann nicht als Geist zurückkommen kann. Geist sein ist bestimmt lustig. Man kann die ganze Nacht wach bleiben.«
… und über die Gefahren von Coca-Cola.
»Wenn du Cola trinkst, schrumpfen deine Zähne. Wenn du jeden Tag welche trinkst, werden deine Zähne nach zwei oder drei Tagen immer kleiner, und dann fallen sie einfach aus. Das hat mir meine Freundin erzählt.«
Von der Straßenecke gegenüber der Kirche sahen sie hinter den Dächern, Baumwipfeln und Telefonleitungen den Funkturm im Crystal Palace Park in der Ferne. Und dann sprachen sie auch über den Kristallpalast.
»Weißt du, dass es im Crystal Palace Park früher einen riesengroßen Palast gab, ganz aus Glas, aber dann ist ein Feuer ausgebrochen, und er ist abgebrannt?«
»Ja«, sagte Melissa. »Das war 1936.«
»Woher weißt du das?«
»Ich habe es in dem Buch gelesen, das wir in der Bücherei ausgeliehen haben.« Ria hatte vor kurzem an einem Schulprojekt dazu gearbeitet. »Kennst du auch die Geschichte von dem Zug?«
»Von welchem Zug?«
»Der in dem Tunnel stecken geblieben ist, mitsamt den Fahrgästen?«
»Was? Sind sie alle gestorben?«
»Vermutlich. Wenn die Geschichte stimmt.«
»Das heißt, es muss dort Geister geben. Gehen wir bald zum Crystal Palace Park, um nachzugucken?«
»Einverstanden.«
Ria hatte Melissas Umtriebigkeit geerbt. Sie waren Abenteurerinnen, Entdeckerinnen. Es war nicht nur so dahingesagt. Sie würden zum Park gehen und nachgucken.
»Wann?«, fragte sie.
»Bald. Ich glaube, man kann durch den Wald bis zum Eingang des Tunnels gehen. Er ist allerdings verschlossen, wir können also nicht reingehen, sondern uns nur umsehen.«
»Okay.«
Zu beiden Seiten standen Häuser, Reihenhäuser aus rotem Backstein mit ihren Hexenhutdächern. Gärten, Kiesauffahrten, Weißbirken – die Wohnsiedlung. Dort bogen sie links ab und gingen die Paradise Row hinunter, folgten der Biegung, überquerten die Straße zu ihrer Reihe viktorianischer Häuser, das Haus Nummer dreizehn auf halber Höhe, am Ende der Straße die Hauptstraße, wo das verrückte Sirenengeheul die Luft zerriss. Die Sirenen waren immer gegenwärtig, ihr endloses, Unheil verkündendes Geheul. So wie Stephanie wollte auch Melissa nicht, dass Ria und Blake mit diesem Geräusch aufwuchsen und infolgedessen eine Härte entwickelten, um dagegen immun zu werden. Sie wünschte sich, ihre Kinder könnten an einem ruhigeren Ort aufwachsen, einem grüneren Ort, an dem die Notfalldienste nicht rund um die Uhr im Einsatz waren; sie sollten eine innere Ruhe verspüren und sich ihre Reinheit bewahren können. Ihr war bewusst, dass sie mit der Wahl der Wohngegend – wohin sie Ria zur Schule brachte, wo sie mit Blake in den Park ging, die umliegenden Geschäfte, die Dinge, an denen sie unterwegs vorbeikamen – bestimmte, woraus sich ihre Kindheit zusammensetzte, und damit ihren Erinnerungsspeicher schuf. Würde sich Ria an die Sirenen erinnern? Würde sie sich an den Tag erinnern, an dem sie von der Schule nach Hause gelaufen waren und die Straße gegenüber der Kirche mit weißen Bändern abgesperrt gewesen war?
An jenem Tag hatte Melissa Ria wie üblich um 15.30 Uhr abgeholt. Sie gingen zum Sekretariat, um dort ein Antwortformular abzugeben, und dann durch das Schultor nach draußen. Sie überquerten die Straße, bogen rechts ab, gingen um die Kurve, spielten Ich sehe was, was du nicht siehst, doch bei der Kirche angelangt, kamen sie nicht weiter. Ein weißes Absperrband versperrte ihnen den Weg. Ein zweites flatterte ein Stück weiter im Wind, und innerhalb der beiden Absperrbänder standen ein Polizeiwagen und mehrere Polizisten. Eine Gruppe Schaulustiger hatte sich vor der Kirche versammelt. Es war nicht schwer zu erraten, was passiert war. Es hatte eine Schießerei gegeben, direkt oben an der Paradise Row, um 15.35 Uhr, während die Kinder von der Schule nach Hause gingen.
Als ersten Schritt zur Gleichberechtigung brachte sie Blake jetzt zwei Tage pro Woche zu einer Tagesmutter, der Tante von Rias Freundin Shanita. Sie war eine dröhnende, dralle Jamaikanerin mit roten Extensions. »Hallo, süßer Kerl!«, rief sie an der Haustür und riss ihn Melissa aus den Armen. Blake gefiel es nicht, dort zurückgelassen zu werden, und er schrie ausgiebig. Beim Weggehen hörte sie ihn immer noch weinen, fühlte sich aus dem Gleichgewicht gebracht, als hätte sie etwas sehr Wichtiges am falschen Platz abgelegt. Blake hing mehr an ihr als Ria früher. Melissa hatte das Gefühl, die natürliche Ordnung der Dinge durcheinanderzubringen, indem sie ihn dort abgab, sich einer Möglichkeit zu berauben, einer neuen Ausrichtung. Sie blickte zurück zum Haus und bedauerte, dass sie nicht erfahren würde, aus welchem Stoff sein heutiger Tag gestrickt sein würde – aus welchem Gewebe das Taschentuch bestand, mit dem ihm die Nase geputzt wurde, und zu welchem Flechtwerk sein junger Verstand die neuen Eindrücke zusammensetzen würde.
Michael hatte gesagt: »Ihm wird es dort gut gehen. Er gewöhnt sich schon ein.«
»Woher willst du das wissen?«
»Das wird er. Das muss er.«
In der zweiten Woche weinte er weniger und setzte ein tapferes Gesicht auf, wenn die Tür geschlossen wurde. Trotzdem konnte Melissa es kaum erwarten, zu ihm zu eilen, sobald der Tag vorüber war, und ihn zurückzufordern.
»Wie hältst du das nur aus«, fragte sie Michael, »so lange ohne ihn zu sein? Du siehst ihn morgens eine Minute und abends zwei. Setzt dir das nicht zu? Fühlst du dich nicht schlecht deswegen? Ist das eine reine Frauensache?«
»Für dich ist es anders. Du bist seine Mutter.«
»Und du bist sein Vater …«
»Ich weiß, aber …«
Während seines morgendlichen Gangs zum Kreisverkehr an Cobb’s Corner und der Busfahrt mit dem 176er fiel alles von ihm ab: das Haus, das Baby, der Staub, das Abtropfgestell und die Frage, ob es voll war oder nicht. Die Welt brachte ihn auf andere Gedanken, entkoppelte ihn von der kleinen häuslichen Welt. Eine immer größere Kluft entstand zwischen ihnen aufgrund dieses Ungleichgewichts, der Stunden, die mit- und ohneeinander verbracht wurden. Es wurde zu einer weiteren, zunehmend düsteren und bedrohlichen Präsenz.
»Dein Leben hat sich nicht verändert«, sagte sie.
»Mein Leben hat sich sehr wohl verändert. Wie kannst du sagen, mein Leben hätte sich nicht verändert?«
»Inwiefern denn? Erzähl’s mir.«
Und er erzählte es ihr: von den Drinks nach Feierabend, zu denen er sich nicht mehr hinzugesellte, von den regelmäßigen Treffen, zu denen er nicht gehen konnte, von dem Stress, jeden Abend pünktlich nach Hause zu kommen, wo er dann in unfreundlichem Ton angewiesen wurde, nach dem Reis zu horchen. Er mochte diese Melissa mit dem verkniffenen Mund und den lieblosen Augen nicht. Er wollte die andere Melissa zurückhaben, die alte, echte Melissa mit dem weichen, gen Himmel gerichteten Gesicht, den sanften, verträumten Augen. Wohin war sie entschwunden?
»Also gut«, sagte er wütend, »wie wär’s, wenn du stattdessen jeden Morgen um 7.35 Uhr den 176er nimmst? Nie bist du zufrieden! Dann geh du eben arbeiten, und ich bleibe hier.«
»Ich arbeite auch«, sagte sie. »Ich brauche dein Geld nicht. Ich kann selbst Geld verdienen.«
Dieses Gespräch fand zwischen dem Wohnzimmer und dem Essbereich statt, unter dem sakralen Bogen hindurch, Melissa stand am Fuß der Treppe, Michael saß auf dem Sofa vor dem Fernseher. Danach ging Melissa nach oben, ohne ihm gute Nacht zu sagen, und Michael goss sich noch ein Glas Rotwein ein. Als er sich später im roten Raum neben sie legte, spielte er mit dem Gedanken, ihr auf gute alte Palast-Art den Arm um die Taille zu legen, doch sie war ihm gegenüber völlig verschlossen, atmete schwer auf ihrem Schiff, als hätten ihre Körper einander nie gehört. Am nächsten Morgen stand er vor ihr auf. Blake verlangte nach seiner Mutter, und er legte ihn neben sie ins Bett, auf die Stelle, die er gerade frei gemacht hatte. Er zog seinen grauen Anzug an. Bevor er aufbrach, ging er sich von Ria verabschieden. Sie war wach, lag auf dem Rücken. Er setzte sich neben sie.
»Hallo, Daddy«, sagte sie.
»Hallo.«
»Heute ist Donnerstag.«
»Ich weiß.«
»Und du weißt, was das bedeutet.«
»Ich weiß, was das bedeutet.«
»Bleibst du noch einen Moment bei mir?«
»In Ordnung. Eine Minute.«
»Eine lange Minute.«
»Ich muss jetzt zur Arbeit.«
»Aber es ist zu früh.«
»Ich gehe zu einer Frühstückssitzung.«
»Zu einer Frühstückssitzung? Was ist denn eine Frühstückssitzung? Frühstückst du da mit vielen anderen Leuten zusammen, und es gibt verschiedene Frühstücksflocken?«
»Ja, so etwas in der Art, und dabei sprechen wir über die Arbeit.«
»Oh.« Ria sann darüber nach. »Ich mag keine Frühstückssitzungen. Ich finde, du solltest zuerst zu Hause frühstücken und dann zur Arbeit gehen und dort darüber sprechen. Du bist immer auf der Arbeit, Daddy.«
Michael lachte. »Ich weiß, aber so ist das Leben.«
Es war etwas Heiliges, der Anblick dieses Kindes. Sie besaß eine Macht über ihn wie niemand sonst. Sie wusch ihn von jeder Düsternis rein, von jeder Enttäuschung oder Sehnsucht. Er strich ihr über die Wange und das volle Haar, spürte die Heiligkeit in seiner Handfläche. »Bis heute Abend«, sagte er.
Ria strahlte. Der Multikulturalismus nahte. »Heute Abend! Ich freu mich so!«
Egusi-Eintopf schmorte vor sich hin. Chapati wurde gebacken. Reis dampfte, und Kochbananen entkleideten sich. Später an dem Tag wurden die Tische im zweiten Saal zurechtgeschoben, kratzten laut über den Parkettboden. Die Nationalflaggen wurden an ihren Schnüren unterhalb der Decke des ersten Saals aufgehängt, mehrere Reihen kleiner blauer Plastikstühle wurden für das junge Publikum bereitgestellt, das Klavier im perfekten Winkel zur Bühne ausgerichtet. In ganz Bell Green wurden traditionelle Kleider gebügelt und ein letztes Mal begutachtet, und das Licht schwand früh gemäß seiner neuen Gemütsverfassung. Noch war nicht Winter, doch die Jahreszeit war auf dieser Insel ungeduldig wartender Kälte bereits auf dem Vormarsch. Verschwunden waren die grünen Kronleuchter der Birken, ihre Arme nackt über den stoischen weißen Stämmen. Bald würde es schneien. Man spürte es an der schneidenden Kälte, am reißenden Wind. Als Ria von der Schule heimkam, war es fast dunkel. Nachdem sie zu Abend gegessen und ihre nichttraditionelle Kleidung angezogen hatte, war die Dunkelheit dicht und tief. Ria löste ihr Haar. Sie entschied sich für ihr Hello-Kitty-Haarband. Dann zog sie sich die Socken an, verstaute ihre Sachen in ihrer purpurroten Filztasche und wartete ungeduldig auf Michaels Rückkehr.
Nach der Frühstückssitzung war Michael ins Büro gegangen, vorbei an der jungen Rezeptionistin mit den wunderschönen Augen, und hatte »hallo« gesagt. Jetzt grüßten sie sich immer, er sagte »hallo«, sie »hi«. Er wusste sogar, wie sie hieß, Rachel, denn eines Tages waren sie sich im Aufzug begegnet, und er hatte gesagt: »Michael«, und ihr die Hand hingestreckt, und sie hatte gesagt: »Rachel«, hatte seine Hand geschüttelt, und seither war das unangenehme Sich-aus-dem-Weg-Gehen kein Thema mehr. Er arbeitete die Mittagspause durch, damit er früher gehen und rechtzeitig zur Aufführung zu Hause sein konnte. Auf seinem Schreibtisch stand ein Foto von Ria und Blake, das er regelmäßig betrachtete und das ihm ein warmes, erfüllendes Gefühl bescherte. Um 16.45 Uhr räumte er seine Sachen zusammen und steuerte auf den Ausgang zu, und er wäre pünktlich daheim angekommen, wenn es nicht zu einer Verkettung unglücklicher Umstände gekommen wäre, wie er Melissa später an jenem Abend zu erklären versuchte. Zunächst (diesen Teil ließ er bei seiner Erklärung aus) war er im Fahrstuhl wieder auf Rachel getroffen, und sie begannen, über Cricket zu plaudern (wie sich herausstellte, hatte ihr Vater früher für die Nationalmannschaft in Neuseeland gespielt, wo sie interessanterweise bis zu ihrem zehnten Lebensjahr gewohnt hatte, bevor sie nach England zog, und Michael hatte als Jugendlicher natürlich oft Cricket gespielt, also gab es vieles, worüber sie gemeinsam schwärmen konnten: das Laufen der weiß gekleideten Spieler, den Flug des Balls, voller Möglichkeiten, den präzisen Schwung des Arms. Sie führten ihre Unterhaltung fort, als sie aus dem Aufzug stiegen und zusammen durch die Lobby liefen, wobei ihm auffiel, wie angenehm groß sie war und wie gut ihre Haare rochen, blumig, und zufälligerweise beendete auch sie gerade ihren Arbeitstag, also wartete er kurz, während sie ihre Tasche von der Insel holte, und sie gingen Seite an Seite durch die Tür, liefen sogar ein kleines Stück gemeinsam durch die Straßen, bis sich an der Charing Cross Road ihre Wege trennten, neben einer der letzten roten Telefonzellen in London. Einen Moment lang hatte er sich wie John Legend gefühlt, der mit Sonnenbrille an der Seite der verbotenen Frau durch Washington, D.C., spaziert, und es hatte ihm einen Kick versetzt, eine weitere Prise sehnsüchtigen Zweifelns in ihm ausgelöst, an welchem Punkt der Geschichte von »Get Lifted« er sich befand. Wer war sie, in ihrem Inneren, diese Rachel, die seine Cricket-Begeisterung teilte? Er betrachtete sie, während sie davonging, ihre Lederhandtasche, die an ihre Hüfte tippte, ihre prallen Beine und den etwas schwerfälligen Gang. Wie mochte sie sich anfühlen, wie ihre Berührung, in all ihrer Neuheit? Wie könnte es sein? Diese Augen, was für eine Pracht, solche Tiefe, solches Gold …
Und dann wurde die Fahrt nach Hause zur reinsten Tortur. Er hatte eine halbe Ewigkeit auf den Bus gewartet, erzählte er Melissa, stundenlang, mindestens zwanzig Minuten, in der dichter werdenden, nur von den Lichtern der Stadt erhellten Dunkelheit, aber der Bus kam einfach nicht, was ausgesprochen selten vorkam und ein Vorzeichen für den außergewöhnlichen, beinahe unwirklichen Charakter dieser speziellen Heimreise. Also blieb ihm keine andere Wahl, als die U-Bahn zu nehmen (»Wer kommt überhaupt auf die Idee, während der Rushhour einen Bus aus dem Stadtzentrum in den tiefen Süden zu nehmen?«, warf Melissa während seines Berichts ein). Er rannte – mittlerweile war es 17.40 Uhr, und die Aufführung begann um 18.30 Uhr – zum überfüllten U-Bahn-Zugang der Station Charing Cross und wappnete sich innerlich, während er aus der Sicherheit der oberen Luftschichten in die klaustrophobischen unteren hinabstieg, zu den Tunneln, den verhassten Tunneln, die durch den Untergrund schossen, sich meilenweit durch den Dreck bohrten, bevölkert von allen Arten inkontinenten Ungeziefers, anfällig für, er konnte nicht umhin, sich das vorzustellen, verheerende Einstürze und blindwütige Bombenattacken, wie die Terroranschläge vom 7. Juli 2005 bewiesen hatten, die der Auslöser für seinen entschlossenen U-Bahn-Boykott gewesen waren. Auf den Treppen herrschte Gedränge. In der Schalterhalle wimmelte es von Menschen, überall Breitbeiner, womit er die Leute bezeichnete, die eher wateten als liefen, beidseitig mit Beuteln beladen waren oder irgendeinen anderen rücksichtslos ausladenden Gang an den Tag legten. Schließlich passierte er die Ticket-Schranken und fuhr mit der Rolltreppe zum Bahnsteig der Northern Line in Fahrtrichtung Süden, nur um dort festzustellen, dass auch dieser brechend voll war; er musste zwei Bahnen vorbeifahren lassen, bis er überhaupt einsteigen konnte. Glücklicherweise war die, in der er sich befand, weniger überfüllt, zumindest gab es etwas Platz zum Atmen. Dort stand er auf seiner Fahrt nach London Bridge, hörte auf seinem iPod Jill Scott, las die Anzeigen über den Fenstern, studierte das U-Bahn-Streckennetz, betrachtete die Menschen um sich herum (war aber zu nervös für sein Wohin-sind-sie-wohl-unterwegs-Spiel), musterte den Mann mit der Gitarre und den Wildlederschuhen, einen anderen Mann mit hellgrünen Augenbrauen, der ein Stück Papier auf- und zufaltete und lautlos Wörter davon ablas. Wenn er sich auf diese Details konzentrierte, bemerkte Michael – die Wildlederschuhe, die grünen Augenbrauen –, hielt er es besser aus, dass er sich unterhalb der Straßenoberfläche befand, wobei er in erster Linie daran dachte, dass Ria zu Hause auf ihn wartete, während die Minuten verstrichen, 17.54, 17.56, 17.58 Uhr. Als hätte sie es nur darauf abgesehen, ihn in den Wahnsinn zu treiben, kam die U-Bahn um 17.59 Uhr irgendwo in der Schwärze hinter Southwark zu einem allmählichen, ärgerlichen Halt.
Dunkelheit umhüllte ihn. Vollkommene Stille. Kein Wort vom Fahrer. Seufzen, genervtes Schnalzen mit der Zunge, Fußscharren, Zähnezischen. Michael begann zu schwitzen. Die Leute rieben sich den Nacken, kratzten sich, verschränkten die Arme. Von irgendwo weiter vorn im Tunnel war ein Beben zu spüren. Von irgendwo aus der Nähe ein Ruckeln. Die Leute warfen sich Blicke zu. Wieder ein Ruckeln, noch näher, am Ende des Waggons ging eine Tür auf, und ein Mann kam herein, der einen dreckigen Mantel trug und einen üblen Geruch verströmte. Er hielt sich an den beiden Stangen vor den Sitzreihen fest, räusperte sich und hielt folgende Ansprache: »Hört mir eine Minute zu«, sagte er. »Ich bin kein Alkoholiker oder Fixer oder so was. Ich bin arbeitslos, muss meine kranke Frau unterstützen, hab letztes Jahr meinen Job verloren und bin dann obdachlos geworden, weil ich die Rechnungen nicht mehr bezahlen konnte … Also, wie gesagt, ich trinke nicht und nehme keine Drogen, ich habe nur eine Pechsträhne, wir haben alle mal eine Pechsträhne … Damit ich und meine Familie heute Abend etwas essen können, muss ich sechs Pfund zusammenkratzen. Ich habe kein Geld, aber ihr seid genug Leute, um mein Abendessen zu bezahlen, selbst wenn jeder nur ein paar Pennys gibt … Ich mach das nicht ständig, ehrlich, nur wenn mir nix anderes übrigbleibt. Danke fürs Zuhören, und wer mich nicht hören kann, will mich nicht hören.«
Er schlurfte durch den Waggon und hielt den Leuten einen Beutel hin, damit sie ihre Pennys hineinwarfen, was einige taten, am hinteren Ende des Waggons waren es mehr, und Michael gab ihm zwei Pfund. Der Zug fuhr wieder an, der Bettler trottete weiter zum nächsten Waggon, und endlich erreichten sie London Bridge, wo Michael durch die geöffneten Türen hinausschoss, sich zwischen den Breitbeinern durchwand – es wimmelte nur so vor Breitbeinern! –, die Rolltreppe hoch, durch eine Reihe von scheinbar endlosen Tunneln und Durchgängen, sodass es ihm vorkam, als liefe er ziellos umher und würde nie mehr irgendwo ankommen. Er eilte an einem Straßenmusiker vorbei, der Aaron Nevilles »Hercules« auf der Gitarre spielte, und an einem weiteren Straßenmusiker mit einer Querflöte, deren silbriger Klang ihn plötzlich an Gillian erinnerte. Die letzte Rolltreppe rannte er hinauf, und dann, nach alldem, erzählte er Melissa, musste er geschlagene zehn Minuten auf einen Zug warten – einen echten, oberirdischen Zug, keine U-Bahn –, der ihn in den Teil Londons befördern würde, den die U-Bahn vergessen hatte. Es war bereits neunzehn Uhr, als er mit seiner Oyster Card in der Hand die Hauptstraße entlangrannte, an den Hähnchengrills und den Ramschläden vorbei zur Paradise Row, von heftigen, magenverkrampfenden Schuldgefühlen zerfressen, weil Ria seinetwegen den Multikulturalismus-Anfang verpasst hatte. Überrascht stellte er fest, dass das Haus leer war. Das lag daran, dass Melissa vierzig Minuten zuvor die von Gina Ford verordnete abendliche Bettruhe geopfert und reichlich gereizt Blake aus dem Bett geholt hatte, ihm einen Strampler über den Schlafanzug gezogen und ihn in den Kinderwagen gesetzt hatte; zu dritt waren sie, Ria und Blake in der Dunkelheit und der Kälte die Paradise Row hinaufgegangen, oben rechts, an der Kirche links, über die Rampe in den gerammelt vollen ersten Saal hinein, wo sie einen Platz in der fünften Reihe fanden und auf den Beginn der Aufführung warteten.
Der Pianist hatte sich in Position gebracht. Aus der Stereoanlage erklang Highlife. Die Kinder, die bei der Aufführung mitwirken würden, saßen vor der Bühne auf dem Boden, ihre Mütter, Väter, Tanten, Onkel oder Großeltern in den Stuhlreihen dahinter, ihre Hintern, einige bejeanst, andere beleggingt, quollen über den Stuhlrand hinaus. Im Saal war es heiß, und es wurde ständig heißer, während sich die Sitzreihen füllten und danach noch mehr Leute eintrudelten, die stehen mussten, sich hinten an der Wand an die Klettergerüste lehnten oder vom Flur hereinschauten, weil im Saal kein Platz mehr war, so wie Michael, der nach der ersten Hälfte der Aufführung eintraf. Alle Fenster waren geöffnet und dunstbeschlagen. Es herrschte fröhliches, einvernehmliches Durcheinander und angespannte Erwartung, aus dem zweiten Saal strömte der Duft verschiedener Eintöpfe herein.
Nun betrat die Schuldirektorin Mrs Beverly die Bühne, sie hatte das graue Haar zu Cornrows geflochten und trug als Ausdruck ihrer kulturellen Identität eine Dashiki-Bluse aus Kente-Stoff, einen Fischschwanz-Wickelrock und leuchtend orangefarbene Slingpumps. Sie hatte zusammengekniffene, bebrillte Augen, und wenn sie besonders ergriffen war, taumelte sie beim Sprechen nach vorn. Das Publikum verstummte. Sie legte die Handflächen aneinander und dankte allen fürs Kommen. »Ich bin immer wieder beeindruckt von unseren Kindern und allen engagierten Eltern, die sich jedes Jahr die Mühe machen, an unserer Aufführung teilzunehmen«, sagte sie und blinzelte mit ernsthaften Augen, »das alles ist es wert, nicht wahr, Kinder?« Sie ließ einen liebevollen Blick über die Kinder gleiten, die vor ihr auf dem Boden warteten und nickten. »Die Kinder haben sich, wie Sie wissen, schwer ins Zeug gelegt, um sich auf diesen Abend vorzubereiten, haben ihre Lieder einstudiert und bei der Dekoration dieses Saals geholfen – sieht er nicht wundervoll aus?« Das Publikum stimmte zu. Blake stimmte nicht zu, sondern fing an zu weinen. Melissa wippte ihn auf dem Knie auf und ab, während Mrs Beverly alle Anwesenden bat, ihre Handys auszuschalten und mit »zu aufgeregten« Babys den Saal zu verlassen, falls sie dort nicht glücklich waren. Sie beendete ihre Ansprache mit der Bitte, die ersten Darbietenden mit einem großen Applaus zu begrüßen, und die Aufführung begann.
Als Erstes betraten zwei junge tamilische Tänzerinnen in rot-türkisen Saris die Bühne, bissen sich auf die Lippen und blickten einander an. Als die Musik einsetzte, drehten und verbogen sie sich, schwangen ihre Viskose-Stoffe, dann richteten sie sich wieder auf und überprüften, was die andere gerade tat, um sich zu vergewissern, dass sie es richtig machten. Sie waren zu verängstigt, um dem Publikum zuzulächeln oder Blickkontakt zu suchen, besonders fürchteten sie das Urteil ihrer Eltern, am schlimmsten war vermutlich, von ihren Müttern gemustert zu werden, daher fehlte jegliche Verbindung zwischen Darstellerinnen und Publikum, was sie umso liebenswerter machte. »Ach, wie bezaubernd«, sagte eine Frau neben Melissa, die neben der jungen Frau mit dem großen Kopf aus der Wohnsiedlung saß. Auf die tamilischen Tänzerinnen folgte der Schulchor und stimmte ein Gospelstück an, danach kam eine griechische Solotänzerin mittleren Alters, irgendjemandes Mutter, in einem traditionellen Kleid mit Rüschen auf der Vorderseite, von violettem Samt eingefassten Säumen und kurzen Puffärmeln, dazu trug sie grüne Pailletten-Handschuhe, die ihr bis zu den Ellenbogen reichten, und schmale goldene Pumps an den feisten Füßen. Mit ihrem ausgesprochenen Mangel an Schüchternheit und ihren stierartigen, angriffslustigen Bewegungen bildete sie einen starken Kontrast zu den vorangegangenen Tänzerinnen. Jedes Mal wenn sie eine rockaufwirbelnde Drehung vollführte oder eine schwunghafte, ekstatische Bewegung mit ihren paillettenbesetzten Armen, klatschte das Publikum. Sie trug eine weiße Blume und eine schwarze Spange im Haar. Die musikalische Begleitung war erdig und kräftig, reich an schnurrenden Streichern und einem wuchtigen E-Bass. Während ihrer Darbietung brach sie in Schweiß aus. Er glitzerte in den Falten ihrer Stirn, die dadurch deutlich zutage traten, und ließ dunkle Flecken unter ihren Achseln entstehen, doch sie fuhr unbeirrt fort, bis die Musik den Höhepunkt ihres Crescendos erreichte und sie ihren Tanz triumphierend beendete, ein Knie auf dem Boden, die Arme ausgebreitet. Aus der Menge ertönte jubelnder Applaus, als Anerkennung für ihren Wagemut und die leidenschaftliche Aufführung, und für ihre Bereitschaft, das Leben zu feiern, egal in welchem Alter, und ein leuchtendes Vorbild für die Kinder zu sein. Es ist nie zu spät. Lebe. Lebe aus dem Vollen. Tanze, als würde niemand zusehen.
Danach kam eine Karnevalsgruppe aus Trinidad an die Reihe, und im Anschluss wurde ein Gedicht von Benjamin Zephaniah vorgetragen. Die Schlussaufführung brachte Justin dar, ein ehemaliger Schüler, der gekommen war, um für sie zu singen, allerdings, wie sich herausstellte, nicht so gut, wie man es aufgrund der Vorschusslorbeeren erwartet hatte. Er wurde großmütig von Mrs Beverley vorgestellt und erhielt eine Runde Applaus, als er in einem gewöhnlichen weißen Polohemd und mit Adidas-Turnschuhen die Stufen zur Bühne hochstieg. Beim Gehen legte er den Kopf in den Nacken, als wollte er der Welt eine Frage stellen. Er verlor keine einleitenden Worte. Ohne zu lächeln, ohne etwas zu sagen, nahm er das Mikrophon in beide Hände, blickte ausdruckslos nach vorn und gab eine schaurige Interpretation von Robbie Williams’ »Angels« zum Besten. Er rammte einen harten schwarzen Nagel durch den Song und hängte ihn auf einem dunklen, verlassenen Hügel an ein Todeskreuz, wo er über viele lange und schmerzhafte Takte hinweg langsam dahinsiechte. »O mein Gott, wer hat diesem Jungen gesagt, dass er singen kann?«, sagte die Frau neben Melissa. Er war kein Legend, nicht einmal ein Robbie, und als er das Stück beendet hatte, war die Erleichterung spürbar; die Leute, die versucht hatten, durch das unmerkliche Anspannen der Muskeln ihre Ohren zu verschließen, atmeten auf, lehnten sich entspannt zurück und bewunderten die folgende Modenschau, die auf und ab rauschenden Rüschen und Stoffe, die ohrenlosen Damen in Wickelturbanen.
Danach begleitete Michael Ria zum polnischen Scherenschnitt, Haareflechten, Fufu-Kosten, Handflächen-mit-Henna-Bemalen und Haribo-Mampfen, während Melissa eingeschnappt mit Blake nach Hause ging. Später am Abend schilderte er ihr seine entsetzliche Heimfahrt, einschließlich des »Hercules«-Straßenmusikers und des Halts im Tunnel, aber sie blieb ihm gegenüber frostig. Definitiv keine Desdemona. War Desdemona verstorben, mitsamt ihren Ablegern?
Und so ging es weiter. Die Distanz zwischen ihnen wuchs. Ihr Körper vergaß seine Hände. Sie waren Partner, im mühseligsten Wortsinn, und das Schwierigste daran war, dass sie nicht mit ihren besten Freunden darüber sprechen konnten, weil sie selbst der beste Freund des jeweils anderen gewesen waren. Eines Nachts rief Melissa stattdessen ihre Freundin Hazel an.
»Ich muss shoppen gehen«, verkündete sie.
»Ich auch!«
»Du gehst doch ständig shoppen.«
Hazel sah immer aus wie einer Modezeitschrift entsprungen. Vermutlich saß sie selbst an diesem düsteren Sonntagabend in einem Kleid und eleganten Hausschuhen in ihrem Designer-Rattan-Hängesessel.
»Das Leben ist Stoff«, sagte sie.
»Wenn du es sagst, muss es ja stimmen. Einzelhandelstherapie. Funktioniert jedes Mal.«
»Warum, was ist los?«
»Nichts.«
»Ach wirklich.«
»Also, wann hast du Zeit?«
»Nächsten Samstag?«
»Okay.«
»Okay.« Sie würden sich bei Topshop treffen.