Gut, dachte Michael, wenn sie mich nicht attraktiv findet, dann tut es eben eine andere.
Mayfair, eine Woche vor Weihnachten, die Stadt hatte sich für Jesus hübsch gemacht, Fenster funkelten, Balkone blinkten. Michael war auf dem Weg zu einer schicken Weihnachtsfeier für die Firmentreuhänder, mit vorgeschriebenem Dresscode, in einem schicken Restaurant in Londons schickstem Stadtteil. Er trug einen neuen Anzug, hatte seine Schuhe poliert, den Mantel trotz Kälte geöffnet (er knöpfte sich nie den Mantel zu) und nahm die Welt insgesamt anders wahr. Erstaunlich, wie viel deutlicher die charakteristischen Formen der Frauen hervortreten, die einem unterwegs begegnen, wenn einem die Liebe durch die Finger rinnt. Wo er auch hinging, nahm er ihre Figuren, Konturen, Größen und Farben wahr, als wäre er mit Megabildschirm und Surround-Sound ausgestattet, die olivfarbenen und braunen, die großen und kleinen, all die warmen, verführerischen Frauen der Welt. Er ging seine John-Legend-Playlist rückwärts durch. Er kehrte zu einem Postteenager-, Prä-Melissa-Zustand zurück. Gerade jetzt im Bus stand beispielsweise diese pralle, sinnliche Brünette im Gothic-Look neben ihm, mit leicht boshaften Lippen und einer dicken Schicht violettem Lidschatten. Er konnte nicht umhin, ihr bebendes Porzellan-Dekolleté zu bemerken, den Schmuck in dem sanften Spalt. Und er konnte nicht umhin, sie mit Rachel zu vergleichen; so sähe Rachel aus, wenn sie sich stärker schminken würde, wobei er froh war, dass sie es nicht tat. Rachel würde heute Abend beim Treuhänder- Dinner dabei sein, so hoffte er. Rachel fand ihn attraktiv.
Das Restaurant konnte es, was seinen Ruf anbelangte, durchaus mit dem Ritz aufnehmen. Freedland Morton legte sich für seine Treuhänder richtig ins Zeug, darunter Aristokraten, Lords, eine Lady und eine Baronin, mit gebieterischen, näselnden Stimmen und starren Frisuren. Michael wusste nie, worüber er mit diesen Leuten sprechen sollte. Sie gehörten buchstäblich einer anderen Spezies an, auch wenn sie dieselbe Staatsangehörigkeit besaßen wie er, und in ihrer Gegenwart, besonders wenn sie in so großer Dichte auftraten, hatte er immer das Gefühl, aufzufallen und zugleich unsichtbar zu sein. Normalerweise hielt er sich bei diesen Veranstaltungen am Rand, kam sich mittendrin zu groß und zu dunkel vor, gesellte sich gewöhnlich zu einem Bekannten oder schloss sich in irgendeiner Ecke zum unverfänglichen Small Talk einer Gruppe an, wo er seine typische Cocktailparty-Haltung einnahm: die Handflächen aneinandergelegt, fast wie ein Priester, den Kopf geneigt, die Füße parallel; dazu setzte er den Gesichtsausdruck eines imposanten und in sich ruhenden Menschen auf, eines willensstarken, weisen Mannes. Während er sich jetzt dem Veranstaltungsort näherte, überprüfte er sein Outfit – saß sein Jackenaufschlag gerade? Hatte er das Hemd in die Hose gesteckt? Sahen seine Hände gepflegt aus, und waren sie angemessen eingecremt? – und fragte sich dann, wie so oft, ob er die einzige schwarze Person im Raum sein würde. Es war kaum zu glauben, dass er sich in einem Zeitalter schmelzender Polkappen, wachsender Krater, eines Präsidenten Obama, der Wirtschaftskrise und angesichts der Tatsache an sich, dass man sich im einundzwanzigsten Jahrhundert befand, immer noch diese Frage stellte. Seine letzte Handlung vor Betreten des Gebäudes bestand darin, seinen iPod auszuschalten, dann schritt er hinein, bereit für was auch immer.
Auf einer Seite des Raums waren weiß gedeckte Tische. Auf der anderen Seite standen die Gäste mit einem Drink in der Hand und unterhielten sich. In der Mitte gab es einen Kronleuchter und Häppchen, bunte Gemälde säumten die Wände, darüber schwebte der Geräuschteppich, der auf Partys entsteht, auf denen die Leute nicht tanzen, und der immer lauter anschwillt, je mehr sie trinken. Dort sah er Rachel stehen, in einem Kleid aus fließendem violetten Stoff mit einem Gürtel um die Taille, die langen Haare fielen ihr über die Schultern. Als sie ihn entdeckte, tauschten sie, da war er sicher, einen inbrünstigen Blick, der es gänzlich natürlich wirken ließ, es geradezu von ihm verlangte, zu ihr hinüberzugehen und hallo zu sagen.
»Hi«, erwiderte sie.
Und so wie in dem Blick schwang auch in diesem speziellen »Hallo« und »Hi« eine Verheißung mit, ein Warten.
Er wusste zum Beispiel, dass sie in tiefster Nacht manchmal an ihn dachte.
»Kennt ihr Michael?«, fragte Rachel die beiden Männer, mit denen sie gerade sprach, farblose Geschöpfe in dunklen Anzügen.
»Nein«, sagten sie und schüttelten ihm die Hand.
»Michael gehört zum CSR-Team«, sagte sie und blickte ihn an, aus weit geöffneten Augen und mit einem strahlenden, verschwörerischen Lass-uns-woandershin-gehen-Lächeln, zumindest interpretierte er es so.
Beim Abendessen setzten sie sich nebeneinander. Sie tranken Merlot. Auf Rachels anderer Seite saß Brendan aus der Personalabteilung und auf Michaels anderer Seite Janet aus der Buchhaltung.
»Der Wein ist gut«, sagte Rachel.
Davor hatten sie Sekt getrunken.
»Du hast so gepflegte Hände«, sagte sie unvermittelt zu Michael, als wäre sie drauf und dran, sie zu berühren.
Brendan warf Janet einen Blick zu, und Janet warf Brendan einen Blick zu.
»Du solltest Klavier spielen«, sagte Janet.
»Das sagen mir die Leute immer«, sagte Michael.
»Wirklich, mit solchen Händen. Wer sagt, dass Männerhände rau und schwielig sein müssen?«
Brendan sah auf seine eigenen Hände. Zum Nachtisch gab es Panna cotta und verschiedene Liköre, danach mehr Wein. Nach und nach fühlte es sich so an, als würden sie sich besser kennen, als sie es in Wirklichkeit taten, als wäre Rachel seine Freundin. Einmal schmiegte er unter dem Tisch sogar sein Bein an ihres, so wie die Leute es in Filmen machten.
»Wisst ihr was, ihr beiden?«, sagte Brendan mit roten Wangen zu Rachel und Michael. »Ihr zwei würdet ein sehr hübsches Paar abgeben. Wisst ihr das?«
O Alkohol, du fröhlichste aller Drogen.
»Ich habe Lust zu tanzen!«, sagte Rachel.
»Ich auch!«, rief Michael.
»Lasst uns woandershin gehen!«, brüllte Brendan.
Seltsam, dass, wenn man etwas getrunken hat, einem der Ort, an dem man damit angefangen hat, wie ein anderer Tag vorkommt und man selbst sich in jemand anders verwandelt. Vier Personen, nicht wirklich Michael, nicht wirklich Rachel, Janet oder Brendan, alle vergrößert, verbunden, aufgedreht und dabei irgendwie gedämpft, liefen taumelnd durch die Tür, durch die sie als sie selbst eingetreten waren. Sie schwankten hinaus in den nächtlichen Tumult festlicher Beleuchtung, in den spätabendlichen Verkehr von Mayfair und ließen die Treuhänder hinter sich. Sie landeten in einer Weinbar auf der Dover Street, einem Ort für reifere Partygänger, jede Menge Leute zwischen vierzig und fünfzig in glitzernden Kleidern, die zu ausgewählter Disco- und gelegentlicher Live-Jazzmusik tanzten.
»Wir sind komplett ausgebucht«, sagte die Frau mit dicker Rougeschicht und rumänischem Akzent an der Tür.
»Wir wollen nicht essen. Nur tanzen«, sagte Janet.
»Wir sind komplett ausgebucht«, wiederholte sie.
»Aber sehen Sie sich die beiden hier an«, sagte Brendan und deutete auf Rachel und Michael, »sie sind frisch verheiratet und extra den ganzen Weg aus Leicester hergekommen.«
Als eine Gruppe von Leuten die Bar verließ, wurde ihnen Eintritt gewährt. Sie stiegen schimmernde discoartige Stufen hinunter, und die angeblich Frischvermählten hielten sich für eine Minute an den Händen; Michael dachte während der ganzen Zeit dort überhaupt nicht an Melissa, nur ein einziges Mal, als er, von Müdigkeit übermannt, an der Bar darauf wartete, bedient zu werden, und sich plötzlich nach ihr sehnte. Er stellte sich vor, wie er nach Hause kam, zu ihrem stillen Haus in der stillen Nacht, und wie sie dort in ihrem Cappuccino-Slip auf ihn wartete, Hemingway las, über seine Sätze schmunzelte; er würde den roten Raum betreten, sie würde ihr Buch beiseitelegen, ihm die Arme entgegenrecken, und er würde sich die Schmalheit ihres Brustkorbs vergegenwärtigen, indem er seinen Kopf daran lehnte. Er konnte nicht anders, als Rachel und Melissa miteinander zu vergleichen, während er mit einer weiteren Runde Cocktails zur Tanzfläche zurückkehrte: Melissas kleinen Busen mit Rachels größerem Busen, Melissas kleine Füße mit Rachels größeren Füßen, die anders tanzten als Melissas. Er tanzte gern mit Rachel, in seinen Ohren hallte Legend nach, sang von seinen menschlichen Schwächen und widersprüchlichen Seiten, die noch miteinander in Einklang gebracht werden mussten. Ihre Augen, ungewohnt hell. Offene, wahrhaftige Augen. Augen, die nicht wegsahen wie Melissas, sich nicht vor ihm versteckten oder etwas zu verbergen hatten. Solch gegenseitige Anziehung ist von den Engeln gesandt, verkündete Legend. Sie bildet Tröpfchen des Glücks, ruft uns in Erinnerung, dass wir lebendig sind. Und sollte man ihr nicht folgen? Wenn das Licht brennt, sollte man es dann nicht nutzen, das Zimmer betreten, den Teppich beschreiten, die Laken zerwühlen? Ja, das sollte man, stimmte ihm Michael in seinem Tequila-Rausch entschieden zu. Rachel wirbelte in ihrem Cinzano-Rausch umher, und er beobachtete sie, ihre strahlenden Zähne, ihren cremefarbenen Hals. Sie war der Oberburner. Vermutlich war sie die vollen hundert Prozent wert. Er wollte dafür sorgen, dass ihr Zoom Zoom boom boom machte.
»Wie alt bist du?«, brüllte er.
»Fünfundzwanzig. Und du?«
»Siebenunddreißig.«
Es folgten verstohlene Kompatibilitätsüberprüfungen, positive Spekulationen. Als Nächstes waren sie auf der weihnachtlichen Straße, von Janet und Brendan weit und breit nichts zu sehen.
»Ich bin total betrunken«, sagte sie.
»Ich auch.«
Als Nächstes saßen sie in einem Taxi, fuhren zu ihr, Richtung Osten, nach Whitechapel.
»Ich wusste nicht einmal, dass es überhaupt Leute gibt, die in Whitechapel wohnen«, sagte Michael.
»Ich liebe Whitechapel!«
»Du musst stinkreich sein.«
»Bin ich nicht. Ich bin Telefonistin, wie du weißt.«
Doch wie sich herausstellte, musste man nicht reich sein, um in Whitechapel zu wohnen, denn überall in London gibt es Unterkünfte für jedes Budget, wie diese winzige Wohnung mit zwei Schlafzimmern und einem kombinierten Koch-, Wohn- und Essbereich. Rachels Mitbewohnerin schlief.
»Schsch«, machte sie, als sie vor ihm die Treppe hochging und er ihre Fesseln musterte; nicht so hübsch wie Melissas, aber ansprechend, aufreizend. Der Herd stand also im selben Zimmer wie das Sofa, es roch nach einem kürzlich gekochten Abendessen, und in Rachels Zimmer gab es ein Waschbecken in der Ecke, so wie in Melissas altem Zimmer in Kensal Rise, wo sie zum ersten Mal Desdemona und Angelina begegnet waren. Das Waschbecken störte Michael. Es machte ihn traurig, und er wollte weglaufen, zu seiner eigenen Frau und ihrem Hemingway. Um das Waschbecken herum war es schmutzig, da, wo der Mörtel abgebröckelt war, was ihn ebenfalls störte, und zwar sehr. Er wandte den Blick vom Waschbecken ab, von allem, was mit Melissa und seinem echten Erwachsenenleben zu tun hatte. Hier waren sie. Rachel. Rachels Zimmer. Rachel findet mich attraktiv.
»Ich mache uns Musik an«, sagte sie. Boyz II Men erklang aus dem CD-Player auf dem Schminktisch. Sie tranken noch etwas. Dann begann es vorhersehbar mit: »Normalerweise mache ich so was nicht …«
Ihr Kuss war keine Desdemona, nicht einmal eine entfernte Verwandte. Er war zu trunken, zu nass. Sie kannten sich nicht, hatten nicht genug miteinander gelacht für einen vergleichbaren Kuss. Auf ihrem Bett lag eine blauviolette Tagesdecke mit Rillenstruktur, die recht rau und unbequem war. Sie schlüpften nicht darunter, sondern taten es darauf. Die Sache ging schnell über die Bühne, die ganze Zeit war unterschwellig zu spüren, dass Michael vermutlich kurz danach aufbrechen würde. Sie schnallte seinen Gürtel auf, er zog ihr das Kleid hoch, und die Geschwindigkeit verlieh ihnen etwas Glanzvolles, sie umklammerte ihn mit den Beinen, ihre Haare strichen über seine Schulter. Es gelang ihm fast über die gesamte Zeit hinweg, Melissa aus den Schatten dieser Erfahrung zu verbannen. Sie schwebte nur als kleiner Geist in der Nähe des Waschbeckens herum, und erst zum Schluss, als Rachel in einer bebenden Woge aus Feuchtigkeit auf ihm zu liegen kam, scharten sich Melissa, Ria, Blake, seine Mutter, sein Vater, sein Bruder und seine Tante Cynthia (die Schwester seines Vaters aus Amerika) als vorwurfsvolle Versammlung um das raue blauviolette Meer.
»Oh, ich mag dich«, sagte Rachel.
»Das war … Wow«, sagte er in den herabfallenden Vorhang ihrer Haare hinein, die sich in seinem Hals verfingen und ihn zum Husten brachten. Der Husten war so stark, dass sie von ihm herunterrollen musste, und danach schien jede Form von Zärtlichkeit, mit der sie die Sache hätten beenden können, unangemessen. Sie brachte ihm etwas Wasser, Kranwasser aus dem Waschbecken – aus dem Waschbecken –, von dem er nur einen winzigen höflichen Schluck nahm, zum einen wegen der traumatischen emotionalen Assoziation des Waschbeckens, zum anderen weil es letztlich Wasser aus der Themse war, das zum Baden, aber nicht unbedingt zum Trinken geeignet war, was sich negativ auf seine Meinung über sie auswirkte. Sie zog sich einen Morgenmantel über und setzte sich auf die Bettkante.
»Rachel …«
»Schon gut, ich weiß. Ich weiß, ich weiß, ich weiß.«
»Ja.«
»Es ist schon spät.«
»Ich gehe jetzt besser.«
Er wusch sich rasch, küsste sie auf die Wange, fand seinen zweiten Socken, überprüfte seine Jackenaufschläge und begab sich auf die Suche nach einem Nachtbus. Während der gesamten Fahrt über den Fluss Richtung Süden fühlte er sich beschissen. Wie sollte er ihnen gegenübertreten? Was war aus seinem mühsam ausgetüftelten Prozentsystem geworden? War er so verzweifelt gewesen, dass er sich zu einem derart schäbigen One-Night-Stand-Verhalten hatte hinreißen lassen? Was, wenn sie davon erfuhr? Was, wenn er im Schlaf davon sprach? Er fühlte sich beschmutzt, verängstigt. Die Weihnachtslichter lachten und blinkten ihm ins Gesicht, während er von Cobb’s Corner nach Hause lief. Er versuchte, sich an den Mann zu erinnern, der er vorher gewesen war, wie rein, wie rechtschaffen er gewesen war, wollte es an irgendetwas festmachen, aber es gelang ihm nicht. Als er die Tür öffnete, war er überrascht, Melissa anzutreffen, die gerade in ihrem Baumwollnachthemd die Treppe hochging. Es war vier Uhr morgens.
»Oh, hallo«, sagte er, trotz allem froh, sie zu sehen.
»Hallo«, sagte sie.
Zwischen ihnen war diese unmittelbare Wärme zu spüren, diese erste, unzerstörbare Wärme, die bleibt, selbst wenn die Liebe an sich vergeht. Sie war nach unten gegangen, um Medizin zu holen. Blake hatte Husten.
Michael verspürte den Drang, seine späte Rückkehr zu rechtfertigen. »Ich musste drei Nachtbusse nehmen. Ich konnte nicht mit dem Taxi fahren. Ich hatte nur zehn Pfund dabei.«
Es war die erste Lüge dieser Art, und sie führte dazu, dass er sich noch beschissener fühlte.
Ein Engel thronte an der Spitze des Weihnachtsbaums und überblickte dessen herrliches Königreich. Er schien gleichsam zu schweben über dem glänzenden Berg aus Geschenken, sandte einen Dunst aus, jene magische Mischung aus Lametta und Lichterketten, aus Staub und schwachem Tageslicht, das zum Dachfenster hereinfiel, aus verblichenen olivgrünen Tannennadeln und Christbaumschmuck in verschiedenen Farben und Formen. Den Baum hatten sie 1978 bei Woolworths gekauft. Der Baumschmuck wurde das ganze Jahr über auf dem Dachboden in seiner Originalverpackung mit mehreren Einzelfächern aufbewahrt, bis seine Zeit gekommen war zu strahlen und zu funkeln. Jetzt kreisten dort Christbaumkugeln wie wogende Planeten aus goldenem Glitter. Purpurrote Sterne mit rosa Spitzen. Eiszapfen, Schneemänner und Schokoladenweihnachtsmänner in glänzender Folie; Letztere würden im Laufe des Tages von den verschiedenen Kindern und Erwachsenen, die sich auf die Sessel, Erker, Ecken und Winkel des alten Hauses verteilten, ausgewickelt und gegessen werden. Über allem schwebte der Engel in einem langen weißen Gewand und mit Heiligenschein, hielt leblos und blind Wache.
Ebenfalls halbblind, aber durchaus lebendig war Melissas Vater Cornelius. Infolge eines fortgeschrittenen Glaukoms war er auf dem linken Auge erblindet. Mit dem anderen wandte er sich den üblichen Ereignissen seines achteinhalb Jahrzehnte umspannenden Lebens zu, die sich in adretter, hilfreicher Ordnung an einer mentalen Wäscheleine aufreihten, die auf die endgültige Finsternis zulief: aufstehen, fernsehen, rauchen, rasieren und anziehen, rauchen, beim Mittagessen fernsehen, rauchen, beim Abendessen fernsehen, rauchen, ins Bett gehen, im Falle von Schlaflosigkeit mitten in der Nacht rauchen. Auf Makroebene gab es Ostern, Geburtstage und natürlich Weihnachten. Weihnachten war das wichtigste Ereignis und wurde, auch wenn er mittlerweile allein wohnte, auf dieselbe Weise begangen wie eh und je, mit üppiger Dekoration aus Girlanden und Rauschgold. Mit nur einem Auge, das zum Ausgleich für den Niedergang seines Partners besonders scharf sah, und mit Hilfe seiner ältesten Tochter Adel, die auf derselben Seite des Flusses wohnte wie er, breitete Cornelius in der dritten Dezemberwoche die Kisten mit dem Weihnachtsschmuck auf dem Esstisch aus und überprüfte deren Inhalt. Adel erklomm eine Leiter, um die bunten Girlanden aufzuhängen. Sie verliefen kreuz und quer unterhalb der Zimmerdecke, säumten die Deckenleisten, gehorchten ihren Reißzwecken, denn Cornelius war für den Fall einer versagenden Reißzwecke, einer herabfallenden Girlande nicht gewappnet, weil er allein wohnte und niemand da war, der die Sache beheben könnte. Also wurden sie ordentlich festgehämmert. Im Flur hängten sie die festlichen chinesischen Laternen auf. Über dem Kaminsims spannten sie die Schnur mit den Weihnachtskarten von der verbliebenen Familie im Norden, und alles blieb unverändert, bis Adel spätestens am 5. Januar um Mitternacht, dem zwölften Weihnachtstag also, vorbeikommen und ihm dabei helfen würde, den Schmuck wieder abzuhängen.
Adel hatte zwei Kinder, Warren und Lauren, neunzehn und siebzehn Jahre alt. Die Familie besuchte Cornelius immer am zweiten Weihnachtsfeiertag, Carol kam mit ihrem fünfjährigen Sohn Clay, Melissa und Michael mit Ria und Blake und schließlich Alice, Matriarchin und ihre Verbindung zum Heimatland, die jetzt ebenfalls allein wohnte, in einer kleinen Wohnung in Kilburn. Sie und Cornelius hatten gelegentlich freundschaftlichen Kontakt ihren Kindern und solchen Familienfeiern zuliebe. Lang vorbei waren die Zeiten von Cornelius’ Schreckensherrschaft, in denen er mit strikter Disziplin und Unmengen an Alkohol das Haus befehligt hatte. Jetzt war er nur noch ein welker, weißhaariger alter Mann, der sich schnell aufregte, und alle gaben ihr Bestes, um so zu tun, als wäre das alles nie passiert. Es stellte Cornelius vor eine große Herausforderung – die plötzliche Ansammlung von Menschen in seinem Heim, ihre eigenartig städtische Sprechweise, das unerträgliche massenweise Verschleppen von Küchenutensilien und anderen Haushaltsgegenständen, die er unbedingt an ihrem angestammten Platz wissen musste. Er verbrachte einen guten Teil der Zeit damit, mit seinem Gehstock durch die Wohnung zu schlurfen, Sachen aufzuheben und die Leute verärgert zu fragen, ob sie ihnen gehörten. Währenddessen trank er große Mengen Wein, der seine Lippen nach und nach lila färbte, und rauchte Zigaretten bis zu ihrem bitteren Ende. Es roch nach Tabak und feuchtem Putz. Die Teppiche rollten sich an den Ecken auf, stießen kleine Schreie aus den Siebzigern aus.
Gerade saß er in seinem grünen Sessel, der auf den Fernseher ausgerichtet war, seine Füße ruhten auf einem verschrumpelten Lederpuff, daneben stand ein kniehoher Tisch, auf dem er seinen Tätigkeiten nachging: dem Mittag- und Abendessen, dem Putzen seiner einseitigen Bifokalbrille, dem Auspacken von Geschenken, wozu er eine Schere zu Hilfe nahm. Er war wie eine alte Straße, auf die jahrelang der Regen und Hagel geprasselt war, auf der Füße gelaufen und Räder gerollt waren. Sein Gesicht war voller Schlaglöcher und Dellen. Seine Hände waren von grauen Venen durchzogen, wie die Überreste eines Quecksilbervulkans, und auf gewisse Weise schienen sie ebenfalls blind. Ria saß neben ihm auf dem Fußboden, wie so oft, wenn sie hierherkamen. Sie empfand leidenschaftliches Mitgefühl für ihn, Faszination und gleichzeitig eine große Distanz. Er war sooo alt. Er konnte nicht hüpfen. Er konnte nicht laufen. Von Zeit zu Zeit beobachtete sie ihn, erforschte ihn, was Cornelius nicht zu stören oder zu bemerken schien.
Warren und Lauren hockten jeweils auf einer Armlehne des Sofas, dazwischen saßen Melissa und Carol und unterhielten sich über Yoga, genauer gesagt darüber, wie lange im Ashtanga- Yoga die Heldenposition der ersten Serie gehalten werden sollte. Michael saß jenseits der Trennwand am Esstisch, trank Dragon Stout und spielte mit Blake, während Alice und Adel mit Clay in der Küche waren. Der Fernseher lief. Gespräche setzten ein und verstummten. Lauren erzählte von den Plänen für ihren bevorstehenden achtzehnten Geburtstag. »Ich werde eine Limo mieten«, sagte sie, »eine pinke.« Ria wollte wissen, was eine Limo sei.
»Eins von diesen lächerlich langen Autos, in denen Vollidioten rumkutschiert werden«, sagte Warren. Er trug ein rotes Sweatshirt mit dem Schriftzug GOLDDIGGER auf der Brust.
»Was sind Vollidioten?«
»Warren, keine Schimpfwörter, bitte«, sagte Melissa. Sie hasste es, in diesem Haus zu sein. Sie versuchte immer, ihre Besuche hier so kurz wie möglich zu halten, und es kostete sie Überwindung, direkt mit ihrem Vater zu sprechen, denn sie erkannte immer noch das drohende Donnerwetter in seinen Augen. Als Kind hatte sich das angefühlt, als könnte er damit das Haus zum Einsturz bringen, als wäre es aus Glas. Es war immer einfacher, wenn Carol auch da war.
»Man kann für siebzig Pfund eine mieten«, erzählte Lauren, während sie ihre Extensions mit einem Glättkamm bearbeitete. »Da drin gibt’s sogar einen Fernseher. Man fährt einfach um den Block oder zu einem Club, ganz wie man will. Und danach bringen sie einen nach Hause.«
»Ja, und wer bezahlt den Spaß?«, sagte Warren.
»Ich habe einen Job. Ich kann das selbst bezahlen.«
»Ich habe auch bald Geburtstag«, sagte Ria. »Ich werde acht. Kriege ich auch eine Limo?« Das brachte alle zum Lachen. »Schsch!«, zischte Cornelius und drehte den Fernseher lauter. Er versuchte, Dad’s Army zu gucken.
Adel kam aus der Küche herein, wirkte genervt. »Hilft mir denn niemand mit dem Essen?« Sie hatte das Gefühl, dass alles wie selbstverständlich an ihr hängenblieb, doch gleichzeitig wollte sie die Kontrolle über das Essen nicht abgeben, und als Michael zu ihr in die Küche ging, sagte sie ihm, er werde dort nicht gebraucht, murmelte in sich hinein, Carol solle helfen, denn sie habe wie immer noch keinen Finger gerührt.
»Was machst du da mit deinen Haaren, Lauren, glättest du sie?«, fragte Carol. Sie selbst trug Dreadlocks und war Verfechterin des traditionellen Umgangs mit Afrohaaren.
»Ja, das ist ein Glättkamm.«
»Du solltest sie einfach natürlich tragen. Einfach du selbst sein, frei sein.«
Von Laurens Kopf stieg Rauch auf. Sie versuchte alles, um sich in jemand anders zu verwandeln. Ihre Haare hatten einmal einer anderen Person gehört, einer Inderin, bekannte sie, und waren daher teuer gewesen. Ihre Augenbrauen waren aufgemalt, scharf konturiert und dunkel. Sie trug eine enge blaue Jeans und eine gelbe Bluse in einem ähnlichen Farbton wie ihre Haut, die sie einmal pro Woche mit Selbstbräuner einrieb, um ihren zu hellen, britisch beigefarbenen Teint dunkler zu machen. Sie war ihr eigenes Phantasiegebilde, besserte unablässig an sich herum.
»Du glättest die Haare einer anderen Frau«, sagte Melissa.
»Es sind meine Haare.«
»Sie sind auf ihrem Kopf, also sind es ihre«, bestätigte Warren.
Ria und Clay waren mittlerweile in den Flur verschwunden und saßen auf halber Höhe der Treppe. Sie machten sich über die Schokoladenweihnachtsmänner her und spielten mit Clays Sticker-Sammlung.
»Ich habe ganz viele Knochen in meinem Körper«, sagte Ria zu Clay.
»Ich nicht«, sagte Clay.
»Doch, hast du wohl. Hier hast du einen und da, da und da«, sagte sie und deutete darauf.
»Nein«, sagte Clay. »Ich habe keine Knochen. Ich habe nur einen Knochen, hier in meinem Bauchnabel«, und er zog zum Beweis den Pullover hoch.
Im Wohnzimmer lief Werbung im Fernsehen, Warren sah sich auf seinem Tablet Musikvideos an. Cornelius war fasziniert von diesem neuartigen Bildschirm, kleiner, vielleicht besser geeignet für ein Auge. Er blickte genauer hin. Menschen, Dinge bewegten sich darüber, Musik aus der neuen Welt, Rapper mit muskelbepackten Armen, Tätowierungen und sehr weißen Zähnen.
»Ich habe dich letzte Woche auf Facebook gesehen«, sagte Melissa zu Lauren.
»Ach ja? Und wie findest du meine Facebook-Seite?«
»Sie ist … hübsch?« Melissa war kein eifriger Facebook-Nutzer.
»Danke«, sagte Lauren.
»Lass mal sehen!« Warren warf einen Blick auf Laurens Smartphone. Keiner von beiden schaltete das Handy jemals aus. Gemeinsam durchstöberten sie Facebook und sahen gleichzeitig Musikvideos. Gerade lief 50 Cents »In Da Club«.
»Ist das P. Fiddy?«, fragte Cornelius plötzlich, seine Stimme platzte in vertraut-fremdem Tonfall in ihre Mitte hinein, aufgesogen vom dichter werdenden Nebel der Senilität.
»Du meinst wohl Puff Daddy«, sagte Warren.
»Aber ich dachte, er hätte seinen Namen geändert.«
Warren und Lauren waren verblüfft über die unerwarteten Popkultur-Kenntnisse ihres Großvaters. Es war umso überraschender, weil er in letzter Zeit oft Dinge wiederholte, Namen und sogar Wörter wie »Tisch« und »Draht« vergaß.
»Er hat seinen Namen tatsächlich geändert«, sagte Warren. »Allerdings in P. Diddy.«
»Das habe ich doch gesagt.«
»Nein. Diddy«, sagte Lauren, »nicht Fiddy.«
»Aber gibt es nicht auch jemanden namens Fiddy?«, fragte Cornelius verwirrt.
»Ach, Fiddy«, sagte Warren lachend. »Du meinst 50 Cent. Er wird kurz Fiddy genannt.«
Jetzt kam Alice in den Raum gerauscht, schlängelte sich hocherhobenen Hauptes und mit einem Glas Sherry in der Hand hindurch, die Brillengläser blitzten im Licht des alten Kronleuchters, ihr Wickelrock und ihre Hausschuhe raschelten. Sie setzte sich auf einen Stuhl am Fenster, neben ihr schwebte der Christbaum und unterstrich ihr mysteriöses Leuchten. Sie freute sich darauf, in ihre leere pinke Wohnung zurückzukehren. Sie fand es albern, dass Melissa und Carol trotz ihrer Kinder weiterhin Yoga machten, und ließ es sie regelmäßig wissen. Und in Bezug auf das Nachtwesen, von dem ihr Melissa vorher oben erzählt hatte, gab Alice folgende Tipps: an der Haustür Knoblauch aufhängen, eine halbe Zwiebel auf die Fensterbank legen, Wick-Erkältungssalbe mit einer Prise Cayennepfeffer in dem Raum verteilen, den das Nachtwesen heimsucht, und beten.
»Noch etwas«, sagte sie, nachdem sie an ihrem Sherry genippt hatte, das Stimmengewirr im Hintergrund unverändert, »tu Salz ins Bad und mach das Wasser sehr, sehr heiß.«
»Okay, Mum«, sagte Melissa skeptisch.
»Und leg manchmal nachts eine Kochbanane unter dein Kissen.«
»Was? Eine ganze Kochbanane?«
»Ja. Dann kann das Nachtwesen nicht in deinen Geist.«
Dieser letzten Bemerkung schenkte Melissa keine Beachtung. Sie hatte auch die Theorie ihrer Mutter verworfen, sie hätten ein Nachtwesen im Haus, weil sich das Badezimmer im Erdgeschoss befand.
»Irgendwann hast du ein besseres Haus«, sagte Alice.
Zwei Tage nach Weihnachten hatte Ria Geburtstag, und etwa zu diesem Zeitpunkt geschahen zwei Dinge, die Melissa unwiderruflich davon überzeugten, dass ein Fluch auf der Paradise Row 13 lastete. Der erste Vorfall hatte mit Feuer zu tun.
Zu ihrem vierten Geburtstag hatte Ria ein Feenkleid mit Flügeln geschenkt bekommen. Sie hatte es sofort angezogen und war aufs Sofa geklettert. Dort stand sie und machte sich für ihren ersten Flug bereit, sehnte die hohen Lüfte herbei. Als der Flugversuch fehlschlug und sie wie nach jedem anderen Sprung einfach auf dem Boden landete, rief sie: »Diese Flügel funktionieren nicht, Mama! Du musst mir andere kaufen!« Seitdem ging Melissa jedes Jahr mit Ria ins Theater, um sie auf andere Art zu beflügeln und sie dafür zu belohnen, dass sie so fest ans Fliegen geglaubt hatte. Dieses Jahr würden sie sich Der Nussknacker ansehen, ihr erstes Ballett. Ria trug ein neues schwarzes Kleid mit paillettenbesetztem Oberteil und ausgestelltem Rock, der sich zu einem Halbkreis formte, wenn sie ihn an beiden Seiten anhob, was sie jetzt gerade tat, während sie unter dem Dachfenster stand, dann schwebte sie die Treppe hinab, gefolgt von einer Woge aus schwarzem Satin. Bevor sie aufbrachen, sagte Melissa, sie solle sich die Hände eincremen, weil sie so trocken seien.
Sie fuhren mit dem Zug in die Stadt, Rias Füße reichten gerade bis zum Boden, schwangen hin und her. Melissa verspürte großen Stolz auf sie und einen starken Beschützerinstinkt. Sie sahen auf die mit blauen Lichtern geschmückten Bäume am Ufer, die dunstige Kuppel der St. Paul’s Cathedral in der Ferne. Die ganze Stadt funkelte, überall Lichter, die aufs Wasser fielen und darauf tanzten.
»Ich finde es schön, dass ich meinen Geburtstag zu Weihnachten bekommen habe«, sagte Ria, während sie The Strand entlangliefen. Sie rannte wie immer voraus, ihre rote Strumpfhose leuchtete, es wehte ein schmutziger Stadtwind, und Melissa kam der Gedanke, dass Ria ihre Persönlichkeit teilweise dieser Stadt verdankte, dass Ria, dass sie beide hierhergehörten.
In der Theaterlobby herrschte Gedränge. Sie stiegen eine geschwungene Treppe hinauf und gingen zu ihren Plätzen im hinteren Teil des Zuschauersaals. Sie saßen weit oben, die Bühne wartete geschlossen und geheim darauf, dem Nachmittag einen Traum zu schenken. Wenig später hob sich der Vorhang, und dahinter war Weihnachten: Ein riesiger, von Geschenken umringter Christbaum stand in der Ecke eines hübsch geschmückten Zimmers in einem vorgetäuschten Haus. Das Orchester im Orchestergraben erstrahlte in Gold und Silber, davor tanzten die Arme des Dirigenten. Ein kleines Mädchen, Clara, trippelte auf Zehenspitzen in den Raum hinein, und dann begann der große Tanz. Die Tänzerinnen waren vollkommen synchron in ihren Bewegungen, schlängelten sich gemeinsam im Spitzentanz über die Bühne. Ria starrte sie an, saß kerzengerade da und flüsterte: »Ich kann es nicht glauben!«
Die simultanen Armbewegungen, die Drehungen und das Dahingleiten, die Sicherheit in jedem Schritt.
»Woher wissen sie, was sie machen sollen?«
Melissa erklärte ihr, dass sie es einstudiert hätten.
»Aber wie können sie die Zehen so spitz machen?« Dann: »Warum tanzt Clara im Nachthemd?« Und: »Warum ist der Weihnachtsbaum aus Pappe?« Währenddessen lutschte sie an einem Chupa Chup mit Zitronengeschmack.
»Ist der blaue Mann der schöne Prinz?«, fragte sie.
»Ist das der Mausekönig?«
»Ist das echter Schnee?«
All diese Fragen kamen vor der Pause. Und danach: »Warum geht das goldene Ding am Vorhang hoch? Warum hatten die Leute auf der Bühne nichts zu essen? Ich glaub’s ja nicht, Clara hat immer noch ihr Nachthemd an! Ist es vorbei? Ist es jetzt vorbei?«
Als sie wieder in der Lobby waren, machte Melissa vom Fuß der geschwungenen Treppe ein Foto von Ria, die oben stand und ihren Rock zu einem Halbkreis anhob. Sie hatte einen Fuß vor den anderen gestellt. Die Beine überkreuzt, wie vom Ballett infiziert. Über ihr Gesicht zog ein Lächeln, aus dem die kindliche Gutherzigkeit und Selbstbezogenheit sprachen. Es sollte das letzte Foto sein, auf dem sie auf zwei gesunden Füßen dastand.
Doch zunächst zu dem Feuer, das an diesem Abend wegen des Geburtstagskuchens ausbrach. Ria saß am Esstisch, immer noch in ihrem Kleid, Michael stand ihr gegenüber, hielt Blake auf dem Arm. Acht Kerzen. Das Licht wurde gedimmt. Während sie sangen, kam Melissa mit dem Kuchen aus dem Paprika-Leuchten der Küche heraus. Ein starkes Gefühl der Verbundenheit begleitete das Singen, als wäre ihr Gesang ein Band, das sie alle miteinander vereinte, und Michael vergaß für einen Augenblick sein unterschwelliges Unbehagen und legte Melissa sanft die Hand auf den Rücken. Melissa stellte den Kuchen auf den Tisch. Als sich Ria vorbeugte, um die Kerzen auszupusten, fing ihr offenes Haar Feuer, und eine Flamme stieg auf. Ein orangefarbener Bogen loderte hoch, wurde blitzschnell riesengroß. Ria spürte nur die warme Luft an ihrem Hals; was sie beunruhigte, war der plötzliche Ausdruck des Entsetzens auf dem Gesicht ihres Vaters und selbst auf Blakes Gesicht. Melissa schlug hektisch mit der Hand gegen die Flamme. Sie erlosch, und Ria blieb unversehrt, aber bei Melissa hatte sich das Bild vom lodernden Kopf ihres Kindes eingebrannt, vom Grauen am Esstisch. Es war ein weiteres böses Omen.
Eine Woche später gingen Melissa und Ria in den Wald, so wie sie es sich vorgenommen hatten, um den Tunnel zu suchen, in dem der Zug auf der Fahrt zum Crystal Palace stecken geblieben war. Sie bogen von der Straße in den Wald ab und liefen über einen dunklen, unebenen Pfad bis zu einer Lichtung, wo es heller wurde und vereinzelte hagere hohe Eichen und Weißbuchen wuchsen. Der Verkehrslärm verebbte. Nur noch die Vögel und das Rascheln der Baumwipfel waren zu hören. Die Bäume standen seit Jahrhunderten hier. Sie konnten bezeugen, dass es hier einmal Reiher gegeben hatte, Biber. Auch Fledermäuse und Eulen und drei verschiedene Spechtarten. Zwischen den Baumstämmen sah man Hunde aufblitzen, mit freudig erhobenem Schwanz ob der Freiheit.
»Gehen wir auch in den Tunnel rein?«, fragte Ria unterwegs. Auf einer Gesichtshälfte war ihr Haar etwas kürzer und zu einem helleren Braun versengt.
»Ich glaube, er ist verschlossen«, sagte Melissa. »Aber warten wir’s ab.«
Sie gelangten an die Fußgängerüberführung, von der aus Camille Pissarro die Aussicht einst gemalt hatte: ein blasser freier Himmel, ein Zug, der aus der Ferne um eine Biegung herangefahren kommt, offene Wiesen zu beiden Seiten. Sie gingen an dem unbewegten algenbewachsenen Teich vorbei, warfen einen Zweig hinein und sahen ihm beim Nichtversinken zu, dann kamen sie zum Golfplatz und zur Seilschwinge und erreichten schließlich am Fuße eines Hügels den Eingang zum Tunnel. Er war schwarz, fest verschlossen. Ein winziger blauer Vogel flog oben aus einem Spalt heraus. Ria war enttäuscht. Sie hatte ihn ganz durchqueren wollen, bis zur gläsernen Welt auf der anderen Seite. Sie wollte sehen, wie Leona Dare von ihrem Heißluftballon schwebte und in der Luft akrobatische Kunststücke vollführte.
»Ich habe Bilder von ihr gesehen«, sagte sie. »Sie hat sich beim Schweben nur mit dem Mund festgehalten. Für einen Schilling konnte man zusehen. Wie viel ist ein Schilling?«
»Etwa zehn Pence.«
Ria malte sich aus, wie auf der anderen Seite des Tunnels eine Ansammlung von Menschen in langen Kleidern und mit hohen Hüten zu Leona aufblickte. Melissa stellte sich ebenfalls vor, durch den Tunnel zu gehen, an dem verlassenen, geisterhaften Zug vorbei; es war vollkommen still, und sie lief in die Geschichte hinein. Michael war nicht dort. Er existierte nicht. Sie als Paar existierten nicht. Es war eine schöne Art der Einsamkeit. Der Weg war nicht breit genug, um zu zweit nebeneinanderher zu gehen. Dort angekommen, schlenderte sie durch die Säle, bewunderte die Freskogemälde, die Grabstätten, den Löwenbrunnen in der Alhambra und trank ein Glas Rhabarbersekt.
»Wir kehren besser um«, sagte sie und nahm wahr, dass das Licht sich veränderte. »Bald wird es dunkel.«
»Okay«, sagte Ria, und sie machten sich auf den Heimweg, den Hang hinauf.
Da geschah die zweite Sache. Genau in dem Moment, als sie oben ankamen, rutschte Ria im Schlamm aus und verrenkte sich den Knöchel. Sie lief weiter, aber in der Nähe des Algenteichs stolperte sie und begann zu weinen. Sie stützte sich bei Melissa auf, hüpfte und humpelte, wurde die restliche Strecke aus dem Wald hinaus fast getragen. Als sie beim Auto ankamen, war es dunkel und ihr Knöchel auf Tennisballgröße angeschwollen.
Statt nach Hause fuhren sie ins Krankenhaus. Ria hatte sich den Außenknöchel gebrochen. Sie würde für zwei Wochen einen Gips tragen müssen. Bäuchlings lag sie auf einer Liege, während die Krankenschwester ihre schmale braune Wade eingipste. In dieser Haltung schlief sie ein und träumte von dem Palast. Es war nach Mitternacht im Londoner Stadtbezirk Lewisham.