Erstes Kapitel
Seit zwei Jahren schob Tom Akten von einer Seite des Schreibtisches auf die andere, bewilligte Anträge oder lehnte sie ab. Einen Sinn sah er darin schon lange nicht mehr. Klar, irgendjemand musste den Job machen. Aber er hatte sich nach dem Abitur keine Gedanken darum gemacht, wie
öde es sein würde, jeden Tag das Gleiche zu tun.
Die Arbeit kotzte Tom an.
Er war jetzt zwanzig Jahre alt, wohnte immer noch bei seinen Eltern und machte den langweiligsten Job der Welt. Weil er sich kaum für Sport interessierte, versteckte sich sein Waschbrettbauch mittlerweile unter einer dünnen Fettschicht, gegen die er stetig und genauso erfolglos ankämpfte. Er kleidete sich im Grunde immer noch wie in der Schulzeit: Jeans, Sneakers und Kapuzenpulli – es sei denn, es gab einen offiziellen Termin. Sein Leben bestand aus der Arbeit im Landratsamt, seinem alten Zuhause und Pia. Einzig der Roller – eine knallrote Vespa aus den 1970er-Jahren – war seine Art des Ausbruchs aus dieser Langeweile.
»Am Wochenende ist doch das Gemeindefest bei euch im Dorf, oder?«, fragte ihn sein Kollege Alex über die Computerbildschirme hinweg.
Tom erwischte sich dabei, dass er gedankenverloren auf ein kleines Glücksschwein neben seinem Computer starrte. Wie lange tat er das schon? Eine Minute, zehn? Eine halbe Stunde?
»Willst du da etwa hingehen?«, fragte er zurück und sah auf seine Uhr. Die Zeit verrann heute wieder wie zähflüssiges Blei.
»Ist doch mal was anderes«, meinte Alex und grinste ihn an. »Sonst ist ja nichts los hier.«
»Ich war seit drei Jahren nicht mehr auf dem Gemeindefest.«
Tom war diese Veranstaltungen umgangen, weil er mit dem kollektiven Besäufnis aller Altersgruppen nichts anzufangen
wusste. Aber vielleicht sollte er sich das mal wieder ansehen? Was konnte er schon verlieren?
»Dann lass uns doch morgen Abend treffen«, schlug Alex vor. »Ein bisschen Spaß haben. Leute sehen. Was meinst du?«
»O.k. Um acht am Brunnen?«
Alex war der Einzige, mit dem Tom im Büro so etwas wie einen persönlichen Kontakt hatte. Die meisten anderen rockten ihren Job ab, fuhren dann zu ihren Familien in die Neubausiedlungen der umliegenden Dörfer, zeugten Kinder, pflanzten blickdichte Hecken und warteten auf ihre Rente. Wenn Tom daran dachte, dass ihm genau das auch bevorstand, war er kurz vorm Wahnsinnigwerden.
»Tom!«, brüllte passenderweise der Chef aus seinem Zimmer quer über den Flur.
Tom stöhnte genervt. Er drückte sich von seinem Drehstuhl hoch. Was hatte er diesmal falsch gemacht? Er marschierte über den Flur auf die Tür des Chefs zu und spürte die verächtlichen Blicke aus den Büros seiner Kolleginnen und Kollegen.
»Hast du diese Akte angelegt?«, blaffte ihn der Chef an und hielt ihm einen Ordner unter die Nase.
»Was ist denn damit?«
»Du weißt genau, dass Neuanträge in grüne Ordner sortiert werden, nicht in schwarze!«
»Grüne waren nicht mehr da.«
»Dann musst du den Vorgang zurückstellen!«
»Der Antrag hat höchste Priorität …«
»Das spielt keine Rolle. Neunanträge grün!«
Der Chef knallte den Ordner auf den Tisch und wandte sich seinem Computer zu. Tom sah ihn fassungslos an. Wer nichts mehr von seinem Leben erwartete, diskutierte über Ordnerfarben.
»Ist noch was?«, fauchte der Chef, ohne den Blick von seinem Bildschirm abzuwenden.
»Ich habe mich auf ein Studium beworben«, sagte Tom. Das hier schien ein guter Moment, die Katze aus dem Sack zu lassen.
»Und?«
»Ich bin vermutlich in einem Monat weg.«
»Das musst du mit der Personalabteilung klären, nicht mit mir.«
»Ich wollte … ach, vergessen Sie’s.«
Der Chef sah Tom kurz an. »War’s das?«
Tom nickte, schnappte sich den Ordner, drehte sich um seine Achse und verließ den Raum. Die Kollegen auf dem Flur hatten natürlich jedes Wort mitbekommen und einige grinsten Tom auf seinem Rückweg hämisch nach.
»Der hat heute wieder eine beschissene Laune«, stellte Alex treffend fest, als Tom auf seinen Stuhl plumpste. »Gut, dass du weggehst.«
»Darüber scheinen sich ja alle zu freuen.«
Alex reckte den Kopf an seinem Bildschirm vorbei. »Ich finde es schade«, sagte er. »Und wer weiß, wen der Idiot mir demnächst gegenübersetzt. Der Ausblick kann auf keinen Fall besser werden.« Alex zwinkerte ihm zu und wandte sich wieder seiner Arbeit zu.
Tom war aus seinem Kollegen nie ganz schlau geworden. Sie saßen sich jetzt seit einem Jahr gegenüber und immer wieder hatte Alex mehrdeutige Anspielungen gemacht. Tom war sich mittlerweile sicher, dass Alex eigentlich auf Männer stand, auch wenn er seit fünfzehn Jahren verheiratet war und zwei Kinder hatte. Aber was bedeutete das schon? Jeder, der in der Provinz nicht mit Mitte zwanzig verheiratet war, ein Haus baute und Kinder in die Welt setzte, machte sich verdächtig. Also tat man das eben. Tom hörte seine Uhr ticken.