Zweites Kapitel
Die knallrote Vespa knatterte unter Toms Hintern und der Fahrtwind kühlte seine Haut angenehm. Die letzten warmen Tage vor dem Herbst brachten noch mal das leichte Gefühl des vergangenen Sommers zurück. Vielleicht sollte er an den Baggersee fahren und sich eine Stunde auf die Wiese legen. Wer weiß, wie oft er das noch tun konnte, bevor er diese elende Gegend verließ und wegzog.
Seine Entscheidung zur Veränderung war auf der Betriebsfeier vor zwei Monaten gefallen, die ihm wieder einmal einen tiefen Einblick in die Abgründe seiner Heimat geboten und das Fass der Abneigung gegen die Provinz zum Überlaufen gebracht hatte. Innerhalb kürzester Zeit waren alle rotzbesoffen gewesen, der Chef hatte die gerade erst volljährige Praktikantin unangenehm angegraben und von mindestens einem Kollegen und einer Kollegin wusste er, dass sie an dem Abend auf dem Klo gefickt hatten. Er hatte sie gehört, als er pinkeln war, und er hätte bei der Vorstellung, was die beiden da in der Kabine hinter ihm machten, beinahe ins Pissoir gekotzt.
An dem Abend hatte sich Tom so fehl am Platze gefühlt, dass er die alte Idee, Literatur und Filmwissenschaften zu studieren, wieder aufgegriffen hatte. Was er damit später machen wollte, wusste er noch nicht, aber alles war besser als diese Provinz-Scheiße. Er hatte sich am nächsten Tag sofort über die Studiengänge informiert und eine Woche später die Unterlagen abgeschickt. Seitdem wartete er auf die Zusage der Universität.
Endlich dieser kleinbürgerlichen Welt entfliehen und ein eigenständiges Leben anfangen – mehr wollte er nicht. Mit zwanzig war es an der Zeit. Er wollte auch nicht länger mit seinen Eltern unter einem Dach leben. Jeden Schritt seines Lebens bekamen die beiden mit und Tom hätte noch nicht einmal jemanden abschleppen können, ohne dass sie das
kommentiert hätten. Nicht dass Tom jemals in die Verlegenheit gekommen war, jemanden abzuschleppen. Außer Pia vielleicht. Er hatte keine Ahnung, woran das lag, wenngleich er ahnte, dass das mit seiner verschlossenen Art zu tun haben könnte. Wer still ist, wird nicht wahrgenommen. Das würde sich bald ändern. Wenn er erst einmal in die Großstadt zog, eine eigene Wohnung hatte und allein über sein Leben bestimmen konnte.
Ein Mercedes überholte Tom in hohem Tempo, obwohl ihnen ein Transporter auf der Landstraße entgegenkam. Tom fuhr mit seinem Roller schon fast auf der durchgezogenen Linie am rechten Straßenrand, doch der SUV drängte ihn immer weiter zur Seite. Tom hupte, aber der Fahrer des Mercedes schien ihn überhaupt nicht wahrzunehmen und schob Tom auf der Vespa neben sich beinahe in den Graben. Tom legte im letzten Moment eine Vollbremsung hin und der Roller kam mit quietschenden Reifen zum Stehen.
Tom spürte sein Herz rasen. Laut brüllte er dem Mercedes hinterher. Er nahm den Helm ab und atmete tief durch. Seine Hände zitterten. Er brauchte eine Weile, bis er sich so weit beruhigt hatte, dass er weiterfahren konnte.
Vor dem Haus seiner Eltern stellte er den Roller in den Unterstand, den sein Vater eigens für die Vespa gebaut hatte. Das war noch so eine Sache, die Tom hier gewaltig auf die Nerven ging: Alles musste akkurat geordnet sein. Und blöderweise erwischte sich Tom immer wieder dabei, dass er genauso wurde. Er plante alles voraus, und wenn etwas unsicher war, dann ließ er lieber die Finger davon. Aber so ging das nicht weiter. Er musste verhindern, dass er zu einem Spießer wurde. Hoffentlich kam bald eine Zusage von der Uni. Das wäre sein Ticket raus aus der Provinz.
»He, Tom, warte mal!«, rief Pia von der Straße hinter ihm her, als er gerade die Haustür aufschließen wollte.
Sie kam die Einfahrt herauf und lächelte.
»Was machst du denn heute Abend? Sollen wir einen Film gucken?«
»Meine Eltern sind zu Hause. Das wird bei mir also schwierig. Aber ich kann bei dir vorbeikommen.«
Nicht nur, dass das Haus extrem hellhörig war, er wollte seine Eltern auch nicht mit zu häufigen Pia-Besuchen überfordern. Die kamen sonst auf falsche Gedanken.
Pia lachte. »Irgendwann musst du mal erwachsen werden.« Sie hakte sich bei ihm ein und zog ihn ein Stück vom Haus weg. »Pass auf: Ich hab einen guten Wein im Kühlschrank und suche einfach zwei Filme aus. Komm doch nach dem Essen rüber und wir machen’s uns gemütlich. Okay?«
Das würde ihn zumindest davon abhalten, zu viel über sein Leben nachzudenken. Nachdenken und grübeln – das machte er sowieso viel zu oft. Außerdem tat es immer gut, mit Pia abzuhängen. Sie war so fröhlich und unerschütterlich, da blieb kein Platz für schlechte Gedanken.
»Okay«, sagte er. »Das klingt toll. Bis später.«
Mit Pia war er seit der fünften Klasse gemeinsam zur Schule gegangen, wenn auch in unterschiedliche Klassen. Aber in einem Dreitausend-Seelen-Dorf wie diesem, dicht an der französischen Grenze und ohne eine größere Stadt in der Nähe, kannte natürlich jeder jeden und lief den Nachbarn zwangsläufig über den Weg. Vor einem Jahr hatte er eine lockere Beziehung mit Pia angefangen. Nein, eigentlich keine Beziehung im engeren Sinne, sondern eher ein Techtelmechtel, Freundschaft plus, irgendwie so was. Sie hatten explizit vereinbart, kein Paar zu sein, dem anderen nicht reinzureden, keine Verpflichtungen oder Erwartungen zu haben. Aber Tom war sich seit Kurzem nicht mehr sicher, ob Pia das immer noch so sah. Sie wollte mehr, das spürte er mit jedem Treffen deutlicher. Sein schlechtes Gewissen ihr gegenüber wuchs von Tag zu Tag. Er sollte bald mit ihr reden. Am besten gleich
heute Abend. Ein erster kleiner Abschied vor dem großen, der ihm nicht leichtfiel. Denn Pia würde hier im Dorf ziemlich schnell eingehen, wenn er nicht mehr da war. Genauso wie er wahnsinnig werden würde, wenn nicht wenigsten Pia in der Nachbarschaft leben und für Abwechslung sorgen würde. Sie hatten sich ganz schön aneinandergeklammert. Aber jetzt wollte er die Klammer lösen. Wie sollte er ihr das nur beibringen?