Drittes Kapitel
»Ich bin zu Hause!«, rief er in den Flur, bevor er seinen Schlüssel ordentlich ans Schlüsselbrett hängte, die Schuhe penibel ins Regal stellte und die Treppe zu seinem Zimmer nach oben stieg.
»Das Essen ist in zehn Minuten fertig«, antwortete seine Mutter aus der Küche. »Dein Vater kommt auch gleich.«
Tom hörte das Klappern der Topfdeckel und der Geruch von brutzelnden Schnitzeln folgte ihm von unten, als er sein Schlafzimmer betrat. An den Wänden hingen immer noch Plakate von den Bands, die er schon als Fünfzehnjähriger zusammen mit Joschi gehört hatte. In den letzten zwei Jahren hatte er sich allerdings kaum noch für Musik interessiert. Pia und ein paar seiner ehemaligen Schulkameraden standen auf Helene Fischer, aber davon hielt er sich lieber fern. Und alleine in seinem Zimmer die Anlage aufzudrehen machte ihn immer melancholisch.
»Bring doch bitte deine dreckigen Unterhosen mit runter! Ich will gleich noch Sechzig-Grad-Wäsche waschen«, rief Toms Mutter von unten.
Tom ließ sich auf sein Bett fallen. So ging das nicht weiter. Er war erwachsen und seine Mutter wusch seine Unterhosen. Sie kochte jeden Tag das Abendessen und räumte sein Zimmer auf, obwohl er ihr schon oft gesagt hatte, dass er das nicht wollte. Sein Vater kümmerte sich um Toms Altersvorsorge, schleppte ihn zu den Kegelabenden seiner Freunde mit und drängte ihn, eines der Grundstücke am Dorfrand zu kaufen, um sich ein eigenes Haus zu bauen. Verdammt! Er war doch erst zwanzig! Zur Krönung lag das Schlafzimmer seiner Eltern direkt neben seinem und durch die Wand war jedes Geräusch zu hören. Wirklich jedes!
»Ich verstehe dich nicht«, sagte sein Vater beim Abendessen. »Du hast doch einen guten Job. Was willst du mit einem Studium? Wenn du wenigstens Wirtschaft studieren wolltest, könnte ich das ja noch nachvollziehen. Aber Literatur? Film? Was willst du damit?«
Tom stöhnte innerlich auf. Diese Diskussion führten sie nun ständig, seit er sich an der Uni beworben hatte. Er hatte seinen Eltern immer wieder erklärt, warum er neu anfangen wollte. Aber die Vorstellungskraft seines Vaters reichte gerade mal bis zum Bildschirm des riesigen Flachbildfernsehers, der das Wohnzimmer dominierte und aus dem er alle nötigen Informationen über die Welt bezog. Wie sollte Tom da erwarten, dass er ihn verstand?
»Ich gehe in dem Amt ein«, sagte Tom zum gefühlt tausendsten Mal. »Ich will einfach noch was anderes machen, als für den Rest meines Lebens Akten sortieren und in diesem Kaff versauern.«
»Wir sind auch nie aus dem Dorf rausgekommen«, sagte sein Vater. »Und guck dir an, was wir aufgebaut haben: Wir haben ein eigenes Haus, die Schulden sind abbezahlt, wir können einmal im Jahr in den Urlaub fahren, und wenn ich in Rente gehe, kann ich mich den ganzen Tag in den Garten legen.«
Genau davor hatte Tom einen unsäglichen Horror. Stoisch stopfte sein Vater Schnitzel, Kartoffeln aus dem eigenen Garten und Butterbohnen in sich hinein. Sein Gesicht war vom täglichen Alkohol leicht gerötet und der Bauch unter dem gebügelten Hemd drückte beinahe die Knöpfe aus ihren Löchern.
»Deine Ziele sind nicht meine«, antwortete Tom. »Ich will weiterkommen, vielleicht in einem Verlag arbeiten, etwas Kreatives schaffen.«
»Und du glaubst, du hast dazu genug Grips?«
Toms Vater sah seinen Sohn nicht an, als er das sagte, und Tom fühlte den Schmerz, den diese Frage bei ihm auslöste. Sein Vater hatte ihn nie für besonders schlau gehalten. Dass Tom unbedingt das Abitur machen wollte, hatte er gerade noch akzeptiert. Das machten ja viele Kinder aus dem Dorf. Aber ein Studium? Völliger Unsinn.
»Nun lass ihn doch«, mischte sich Toms Mutter ein.
»Als wenn du eine Ahnung davon hättest«, grummelte Toms Vater. »Aber jammer hinterher nicht rum, dass dir das zu hoch ist, was sich die Herren Professoren in der Universität zusammenfaseln.«
Eine Stunde später saß er auf Pias Sofa und nippte an dem Weißwein. Das Wohnzimmer war so herkömmlich eingerichtet, als hätte sie es aus einem Katalog übernommen. Eine große Sofagarnitur über Eck, eine Schrankwand mit Nippes, bodenlange beige Gardinen, damit die Nachbarn nicht alles mitbekamen. Immerhin hatte Pia den Schritt aus dem Haus ihrer Eltern schon vor zwei Jahren vollzogen und lebte allein. Sie machte eine Ausbildung zur Erzieherin in der Kindertagesstätte des Dorfes und betreute die Kinder ihrer ehemaligen Mitschüler. Sie wirkte irgendwie glücklich in diesem Job und mit ihrem Leben. Was ihr noch fehlte, war der passende Mann an ihrer Seite, ein oder zwei eigene Kinder, das dazugehörige Haus. Sie hatte immer wieder darüber gesprochen, wie sie sich die Zukunft ausmalte. Sie entsprach genau dem, wovor Tom weglaufen wollte. Doch er befürchtete, dass Pia ihn seit ein paar Wochen dazu auserkoren hatte, einen Part in diesem Gefüge zu übernehmen. Entgegen ihren Absprachen.
»Titanic
oder Blade Runner
?«, fragte sie und schaltete den Streamingdienst ein. Pia stand auf diese alten Schinken.
Tom kannte deshalb beide Filme fast auswendig, aber ihm war es egal, was sie guckten. Ihn beschäftigte vielmehr die Frage,
wie er Pia schonend beibrachte, dass er den eingeschlagenen Weg nicht länger mit ihr gehen wollte. Sie kuschelte sich an ihn und zielte mit der Fernbedienung Richtung Bildschirm. Titanic.
Die romantische Variante also.
Jack brach in eine ihm unbekannte Welt auf, verliebte sich in Rose und ließ alles hinter sich, was bislang Bedeutung für ihn hatte. Er wollte nach Amerika, um Neues zu erleben. Während sich die Beziehung zwischen den beiden Hauptfiguren entwickelte, grübelte Tom, obwohl er gehofft hatte, genau dem zu entgehen, wenn er bei Pia saß. Jacks Aufbruch löste die Sehnsucht nach Neuem in Tom aus, die durch seine eigene Trägheit ausgebremst wurde. Und als das Passagierschiff sich dem Zusammenstoß mit dem Eisberg näherte, hatte er immer noch keine Lösung für sein Leben gefunden. Er wollte Pia nicht verletzen. Vermutlich war das sein Problem: Er wollte nie jemanden wehtun und nahm ständig Rücksicht auf die anderen. Aber er musste ihr endlich sagen, was er vorhatte.
Er beugte sich vor, griff nach der zweiten Flasche Wein, die schon auf dem Tisch stand, öffnete sie und goss sein Glas voll. Pia schmiegte sich noch enger an ihn und legte ihre Hand auf sein Knie. Der Wein stieg ihm allmählich in den Kopf und sein Widerstand schwächelte. Als Pias Hand an seinem Oberschenkel hochwanderte, spürte er, wie er hart wurde. Blitzartig schoss ihm die Situation von der Abifeier durch den Kopf und er zuckte leicht zusammen. Joschi und das, was seine Hand getan hatte. Wenn Pia mit ihren Freundinnen etwas leiser gewesen wäre, hätten sie ihn und seinen besten Freund beim Fummeln erwischt. Pia schien sich durch das kurze Zucken in Toms Körper bestätigt zu fühlen und massierte seinen Oberschenkel leicht. Ein schales Gefühl machte sich in ihm breit. Wie lange sollte das noch so weitergehen? Das hier war nicht richtig und doch kam er nicht weg davon.
»Du trinkst heute aber viel«, bemerkte Pia und kicherte. »Musst du dir Mut antrinken?«
»Pia, wir müssen irgendwann mal miteinander reden«, sagte Tom und sah sie an.
»Nicht heute. Ich hatte einen anstrengenden Tag. Und du weißt, ich lasse dir alle Freiheiten, die du brauchst.«
Sie erreichte seinen Schwanz und streichelte ihn sanft durch die Hose. Tom legte seine Hand auf ihre und wollte sie zur Seite schieben. Aber er brachte den Mut nicht auf. Es würde sie traurig machen. Also ließ er sie gewähren. Doch als Pia seine Hose öffnen wollte, hielt er sie zurück.
»Heute nicht«, murmelte er.
»Was hast du denn?«
»Ich bin einfach total müde. Das ist alles.«
Er war so ein Schisser! Wenn er etwas an seinem Leben ändern wollte, dann musste er auch was dafür tun. Von allein passierte das nicht. Er fand jedoch einfach nicht die Kraft, auszusprechen, was er wirklich dachte. Er stand auf, noch bevor Leonardo DiCaprio im eisigen Wasser des Nordatlantiks versank, und schlich nach Hause.