Viertes Kapitel
Als Tom am Samstagmittag die Treppe mit leicht verkatertem Kopf herunterstieg, sah er als Erstes den Brief von der Universität auf der Kommode liegen. Er blieb einen Moment am Ende der Treppe stehen, dann riss er den Umschlag auf. Die Zusage. Er konnte tatsächlich anfangen. Im Oktober ging das Semester los. Er jubelte.
»Was ist denn los?«, fragte seine Mutter und kam erstaunt in den Flur. »Ach ja, der Brief.«
»Ich bin angenommen!«, rief Tom und tanzte durch den Flur.
Während alle Ideen bisher bloß Hirngespinste waren, deren Umsetzung nicht sicher waren, durchströmte ihn jetzt zum ersten Mal seit Langem so etwas wie Hoffnung, dass er das Ruder seines Lebens doch noch herumreißen konnte.
Den ganzen Tag verbrachte Tom in einem ungewohnten Hochgefühl, das jeden Nerv seines Körpers in Schwingungen brachte, und als er sich abends mit Alex auf dem Gemeindefest traf, erzählte er ihm natürlich sofort von der Zusage.
»Dann lässt du mich also wirklich allein«, stellte Alex resigniert fest.
»Du kannst doch auch noch was anderes machen«, versuchte Tom, ihn aufzumuntern.
»Mit Mitte vierzig bin ich zu alt dafür.«
»So ein Quatsch!«
Alex lachte etwas zu laut und holte Bier. Tom ließ den Blick über die Menge schweifen. Auf dem kleinen Marktplatz zwischen Kirche und Edeka waren mehrere Fressbuden, ein Bierwagen der freiwilligen Feuerwehr und eine kleine Bühne aufgebaut. Der Ortskern war weiträumig abgesperrt worden, damit niemand besoffen durch die Menge fuhr, und Tom hatte den Eindruck, dass nicht nur alle Bewohner dieses Ortes, sondern auch die meisten Menschen aus den umliegenden Gemeinden am Brunnen im Zentrum des Dorfes versammelt waren. Die Sonne schien schräg vom Himmel, und sobald sie unterging, würde es deutlich kühler werden. Die Leute tranken deshalb schon jetzt gegen die Kälte an.
Tom kannte viele Menschen um sich herum vom Sehen. Die meisten Jugendlichen hatten bereits ordentlich getankt und einige der Jungs grölten lauthals herum. Tom fiel ein Junge aus dem Nachbarhaus ins Auge, der völlig besoffen gegen einen Laternenpfahl pinkelte. Seine Freunde standen neben ihm und lachten, als er dabei vor allem seine Schuhe und die Hose traf. Um seine Freunde zu ärgern, drehte der Junge sich um und pisste ihnen direkt vor die Füße, wobei er seinen Schwanz hin und her schwenkte. Alex folgte Toms Blick.
»Kräftiges Geschoss«, sagte er und drückte Tom einen Becher in die Hand. »Damit kann er eine ganze Heerschar von Nachkommen zeugen.«
Das Verhalten der Jungs stieß Tom ab, obwohl er sich mit sechzehn ähnlich aufgeführt hatte. Und ihm war klar, dass die Jugendlichen in der Stadt vermutlich nicht anders waren. Der Prollfaktor ist in dem Alter unabhängig vom Wohnort.
In diesem Moment entdeckte er Pia, die sich angeregt mit einem Mann unterhielt. Tom konnte erst nicht erkennen, mit wem sie sprach, weil er mit dem Rücken zu ihm stand, doch als der Mann sich zur Seite drehte, stockte ihm der Atem. Joschi. Er hatte ihn in den letzten Jahren zwar hin und wieder aus der Entfernung gesehen, hatte jedoch jedes Mal das Weite gesucht. Auch jetzt duckte er sich intuitiv, um einer Begegnung zu entgehen, aber da winkte Pia ihm bereits zu. Joschi wandte sich um und erkannte Tom. Diesen Moment hatte er vermeiden wollen.
Joschi sah noch genauso gut aus wie damals. Schlank, glattrasiert, strahlende Augen. Er war ganz in schwarz gekleidet, seine Hose schmiegte sich an seinen Hintern und versteckte auch auf der Vorderseite wenig. Eine ungewohnte Sehnsucht packte Tom und legte sich wie ein Stein in seinen Magen. Er wollte fliehen. Sofort.
Doch da zog Pia Joschi mit sich auf Tom und Alex zu. Tom sah Joschi an, dass ihm das unangenehm war, er sich aber nicht gegen Pia wehren konnte. Die gab Tom zur Begrüßung einen Kuss auf die Wange.
»Kennt ihr euch noch?«, fragte sie. »Ihr wart doch in der Schule so dick befreundet.«
Joschi begrüßte Tom zurückhaltend und sagte erst mal nichts. Der kannte das noch von früher – Joschi hatte nie besonders viel gesprochen, darin waren sie sich ähnlich. Doch heute war Tom das Schweigen schmerzhaft unangenehm. Er stellte die beiden seinem Kollegen vor und der musterte Joschi sofort eingehen. Sosehr Tom Alex mochte, die unverhohlene Art, wie er jüngere Männer mit seinen Blicken auszog, verwirrte ihn.
»Was machst du denn jetzt?«, fragte Joschi schließlich. »Schiebst du noch brav Akten von rechts nach links?« Er lachte. »Meine Mutter erzählt mir immer haarklein, was mein alter Kumpel tut und wie wohl er sich hier fühlt. Ich glaube, sie wünscht sich jeden Tag, dass ich irgendwann zurückkehre, heirate und sonntags mit ihr in die Kirche gehe.«
Joschis Lachen ging Tom durch Mark und Bein. Genau das hatte er in den letzten Jahren so vermisst. Sie hatten damals in der Schule extrem viel Scheiße gebaut und sich mindestens zehnmal am Tag fast totgelacht. Seit der Abschlussparty hatte Tom dieses Lachen tragischerweise verloren. Es war niemand mehr da, mit dem er so lachen konnte wie mit Joschi.
»Ich kündige Montag und werde ab Oktober in der Stadt studieren«, sagte Tom unvermittelt und vergaß dabei völlig, dass er Pia ja noch gar nicht in seine Pläne eingeweiht hatte.
Die starrte ihn völlig entgeistert an. »Was?«, stammelte sie. »Davon hast du mir gar nichts erzählt.«
Sofort war ihm klar, dass er einen Fehler gemacht hatte. Er hatte ihr nichts von seinen unbestimmten Absichten gesagt, weil er nicht gewusst hatte, ob das wirklich der richtige Weg für ihn war. Vielleicht aber auch, weil er der Konfrontation mit ihr einfach aus dem Weg gehen wollte. Wahrscheinlicher war der zweite Punkt. Und jetzt hatte er sie gleich doppelt verletzt, weil er Joschi einfach so davon erzählte, während er sie zu keinem Zeitpunkt in seine Ideen eingeweiht hatte. Dabei wäre das wirklich angemessen gewesen.
»Hab einfach nicht dran gedacht«, nuschelte Tom verlegen. »Tut mir echt leid.«
»Und wann wolltest du mir sagen, dass du abhaust?«, fragte Pia. »Du kannst doch nicht einfach so entscheiden, allein wegzugehen! Ich bin doch auch noch da!«
»Seid ihr zusammen?«, erkundigte sich Joschi.
»Nein!«, entfuhr es Tom. Und dann etwas milder: »Wir sind gut befreundet.«
»Aber mit mir in die Kiste steigen kannst du! Alles andere ist dir egal«, fauchte Pia. »Du bist echt ein Vollidiot, weißt du das?«
Wütend drehte sie sich um und marschierte weg.
»Pia!«, rief Tom und lief ihr hinterher. Er hielt sie an der Jacke fest, aber Pia schüttelte ihn ab. Unschlüssig blickte Tom ihr nach. Er würde morgen noch einmal in Ruhe mit ihr sprechen, wenn sich ihre Wut etwas gelegt hatte. Das wäre bestimmt sowieso das Beste. Außerdem wollte er weiter mit Joschi reden.
Also marschierte er wieder zu Alex und Joschi zurück. Er ärgerte sich über seine eigene Unfähigkeit. Und über Pia, die viel zu viel von ihm erwartete. »Scheiße!«, fluchte er leise.
»Beziehungsstress?«, fragte Joschi.
»So was in der Art.«
Alex hielt seinen leeren Bierbecher hoch. »Ich hole uns mal Nachschub«, sagte er und schlenderte zum Bierwagen.
»Hast du die Schnauze voll von der Provinz?«, fragte Joschi. »Komm in die Großstadt, da ist alles anders.«
Tom fühlte Hitze in seinem Gesicht aufwallen. Joschi schien sich tatsächlich zu freuen, ihn zu sehen. Und er lebte in der gleichen Stadt, in die auch Tom nun ziehen würde. Natürlich. Selbst wenn Tom gerne behaupten würde, er hätte das vergessen, wusste er doch genau, dass das eine Lüge wäre. Wie hätte er vergessen können, wohin Joschi nach der Schule gegangen war!
»Ich bin direkt nach dem Abi weggezogen und fühle mich sauwohl in der Stadt«, schwärmte Joschi ihm vor.
»Und was machst du dann hier?«
»Meine Eltern besuchen. Und mal wieder Landluft schnuppern.« Joschi betrachtete Tom einen Moment schweigend. »Ich habe versucht, dich zu erreichen, bevor ich weggezogen bin. Warum hast du dich nicht mehr bei mir gemeldet? Ich habe dich seit der Abschlussparty nicht mehr gesehen.«
Tom schoss die Röte vollends ins Gesicht. Er hatte sich ja auch melden wollen. Und dann wieder nicht. Er hatte einfach keine Ahnung, wie er sich Joschi gegenüber verhalten sollte – nach dem Vorfall im Fahrradkeller. Wie ging man mit einem Menschen um, mit dem man im besoffenen und bekifften Zustand so was wie Sex hatte? Auch wenn das damals eigentlich nicht wirklich Sex gewesen war.
Joschi legte Tom den Arm über die Schultern. »Ich freue mich total, dass du in meine Nähe ziehst.« Er strahlte ihn an. »Was willst du denn studieren?«
»Literatur und Filmwissenschaften.«
»Dann werden wir uns vermutlich oft über den Weg laufen. Ich studiere Geschichte. Das Institut ist im gleichen Gebäude wie das der Germanistik.«
Tom fühlte Joschis Haut in seinem Nacken, er roch seinen Duft, den er aus der Zeit kannte, in der sie jeden Tag zusammen waren. Offenbar benutzte er immer noch das gleiche Deo. Der Geruch kitzelte ihn betörend in der Nase. Und er spürte die Verbundenheit mit seinem ehemals besten Freund trotz der zwei Jahre Pause. Da, wo Joschi ihn im Nacken berührte, prickelte die Haut, und Tom wünschte sich, dass Joschi seinen Arm nie wieder wegziehen würde. Doch er wusste, dass das, was er sich insgeheim wünschte, nicht ging. Es war unmöglich.
»Entschuldige, dass ich mich nicht gemeldet habe«, sagte Tom. »Ich war damals etwas durcheinander.«
»Wegen der Sache im Fahrradkeller?«, fragte Joschi und zog jetzt leider doch den Arm zurück. Tom nickte. »Ging mir ähnlich. Ich habe mich da wohl etwas zu weit vorgewagt.« Er lächelte. »Aber seitdem ist viel passiert.« Er fischte eine Zigarette aus seiner Hosentasche, zündete sie an und nahm einen tiefen Zug. »Für mich war es genau richtig, aus diesem Kaff wegzuziehen. Ich hätte es hier echt nicht länger ausgehalten. In der Stadt habe ich mich dann ziemlich schnell geoutet. Das macht das Leben deutlich leichter.«
»Du bist schwul?«, fragte Tom erstaunt.
Bis gerade hatte er geglaubt, Joschi hätte ihn damals nur aus einer Laune heraus angemacht. Auf dieser Idee basierte seine Entscheidung, sich nicht bei Joschi zu melden. Er hatte geglaubt, dass Joschi ihn aus einer bekifften Anwandlung heraus angefasst hatte. Doch wenn Joschi auf Jungs stand, stellte sich die Situation im Fahrradkeller plötzlich in einem völlig anderen Licht dar.
»Erzähl mir nicht, dass du das nicht geahnt hast!«
Tom war immer noch sprachlos und musste sich überwinden, den Mund aufzumachen.
»Wie denn?«, fragte er leise. »Du hast nie was gesagt.«
»Ist auch nicht leicht aufm Dorf. Guck dich doch mal um!« Er wies auf die besoffenen Jugendlichen. »Kannst du dir vorstellen, dass die mit offenen Armen auf mich zukommen würden, wenn ich ihnen erzähle, dass ich auf Schwänze stehe?«
Alex kam mit drei Bechern Bier zurück.
»Du stehst auf Schwänze?«, fragte er.
»Du auch?«, fragte Joschi zurück.
»Ich bin glücklich verheiratet und habe zwei Kinder.« Alex lachte.
Joschi zog belustigt die Augenbrauen hoch. »Na und? Das eine hat ja nichts mit dem anderen zu tun. Zumindest in der Provinz, wo man so gerne Verstecken spielt.«
»Bist du in einer festen Beziehung?«, mischte sich Tom ungeduldig ein, auch um Alex aus der Verlegenheit zu retten. Und weil ihm plötzlich klar wurde, wie wenig er von Joschi wusste. Jetzt wollte er alles erfahren.
»Hat sich noch nicht ergeben. Aber jetzt kommst du ja in die Stadt. Dann machen wir die schwulen Klubs unsicher.«
»Du willst mich in schwule Klubs mitnehmen?«
»Warum denn nicht? Oder hast du Angst?«
Hatte er Angst? Ja, natürlich hatte er Angst. Oder zumindest war er verunsichert, was ihn an diesen Orten erwartete. Er hatte von K.-o.-Tropfen gelesen, die jungen Männern in die Getränke gekippt wurden, damit sie willenlos wurden. Tom kroch die Befangenheit in den Nacken. Ja, wenn er das richtig betrachtete, dann machte ihm das ein bisschen Angst. Gehörte er da überhaupt hin?
»Also, ich würde mir das mal angucken«, sagte Alex amüsiert.
»Das kann ich mir denken«, erwiderte Joschi und zwinkerte Alex zu.
Der lief rot an und verabschiedete sich mit knappen Worten, um sich etwas zu essen zu besorgen. Schweigend standen Tom und Joschi eine Weile nebeneinander. Tom wollte so viel von Joschi hören, über die Stadt, über die Uni, über sein Leben. Aber er wusste nicht richtig, womit er anfangen sollte.
»Was ist das mit dir und Pia?«, fragte Joschi nach einer Weile.
»Nichts Ernstes«, sagte Tom. »Wir kennen uns ja schon ewig. Sie wohnt nur ein paar Häuser entfernt. Und wir verbringen halt viel Zeit miteinander.«
»Habt ihr Sex?«
Tom stockte. Das war direkt. Kurz überlegte er, zu lügen, entschied sich dann aber dagegen.
»Manchmal«, sagte er also zögernd.
»Aber sie will mehr als du«, schlussfolgerte Joschi.
»Treffer.« Joschi schien ihn trotz der zwei Jahre, die sie sich nicht gesehen hatten, doch noch gut einschätzen zu können. »Eigentlich sollte das was ganz Zwangloses sein. Aber in letzter Zeit hat sich das geändert. Ich will ihr nicht wehtun, aber irgendwie funktioniert das mit uns so nicht mehr.«
Wieder lachte Joschi. »Du musst hier raus. Ich habe dir damals schon gesagt, dass ich deine Idee mit der Ausbildung für Bullshit halte. Du musst in eine andere Umgebung, in die Stadt. Da hast du ganz andere Möglichkeiten.«
»Was meinst du damit?«
»Ach, komm! Tu doch nicht so unschuldig! Du weißt genau, was ich meine.«
»Was denn?«
»Ist dir klar, warum du damals im Fahrradkeller so geschockt reagiert hast? Du hast dich erschreckt, weil ein Junge deinen Schwanz angefasst hast und du das so geil fandest, dass du in die Hose abgespritzt hast.«
Mist! Dann hatte Joschi das damals also doch bemerkt. Tom hatte gehofft, schnell genug aufgesprungen und damit der endgültigen Peinlichkeit entgangen zu sein. Er hatte natürlich nie nachfragen können, ob er mit seiner Vermutung richtig lag. Allerdings hätte er auch nicht gefragt, wenn er Joschi früher getroffen hätte. Ihm war die Episode immer noch peinlich, obwohl sie jetzt schon so lange zurücklag. Umso mehr irritierte es ihn, dass sie hier standen und so locker über alles redeten. Na ja, zumindest war Joschi dabei locker.
»Ich stehe aber nicht auf Schwänze«, sagte Tom schnell und war sich bewusst, dass das so nicht stimmte.
»Natürlich. Ich vergaß.« Joschi lachte erneut und schlug ihm freundschaftlich auf die Schulter.
Als Alex zurückkam, unterbrachen sie das Gespräch, plauderten über Belangloses und tauschten schließlich ihre Telefonnummern aus, damit sich Tom melden konnte, sobald er umgezogen war.
Tom war tatsächlich nie auf die Idee gekommen, dass Joschi schwul sein könnte. Er hatte zwei Jahre lang geglaubt, der sei ihm damals an den Schwanz gegangen, weil er besoffen, bekifft und geil war. Und weil Tom in dem Moment eben da war. So einfach hatte er sich seine Welt zusammengereimt, die jetzt ganz allmählich unterging. Die Titanic hatte den Eisberg gerammt und er suchte wie Jack verzweifelt nach einem Ausweg.